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Die bemerkenswerte Story des Alex S.

Die bemerkenswerte Story des Alex S.

Auf Hochglanz poliert thronen fünf Vince-Lombardi-Trophys unübersehbar über weiteren Errungenschaften und Abbildungen aus einer der erfolgreichsten Dynastien der NFL-Geschichte.

Spätestens wenn ein Rookie erstmals das Headquarter der San Francisco 49ers in Santa Clara betritt, wird ihm schlagartig klar, wo er gelandet ist.

San Francisco ist nicht Jacksonville, San Francisco ist nicht Carolina. San Francisco ist eine der erfolgreichsten Franchises der Super-Bowl-Ära.

Ein Erfolg, der verwöhnte. Ein Erfolg, der verpflichtet. Ein Erfolg, der die nachfolgenden Generationen unter gewaltigen Druck setzte.

Was mag also Alex Smith durch den Kopf gegangen sein, als er erstmals diese „heiligen Hallen“ betrat? Welche Last muss er damals, im April 2005, noch 20-jährig auf seinen Schultern verspürt haben?

Smith war nicht irgendein Rookie. Er war der Nummer-1-Pick des Drafts. Er sollte das neue Gesicht des Teams werden. Der Garant einer rosigeren Zukunft. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Zudem spielt er nicht irgendeine Position, sondern die wichtigste.

Gerade als Quarterback wird man in San Francisco an niemand Geringerem gemessen als an Legenden wie Joe Montana oder Steve Young, die Masterminds der fünf Super-Bowl-Triumphe zwischen 1982 und 1995.

Eine Ausgangsposition, die sich zwangsläufig zu einem Drama entwickeln musste. Denn von Ruhm und Glanz war bei den 49ers nichts mehr über. Längst war man in die tiefsten sportlichen Niederungen der NFL abgerutscht. Ein Umstand, an dem auch Smith jahrelang nichts ändern konnte, weshalb er mit der Zeit zum Buhmann einer ganzen Stadt mutierte. Übertrieben gesagt, war in der Bay Area phasenweise jede trockene Semmel beliebter als er.

Zeitensprung. 14. Jänner 2012, Divisional-Playoffs-Duell mit New Orleans, noch 14 Sekunden zu spielen, San Francisco liegt in einem nervenaufreibenden Thriller mit 29:32 zurück, Smith setzt zum Wurf an, ein Raunen geht begleitet von stillen Stoßgebeten durch den restlos ausverkauften Candlestick Park.

Sekunden später erlebt die altehrwürdige Arena eine Explosion der Emotionen, Freudentaumel und Freudentränen wechseln sich am Feld und auf den Rängen derart gekonnt ab, wie dies nur in ganz besonderen Momenten üblich ist. Smith‘ Pass fand Vernon Davis in der Endzone zum 36:32. Eine Heldentat, die als „The Catch III“ in die 49ers-Historie eingehen sollte und die Smith eine ungeahnte Welle der Sympathie zukommen ließ.

From Zero to Hero quasi. Irgendwann ist irgendetwas gewaltig schief gelaufen in der Ehe zwischen Smith und San Francisco, ehe quasi auf der letzten verfügbaren gemeinsamen Wegkreuzung doch noch der richtige Weg eingeschlagen wurde.

LAOLA1 versucht mit Hilfe von Momentaufnahmen die Story des Alex S., die nicht unbedingt zu den heldenhaften, aber sicherlich zu den bemerkenswerteren der jüngeren NFL-Vergangenheit gehört, nachzuzeichnen.

Als Nummer-1-Draftpick 2005 der große Hoffnungsträger

MOMENTAUFNAHME 1: KOPF AN KOPF MIT RODGERS

Im Prinzip schleppte Smith seit seinem ersten Tag als Niner ein Päckchen mit sich herum. Und das kam so: Nach einer desaströsen Saison hatten die Kalifornier 2005 das Recht, im Draft als erstes Team ein hoffnungsvolles College-Talent zu verpflichten.

Im Vorfeld des Drafts entwickelte sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Smith, einem schlauen Bürschchen von der University of Utah, und einem gewissen Aaron Rodgers. Letzterer hatte fraglos die emotionalen Argumente auf seiner Seite. Erstens wuchs er als 49ers-Fan auf, zweitens demonstrierte der Local Hero nur einen Steinwurf von San Francisco entfernt in Berkeley an der University of California sein Können.

Der Rest ist Geschichte:  San Francisco entschied sich auf Empfehlung des neuen Head Coaches Mike Nolan für den angepassteren Smith und gegen den vorlauten Rodgers. Dieser rutschte beim Draft bis zu den Green Bay Packers auf Rang 24. Aus dem vermeintlich schlimmsten Tag in seinem sportlichen Leben wurde im Nachhinein der größte Glücksfall.

Denn einerseits konnte er in Wisconsin in Ruhe hinter Brett Favre reifen und 2011 die Super Bowl erobern, andererseits ersparte er sich das Desaster in San Francisco. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass das 49ers-Chaos selbst ein Kaliber wie Rodgers in den sportlichen Abgrund gerissen hätte, ist ungleich höher, als dass der Spielmacher sein Lieblingsteam zu neuen Höhenflügen geführt hätte.

Alex Smith mit Tim Rattay

MOMENTAUFNAHME 2: ALLER ANFANG IST SCHWER

Salopp ausgedrückt: Smith ist ein Gscheiterl. Das ist vordergründig natürlich ein Segen, kann jedoch auch zum Fluch werden. Den für Rookies verpflichtenden Wonderlic Test, ein Intelligenz-/Persönlichkeitstest, schloss er mit dem sehr beachtlichen Wert von 40 ab.

Kleiner Exkurs zum besseren Verständnis: Beim Wonderlic Test gilt es binnen zwölf Minuten 50 Aufgabenstellungen zu lösen. Der Durchschnittswert von NFL-Quarterbacks liegt bei 24 richtigen Antworten. Extreme Ausreißer nach oben wie Buffalos Harvard-Absolvent Ryan Fitzpatrick, der sich nur neun Minuten Zeit nahm und dabei einen Wert von 48 ablieferte, sind enorm selten.

Einige Vergleichswerte: Eli Manning 39, Aaron Rodgers 35, Peyton Manning und Drew Brees je 28, Ben Roethlisberger 25, Brett Favre 22, Donovan McNabb 14.

Das Wirtschaftsstudium in Utah war für den cleveren Mr. Smith also nicht die allerhöchste Hürde. Ungewöhnlich früh, im Alter von 21, debütierte er in der NFL. Aller Anfang gestaltete sich schwer.

Während Rodgers bei Cal eine Pro-Style-Offense gewöhnt war, spielte Smith in Utah unter dem bekannten College-Coach und späteren Tim-Tebow-Förderer, Urban Meyer,  eine Spread Offense.

Neues Spielschema, lausige Mitspieler und nicht nur gescheit sondern mindestens ebenso sensibel – zu viel für einen jungen Grübler. Da half es wenig, dass er seine erste Saison nur als Backup des unterdurchschnittlich begabten Tim Rattay in Angriff nahm. Elf Interceptions und nur ein mickriger Touchdown in neun Spielen waren nicht gerade eine vertrauensbildende Maßnahme Richtung Fans.

Der jetzige Packers-Coach Mike McCarthy als erster Förderer

MOMENTAUFNAHME 3: DIE CHAOS-JAHRE

Mike McCarthy, Norv Turner, Jim Hostler, Mike Martz, Jimmy Raye, Mike Johnson, jetzt Greg Roman. Das größte Dilemma des Alex Smith ist schnell auf den Punkt gebracht. Sieben Jahre als Niner, sieben verschiedene Offensive Coordinator. Dazu lange Zeit mit Mike Nolan und mit Mike Singletary zwei Defense-Spezialisten als Head Coach.

„Der Bursche ist durch die Quarterback-Hölle gegangen. Verschiedene Koordinatoren sind wie verschiedene Sprachen. Das ist, wie wenn du erst Französisch, dann gleich Spanisch, dann gleich Japanisch und noch weitere Sprachen lernst, und dann verantwortlich gemacht wirst, obwohl du keine Unterstützung bekommst“, verspürt mit Young einer der legendären Vorgänger Mitleid.

Dass San Francisco zwar ein junges Quarterback-Talent verpflichtete, aber dieses erst nach und nach mit Waffen wie Vernon Davis oder Michael Crabtree ausstattete, ist die eine Seite der Medaille. Das größte Problem waren auch für Dallas-Legende Troy Aikman die ständig wechselnden Coaches.

Wer weiß, wie sich Smith entwickelt hätte, wären ihm McCarthy (der heutige Head Coach von Green Bay entwickelte schließlich ironischerweise Rodgers) oder Turner (heute Head Coach in San Diego) erhalten geblieben.

„Ich weiß aus eigener Erfahrung, was Norv für einen Quarterback bedeuten kann. Der wichtigste Punkt ist, einen Trainer zu haben, der dich in die richtige Position bringt. Unglücklicherweise für Alex war Norv nur eine Saison dort. Ich meine, Brett Favre hat 35 Jahre oder wie lange auch immer in der gleichen Offense gespielt. Das sagt doch alles“, analysiert Aikman.

Die folgenden Jahre sind schnell zusammengefasst: In diesem Ambiente entwickelte sich Smith keinen Deut weiter, lieferte weder die Leistungen noch die Statistiken eines Nummer-1-Picks ab. Dazu gesellten sich oft zum ungünstigsten Zeitpunkt Verletzungen. Vor allem die Schulter spielte des Öfteren nicht mit. Die Saison 2008 verpasste er sogar komplett.

Distanziertes Verhältnis zu Singletary

MOMENTAUFNAHME 4: SAG ZUM ABSCHIED GAR NICHT SERVUS

10. Oktober 2010: 24:27-Heimniederlage gegen Philadelphia, die fünfte Pleite im fünften Spiel einer Saison, die das inzwischen mit deutlich mehr Talent ausgestattete Team der 49ers als großer Favorit der NFC West in Angriff genommen hatte. Der Frust entlud sich auf genau einer Person: Alex Smith, der bei jedem Fehlwurf einen wahren Orkan an Buhrufen über sich ergehen lassen musste.

17. Oktober 2010: Battle of the Bay gegen Nachbar Oakland. „We want Carr! We want Carr!“ tönt es bei nahezu jeder schlechten Aktion lautstark durch den Candlestick-Park. David Carr, seines Zeichens ein früherer Nummer-1-Draftpick, dessen Kariere von ähnlich schwierigen Rahmenbedingungen in Houston zugrunde gerichtet wurde, war der Backup von Smith. Dass der Verschmähte die 49ers noch zu einem 17:9-Sieg führte, linderte den Frust der Anhängerschaft nur mehr unwesentlich.

Im sechsten und letzten Vertragsjahr war die Ehe zwischen Smith und San Francisco bereits derart zerrüttet, dass eine Scheidung die einzig logische Konsequenz zu sein schien. Die 49ers hatten vergleichsweise ohnehin schon große Geduld bewiesen. Es folgten noch eine weitere Schulterverletzung, ein von Singletary unwürdig inszeniertes Quarterback-Wechsel-Dich-Spielchen mit Troy Smith und unterm Strich die nächste Saison ohne Playoff-Qualifikation.

Scheidung? Abschied? Tapetenwechsel? Beiderseitiger Neuanfang? Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt.

Das Vertrauen von Jim Harbaugh flößte Smith' Karriere neues Leben ein

MOMENTAUFNAHME 5: DAS HARBAUGH-PHÄNOMEN

Nach der Trainer-Niete Singletary musste ein richtiger Coach her. San Francisco gelang es mit Jim Harbaugh die heißeste Aktie am Trainermarkt von der benachbarten Universität in Stanford loszueisen. Dieser verfügte praktischerweise über 15 Jahre Erfahrung als NFL-Quarterback und sollte der müden Offense neues Leben einhauchen.

Sämtliche Beobachter im Schatten der Golden Gate Bridge staunten nicht schlecht, als es im Prinzip eine der ersten Maßnahmen des vermeintlichen Wunderwuzzis war, diesen aus der Stadt gejagten Loser namens Smith zu einer Vertragsverlängerung zu überreden.

Der vermutliche Gedankengang: In einer vom Lockout erheblich verkürzten Sommervorbereitung schadet es nicht, einen Spielmacher zu haben, der mit der Umgebung vertraut war. Zudem reizte es wohl zu beweisen, das verlorene Talent mit dem richtigen Coaching doch noch zu retten.

Smith stimmte von solch einem Vertrauensvorschuss beeindruckt zu, gab es mit einem Jahressalär von fünf Millionen Dollar relativ billig und machte unbewusst einen Schritt in Richtung Erwachsenwerden. Denn als sich die Coaches während des andauernden Tarifstreits nicht um ihre Schützlinge kümmern durften, lag es an Smith, seinen Mitspielern das Playbook von Harbaugh zu vermitteln. „Camp Alex“, wie die von Smith im Alleingang organisierten und geleiteten Trainingslager hießen, erforderte ein ganz neues Verantwortungsbewusstsein.

Dass schließlich mit Harbaugh endlich ein Quarterback-affiner Kopf zugegen war, tat sein Übriges zur unverhofften Wiederbelebung von Smith‘ Karriere. Er schenkte ihm bis dato ungewohntes Vertrauen und entwickelte für dessen Bedürfnisse eine konservative Offense. Gestützt auf eine hammerharte Defense und ein gutes Laufspiel legte der Quarterback eine starke Saison hin.

Seinen Hauptjob als „Game Manager“, wenig Fehler zu begehen, erfüllte er mit lediglich fünf Interceptions und zwei Fumbles ausgezeichnet. Wenn es, wie zuletzt gegen New Orleans, darauf ankam, konnte San Francisco jedoch durchaus auch per Pass ein Spiel gewinnen. Nach neun langen Jahren des Wartens qualifizierten sich die 49ers erstmals wieder für die Playoffs.

Mit 27 noch ein junger Quarterback

DIE ZUKUNFT?

Wie diese nicht unbedingt heldenhafte, aber dafür bemerkenswerte Story des Alex S. endet, ist völlig offen. Trotz dieser soliden Spielzeit kann man keineswegs behaupten, dass Smith bereits endgültig und unwiderruflich fest im Sattel des Franchise-Quarterbacks sitzt – noch dazu, wo hinter ihm mit Colin Kaepernick ein Zweitrunden-Pick des letztjährigen Drafts in den Startlöchern scharrt.

Die Wahrscheinlichkeit, dass er bereits das anstehende NFC Championship Game gegen die Giants vergeigt, ist tendenziell genauso hoch wie eine abermalige Ausnahmeleistung. Bis das Vertrauen von San Franciscos Anhängern zurückgewonnen ist, bedarf es wohl noch zumindest einer starken Saison.

Auch wenn die Tinte unter einem neuen Vertrag noch nicht trocken ist, dürfte San Francisco seine Wahlheimat bleiben. Mit 27 ist Smith immer noch ein verhältnismäßig junger Quarterback.

Fest steht nur: Ein endgültiges Happy End gibt es in dieser Geschichte wohl nur, wenn er im 49ers-Headquarter in Santa Clara seine eigene Lombardi-Trophy abliefert.

Ob und wann auch immer dies gelingen mag.

Peter Altmann