2008 hat Usain Bolt in bei den Olympischen Spielen in Peking seinen Thron bestiegen. Seither durfte darauf nur Landsmann Yohan Blake bei der WM 2011 fehlstartbedingt probesitzen.
Die stolze Sprinter-Nation USA läuft seitdem nur hinterher. Vor acht Jahren konnte Tyson Gay bei der WM in Osaka den bislang letzten Erfolg über die 100 Meter bei einem Großereignis einfahren. Das ist für Sprinter eine kleine Ewigkeit. Oder anders ausgedrückt: Die Zeitspanne seither beträgt gefühlte 25 Millionen 100-m-Rennen.
Dass der größte US-Herausforderer der jamaikanischen Dominatoren Justin Gatlin heißt und mittlerweile schon 33 Jahre alt ist, erheitert die Gemüter in den Staaten freilich nicht.
Schneller als die ganz Großen
Doch in der vergangenen Saison ist ein Silberstreif am Horizont aufgetaucht. In rasender Geschwindigkeit. Trayvon Bromell heißt jener Junge, der die Herzen der US-Leichtathletik im Vollsprint erobert hat.
Wenn der 19-Jährige über die Bahn trommelt, ist nicht nur Experten klar, dass hier ein potenzieller Superstar seine Schritte macht. „Sky’s the limit“, sagt Gatlin, wenn er auf den Youngster angesprochen wird.
Kein Wunder, sind die Zeiten, die der Teenager aus Florida bisher abgeliefert hat, doch mehr als nur vielversprechend. 9,97 Sekunden lief er 2014 in Eugene. Kein anderer U20-Athlet konnte vor ihm die magische 10-Sekunden-Marke unter regulären Bedingungen knacken. Jesse Owens, Carl Lewis, Maurice Greene, Usain Bolt – sie alle waren in diesem Alter langsamer.
Der Bruchpilot
Umso erstaunlicher ist diese Leistung angesichts der Biographie Bromells. „Ich war drei Jahre lang praktisch außer Gefecht“, berichtet er von der Zeit in der Highschool. Bruch der linken Kniescheibe beim Versuch, einen Rückwärtssalto zu machen, Bruch der rechten Kniescheibe und des Unterarms beim Basketball, schwere Hüftverletzung beim Sprinten – der Schuhfetischist hatte den Ruf des Bruchpilots inne.
„Das hat mich nur noch mehr motiviert. Und in meinem letzten Highschool-Jahr bin ich dann richtig durchgestartet“, sagt er. Das fiel auch diversen Colleges auf. Letztendlich entschied sich der Sohn einer früheren Highschool-Sprinterin und eines in Kanada engagierten Footballers für Baylor in Texas.
Unter der Obhut einer Legende
Dort machte er unter der Obhut von Clyde Hart die nächsten Entwicklungsschritte. Hart ist in der Szene eine Legende, coacht schon seit über 50 Jahren die Sprint-Talente in Baylor und hat mit Michael Johnson (vierfacher Olympiasieger und achtfacher Weltmeister) sowie Jeremy Wariner (dreifacher Olympiasieger und fünffacher Weltmeister) zwei absolute Ausnahmekönner in einer entscheidenden Phase der Karriere begleitet.
„Ich stecke einen Jungen ungern in eine Schublade und sage: Wir erwarten uns von ihm dies oder das. Ich denke einfach, dass Bromell noch besser wird. Die meisten Sprinter haben mit 24, 25 Jahren ihre beste Zeit. Aber er ist noch viel jünger, er ist nur ein schnelles Kind“, sagt Hart über seinen Schützling.
Auch Ato Boldon, mehrfacher Olympia- und WM-Medaillengewinner, hält den Ball flach: „Ich bin immer sehr vorsichtig bei Sprint-Wunderkindern. Viele von ihnen schaffen den Durchbruch nicht.“
Unglaubliche 9,77 Sekunden
Dass Bromell aber das Potenzial hat, noch um einiges schneller zu werden, darin sind sich alle einig. Vor allem seine zur Seite ausfallenden Schritte beim Start und sein wiederkehrendes Unvermögen, sein hohes Tempo durchzuziehen, lassen noch viel Spielraum zu.
Ein weiterer Beweis waren die 9,77 Sekunden, die er im Mai 2014 zum Besten gab – allerdings bei zu starkem Rückenwind. Doch auch mit zu starkem Rückenwind wurden die 100 Meter in der Geschichte nur acht Mal schneller bewältigt.
In der laufenden, noch jungen Saison hält der US-Amerikaner, der auch über die 200 Meter beachtliche Fortschritte zeigt (20,19 Sekunden in der Halle im März 2015) mit 10,02 Sekunden die 100-m-Weltjahresbestleistung.
Ende Juni werden in Eugene die US-Starter für die WM in Peking (22.-30. August 2015) ermittelt. Bromells Chancen, sich zu qualifizieren, stehen nicht schlecht. Doch der von Bolt besetzte Thron ist noch in weiter Ferne. Wenngleich der lediglich 1,75 Meter große Mann mit dem Stirnband in beachtlicher Geschwindigkeit heranstürmt.
Harald Prantl