Marcel Koller hat hoch gepokert und alles verloren.
Der Teamchef überraschte gegen Island mit einem neuen System. Nachdem dieses nicht funktionierte, stellte er zu Halbzeit auf das etatmäßige 4-2-3-1 um.
Es folgte Österreichs beste Spielhälfte bei dieser Europameisterschaft. Trotzdem reichte es nicht mehr zum Sieg.
Koller muss sich nach der 1:2-Niederlage nun Vorwürfe gefallen lassen, dass er das Spiel mit seinem Experiment vercoacht hat. Dabei hätte die neue Dreierketten-Formation durchaus funktionieren können.
Kollers Idee machte Sinn
Gegen das defensive 4-4-2 der Isländer bot sich das 3-4-3-System des Schweizers aus mehreren Gründen an. Im Optimalfall hätte Österreich durch die Überzahl im Zentrum mit den drei Innenverteidigern und den beiden Sechsern das Spiel kontrolliert.
Nach vorne hin hätten die Flügelspieler für Breite und die beiden Halbstürmer Marko Arnautovic und Marcel Sabitzer in den Schnittstellen der Abwehr für Gefahr sorgen sollen. Auch defensiv machten Kollers Überlegungen Sinn, nicht nur, weil drei Innenverteidiger gegen zwei Stürmer von Haus aus im Vorteil sind.
Gegen die vielen langen Bälle der Isländer hatte Koller durch Stefan Ilsanker sowie den drei Abwehrspielern gleich vier Kopfballspezialisten als Gegenwaffe am Platz – umso bitterer ist das Gegentor zum 0:1. „Wenn ich darüber nachdenke, verstehe ich Marcel Koller. Wir haben kopfballstarke Spieler. Es war logisch, dass er so reagiert hat“, sagte Island-Coach Lars Lagerbäck nach der Partie.
Österreicher stehen sich gegenseitig im Weg
Rein theoretisch erscheint Kollers Ansatz also durchaus nachvollziehbar, praktisch gingen seine Ideen aber überhaupt nicht auf. Die Mannschaft war mit dem neuen System nämlich einfach überfordert.
Bestes Beispiel dafür waren die drei Innenverteidiger, die ihre Rolle im Spielaufbau wie in einer klassischen Vierkette interpretierten. Anstatt weit aufzufächern, standen sie zu eng aneinander.
Dadurch mussten auch Christian Fuchs und Florian Klein etwas tiefer stehen, um überhaupt Pässe empfangen zu können. Überhaupt waren die beiden Außenspieler an ihren Seiten völlig isoliert, da sie weder von den Innenverteidigern noch von den Sechsern oder ihren Vorderleuten Unterstützung erhielten.
Stefan Ilsanker und Julian Baumgartlinger positionierten sich bei eigenem Ballbesitz viel zu tief. Anstatt sich zwischen Verteidigungs- und Mittelfeldlinie der Isländer anzubieten oder in diesen Raum hineinzudribbeln, befanden sich die beiden Sechser zumeist vor den beiden Viererketten der Isländer. So standen sich dort fünf Österreicher – defensives Mittelfeld und Abwehr – gegenseitig im Weg.
Die Offensiv-Spieler hingen in der Luft
Marcel Sabitzer, David Alaba und Marko Arnautovic bekamen auf diese Weise zu wenig Unterstützung von ihren Hintermännern. Dazu positionierten sich auch die drei Offensiv-Spieler zu eng aneinander. Über die Flügel kamen so keine Spielzüge zustande.
VIDEO: Harte Kritik am neuen EURO-Modus
Vielleicht hätte das System mit einem Zielspieler wie Marc Janko im Angriff besser funktioniert. Alaba als Sechser wäre für das Offensivspieler wohl auch positiver gewesen als der etwas passive Ilsanker.
So aber scheiterte Kollers Experiment an der falschen Personalwahl und der schlechten Raumaufteilung. Dies machte sich auch im Spiel gegen den Ball bemerkbar, als aus Österreichs 3-4-3-System ein 5-4-1 mit Alaba als vorderstem Pressing-Spieler wurde. Auch defensiv funktionierte die Abstimmung zwischen den einzelnen Teilen der Formation nicht. Oft schien unklar, wer wann wen attackiert.
Koller zeigte Mut, wurde dafür aber nicht belohnt
Im Nachhinein gesehen ging Koller also zu viel Risiko ein, indem er im entscheidenden EM-Spiel eine Formation auspackte, die davor außerhalb des Trainings nicht getestet wurde. „Ich glaube nicht, dass es am System gelegen hat, sondern an der Hektik und der Nervosität“, verteidigte sich der Teamchef.
Immerhin muss ihm zu Gute gehalten werden, dass er mit dem mutigen Experiment versuchte, seiner Mannschaft Stabilität zu verleihen. Denn Österreichs Standard-System funktionierte bei dieser EURO erst, als es (fast) zu spät war.
Nach Kollers Umstellung auf das 4-2-3-1 zeigte die ÖFB-Elf in der zweiten Hälfte endlich ihr wahres Gesicht, das die Fans aus der Qualifikation kannten. Alessandro Schöpf brachte als Zehner viel Bewegung ins Spiel. Dazu fühlte sich auch Alaba in seiner Rolle als Sechser sichtlich wohler als davor.
Schlechtes Flankenspiel am Spielende
Der Bayern-Star trieb das Spiel über den linken Halbraum nach vorne, gemeinsam mit Fuchs, Arnautovic und Schöpf wurde er zum Aktivposten. Auch der Ausgleich kam über diese Seite zustande.
Die Raumaufteilung zwischen den Mannschaftsteilen funktionierte nun viel besser als im ungewohnten 3-4-3. Einziger Wermutstropfen war, dass am Spielende die letzte Konsequenz für lange Bälle fehlte.
Zwar drängten viele Österreicher in den gegnerischen Strafraum, doch die Hereingaben kamen entweder gar nicht oder ohne Schärfe, sodass sie nicht gefährlich wurden.
Der Konter, den sich Österreich zum 1:2 einfing, war schließlich das symptomatische Ende einer total verpatzten Europameisterschaft.
Jakob Faber