Seit zehn Jahren wird praktiziert, was heute gemeinhin als "Red-Bull-Fußball" subsumiert wird.
Damit ist natürlich nicht die Gründung der beiden Kick-Filialen in Salzburg und Leipzig gemeint, die gibt es jeweils schon länger.
Vielmehr geht es um jenen Spielstil, den die Red-Bull-Mannschaften ab 2012 mit der Bestellung von Ralf Rangnick als Sportchef verfolgt haben.
"Das ist inzwischen ein Selbstläufer geworden", sagt der "Gründervater" im gemeinsamen Gespräch mit LAOLA1, "Standard" und "Presse".
Und auch zu einem Exportschlager, denn "Red-Bull-Fußball" wird in diversen Facetten bekanntlich nicht nur von den Red-Bull-Vereinen praktiziert. Das Know-how findet sich längst in diversen Klubs oder Nationalmannschaften - dank Teamchef Rangnick nun auch im ÖFB-Team.
Aber wie kam es eigentlich zu diesem Selbstläufer und wie hat sich der Stil im vergangenen Jahrzehnt weiterentwickelt?
Um dies zu verdeutlichen, muss Rangnick ein wenig ausholen und erst einmal den Zustand erläutern, in dem er die Red-Bull-Teams in Salzburg und Leipzig bei seinem Amtsantritt 2012 vorgefunden hatte.
Das Treffen mit Mateschitz
"Als ich dort angefangen habe, hatten die beiden Klubs außer dem RB-Kürzel im Namen nichts miteinander zu tun", erinnert sich Rangnick.
Selbst zwischen den Scouting-Abteilungen hätte es kaum Austausch gegeben.
Dass der Deutsche überhaupt im RB-Imperium anfing, ging auf ein Treffen mit Firmen-Gründer Dietrich Mateschitz zurück. Dieser wollte ihn als Trainer verpflichten, was für Rangnick damals jedoch nicht in Frage kam.
"Aber wir haben uns getroffen, und irgendwann fragt er: 'Warum läuft es bei uns im Fußball nicht so wie in der Formel 1 oder in anderen Sportarten? Was läuft da schief'? Ich habe gesagt: 'Wenn ich ehrlich bin, macht ihr im Moment gerade so ziemlich alles falsch, ich würde so gut wie alles ändern.'"
Gutes und sicheres Geld
Der Altersdurchschnitt an beiden Standorten sei eher bei 30 als bei 20 gelegen, die meisten Spieler hätten ihren vorletzten oder letzten Profivertrag unterschrieben.
"Wenn Ricardo Moniz damals einen Spieler hatte, der nicht so gespurt hat, war die größte Drohung, die er aussprechen konnte, dass er ihn ins Exil nach Leipzig in die ehemalige DDR schickt. Heute lachen wir darüber."
"Das kannst du den Spielern in keinster Weise vorwerfen. Denn sowohl Salzburg als auch Leipzig sind schöne Städte. Es gab gutes und vor allem sicheres Geld ohne Gefahr, dass die Gehälter irgendwann nicht mehr gezahlt werden können. Und wenn mal eine Saison nicht so gut lief, gingen in beiden Städten weder Medien noch Fans auf die Spieler los, sondern man hat es halt in der nächsten Saison noch mal probiert. Ich will nicht von Wohlfühloase sprechen, aber für die Spieler war es damals angenehm."
Rangnick erinnert sich, dass er Mateschitz gesagt habe, dass er "völlig anders vorgehen" und Spieler verpflichten würde, die ihren ersten oder zweiten Profivertrag unterschreiben.
Das Ziel von Beginn an: Sich so zu entwickeln, dass im Verein geförderte Spieler um zweistellige Millionen-Beträge verkauft werden können.
"Wenn du das zwei, drei Transferfenster so machst, hast du eine völlig andere Grundmotivation in beiden Klubs. Denn dann ist der Grund, warum die Spieler für den Verein spielen, ein ganz anderer, weil sie ihre Karriere im Klub entwickeln wollen. So ist es dann ja auch gekommen."
Als das "Exil" in Leipzig eine Strafe war
Wobei man an dieser Stelle daran erinnern sollte, dass Salzburg damals konzernintern die Nummer eins war, da Leipzig im Sommer 2012 noch in der viertklassigen Regionalliga festhing, wenngleich natürlich absehbar war, dass sich der Fokus mittelfristig ändern würde.
Rangnick erinnert an den letzten Salzburg-Trainer vor seiner Ankunft in der Mozartstadt:
"Wenn Ricardo Moniz damals einen Spieler hatte, der nicht so gespurt hat, war die größte Drohung, die er aussprechen konnte, dass er ihn ins Exil nach Leipzig in die ehemalige DDR schickt. Heute lachen wir darüber und wissen, dass es andersrum ist und die meisten Spieler wie Benjamin Sesko irgendwann den Schritt nach Leipzig oder zu einem anderen deutschen Bundesligisten wie Borussia Dortmund oder Wolfsburg machen wollen."
Im Rückspiegel war ein anfänglicher Bauchfleck wie jener gegen Düdelingen möglicherweise sogar ein Turbo, um die Pläne noch radikaler umsetzen zu können.
Die "Schande" gegen Rapid
Wobei dem 64-Jährigen eine andere Partie aus dem Sommer 2012 in den Sinn kommt, nach der sein Geduldsfaden riss: "Das eigentliche Spiel, nachdem ich gesagt habe, wir drehen direkt im ersten Transferfenster alles auf links, war gar nicht Düdelingen, sondern eineinhalb Wochen später eine 0:2-Heimniederlage gegen Rapid. Das Spiel war wirklich eine Schande! Wahnsinn, was wir da gespielt haben."
Am Deadline Day schlossen sich in der Folge ein gewisser Sadio Mane vom FC Metz und ein gewisser Kevin Kampl vom VfR Aalen dem FC Red Bull Salzburg an.
"Die kannte damals niemand, das waren völlig unbekannte No-Name-Spieler", erinnert sich Rangnick.
Die Mannschaft, die Trainer Roger Schmidt damals mit diesem Duo und anderen Stars wie Jonathan Soriano, Valon Berisha, Alan oder Christoph Leitgeb formte, begeistert Rangnick heute noch:
"Es hat seither immer wieder Riesen-Spieler wie Erling Haaland gegeben, aber so eine Mannschaft hatte Salzburg in der Breite nicht mehr. Hätte diese Mannschaft in der deutschen Bundesliga gespielt, wäre sie dort unter den ersten Fünf gewesen."
Jeder Trainer hat einen eigenen Fingerabdruck
Diese Mannschaft war 2012/13 zwar kurioserweise die letzte aus Salzburg, die nicht Meister wurde - dieser Titel wurde 2014 nachgeholt. Aber sie ist vielleicht auch deshalb so legendär, weil damals nicht nur die Herangehensweise in Sachen Personalpolitik geändert wurde, sondern eben auch die Art des Fußballs.
Und die war mit freiem Auge erkennbar ganz anders. "Wir wollten eine Art von Fußball spielen, die uns einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen verschafft", sagt Rangnick heute.
"RB-Fußball sollte weiterhin proaktiv sein. Das ist immer noch wichtig. Es sollte nicht zu viel auf den Ballbesitz geachtet werden. In unserer Vorstellung wird es nach Ballverlust erst richtig interessant. Es gibt immer noch diesen Kern."
Und hier wurde etwas Bleibendes geschaffen, auch wenn sich der "Red-Bull-Fußball" über die Jahre weiterentwickelt hat.
"Jeder Trainer hatte seinen eigenen Fingerabdruck. Es war ja nicht so, dass wir ihnen gesagt haben: 'Ihr müsst es genau so machen, und das muss genau so sein.' Jeder hatte die Freiheit, seine eigene Persönlichkeit einzubringen - der eine ist vorsichtiger, der andere denkt sich: No Risk, no Fun."
Ein Merkmal ist entscheidend
Dass sich sowohl in Salzburg als auch in Leipzig nicht nur Spieler-, sondern auch Trainer-Karrieren entwickelt haben, streicht Rangnick als besonders positiv hervor.
Alleine aus Salzburg haben Roger Schmidt, Adi Hütter, Marco Rose und Jesse Marsch den Sprung nach Deutschland geschafft. Matthias Jaissle sollte gute Karten haben, in ihre Fußstapfen zu treten.
"Salzburg ist jetzt neun Mal in Folge Meister geworden mit sechs Trainern aus vier Ländern. Die Herangehensweise war vielleicht anders, aber alle hatten eine gewisse Ähnlichkeit in der Spielauffassung."
Egal ob 2012 oder 2022, ein Merkmal ist entscheidend: "RB-Fußball sollte weiterhin proaktiv sein. Das ist immer noch wichtig. Es sollte nicht zu viel auf den Ballbesitz geachtet werden. In unserer Vorstellung wird es nach Ballverlust erst richtig interessant. Es gibt immer noch diesen Kern."
Nur nicht zu viel Ballbesitz
Hier würden laut Rangnick die Zahlen immer noch eine deutliche Sprache sprechen: "Viele glauben, dass es ausschließlich über Ballbesitz geht. Aber 50 Prozent aller Tore passieren aus vorherigem Ballverlust beziehungsweise Umschaltsituationen, die du selbst erzeugst. Nur 15 Prozent aller Tore fallen, nachdem du in Ruhe das Spiel aufgebaut hast. Und das ist ja auch logisch! Wenn du siehst, wie gut organisiert inzwischen Vereine in egal welcher Liga spielen, ist es das Schwerste überhaupt im Fußball, gegen einen tief stehenden Gegner im Ballbesitz zu sein."
Diese Gedanken gab es im Fußball natürlich auch schon vor Rangnicks Engagement bei Red Bull. Die Konsequenz, mit der sie von RB durchgezogen wurden, hat jedoch definitiv eine Marke kreiert.
Als Bälle gejagt wurden, wo es keine zu erobern gab
Was sich am RB-Stil im Laufe der zehn Jahre geändert hat? Vor allem in Leipzig sei die Weiterentwicklung naturgemäß eng mit der gestiegenen Qualität der Spieler verknüpft. Bis 2016 schaffte man es schließlich in die höchste Spielklasse.
"Am Anfang waren die Leipziger unter Alex Zorniger relativ schnell auf Balljagd, und sie haben wirklich jeden Ball gejagt - auch jene, wo es gar keine zu erobern gab", schmunzelt Rangnick, "in der Umschaltbewegung waren sie nicht abgeklärt und individuell nicht gut genug, um das in zehn Sekunden auszuspielen. Es wurde oftmals überhastet, zu schnell, zu unpräzise abgeschlossen."
In Salzburg hatte man von Beginn an die Spielerqualität, um sich an der Zehn-Sekunden-Regel zu orientieren: "Die Spieler haben jedoch gewusst, es darf nicht zu hektisch sein, es können auch zehneinhalb oder elf Sekunden sein - möglichst halt nicht 16, denn dann ist es kein Konter mehr und der Gegner irgendwann zurück. In Leipzig wurde das dann mit den Aufstiegen und Spielern wie Naby Keita, Kevin Kampl, Timo Werner oder Emil Forsberg anders."
Über allem steht der Erfolg
"Egal gegen wen wir spielen, wir sprechen keine fünf Minuten über beispielsweise Frankreich. Aber wir sprechen eine halbe Stunde über uns."
Über allem steht laut Rangnick der Erfolg - und aus diesem Blickwinkel wird es auch aus ÖFB-Sicht interessant. Denn Rangnicks aktuelles Projekt ist bekanntlich, diesen Spielstil im Nationalteam zu implementieren.
"Ob man das Red-Bull-Fußball nennt oder nicht, hat mich nie interessiert. In New York hieß es irgendwann mal Jesse-Ralf-Ball. Am Ende kommt es nur darauf an, was es braucht, um in der jeweiligen Liga oder mit der Nationalmannschaft erfolgreich zu sein."
Und Rangnick kann sich durchaus in eine Mischung aus Begeisterung und Aufgeregtheit mitsamt mutmaßlich erhöhtem Puls reden, wenn er darüber spricht, wie dies gelingen soll.
"Wenn wir mit Österreich erfolgreich sein wollen..."
"Wenn wir mit Österreich bei der Europameisterschaft und der Weltmeisterschaft erfolgreich sein wollen, brauchen wir ein Alleinstellungsmerkmal! Wir dürfen nicht Fußball von der Stange spielen! Wir können nicht sagen, wir gucken auf den Gegner. Das funktioniert nicht, auch gegen größere Nationen nicht. Egal gegen wen wir spielen, wir sprechen keine fünf Minuten über beispielsweise Frankreich. Aber wir sprechen eine halbe Stunde über uns", unterstreicht Rangnick vehement.
Auch das ist längst zu einem Merkmal des RB-Fußballs geworden.
Der eigene Stil soll kompromisslos durchgezogen werden - egal wann und gegen wen.