Es soll einem als Trainer nichts Schlimmeres passieren, als dass man beim Vorbereitungsstart in eine Halbserie erklären muss, warum es bisher so gut läuft und man gefragt wird, ob die ursprünglichen Ziele nicht doch ein bisserl nach oben geschraubt werden sollten.
So schnell kann es gehen.
Im Sommer übernahm Christian Ilzer, selbst aus einer unglücklichen Beziehung mit der Austria kommend, mit dem SK Sturm Graz einen Krisen-Verein. Einige Monate später überwintern die Steirer nach einem unglaublichen Lauf im Herbst-Finish als Zweiter, nach Verlustpunkten rangiert man sogar vor Leader FC Red Bull Salzburg.
Aber ist Sturm tatsächlich wieder ein nationales Spitzenteam?
"Genau das ist Marc Janko auf Sky gefragt worden", erzählt Ilzer schmunzelnd, "er hat gesagt: 'Nein, Sturm ist kein Spitzenteam.' Man müsse immer schön bodenständig bleiben. Also haben wir uns dieser Frage auch genauer gewidmet."
Sehr genau, ohne zu viel vorwegzunehmen, und der Coach gibt Janko auch durchaus recht. Die gefundenen Antworten passen zudem zur Balance, die Ilzer und sein Betreuerstab in Sachen Herangehensweise für das Frühjahr finden müssen.
Zwischen Euphorie und Realität.
Die Euphorie bei Sturm "nicht wegreden"
(Text wird unter dem Video fortgesetzt)
Stimmungstechnisch möchte Ilzer unter allen Umständen erreichen, dass man "auf der Euphoriewelle oben" bleibt:
"Diese Euphorie darf man uns nicht wegreden, diesen positiven Rückenwind müssen wir mitnehmen. Auf der anderen Seite ist es schon sehr wesentlich, dass wir den Blick auf die Realität nicht aus den Augen verlieren."
Besagter Blick auf die Realität ergibt für Ilzer durchaus noch Aufholbedarf auf die Konkurrenz beziehungsweise die Gelegenheit, seine Spieler auf "prozesstechnische Ziele" einzuschwören.
Salzburg, LASK und Rapid liegen vor Sturm
"Bei den Highspeed-Parametern sind wir absolut dabei, aber zu den Top-Teams fehlt es uns an Endgeschwindigkeit. Im Ballbesitz haben Salzburg oder LASK noch mehr Highspeed-Meter als wir."
"Wenn man die Realität anschaut, haben wir über den Erwartungen gespielt. Wir wollten wissen: Wie viel fehlt uns zu den Spitzenmannschaften? Wir sind ihnen nahe gekommen, in ein paar Bereichen haben wir aufgeschlossen. Wenn man es sich jedoch genau anschaut, sehen wir schon, dass Salzburg, der LASK und Rapid vor uns liegen. Wir haben mit unseren Leistungen optimalste Ergebnisse erzielt. Aber auf diese Mannschaften fehlt uns schon etwas."
Und das, obwohl man in vielen Bereichen bereits weiter sei, als man noch vor wenigen Monaten hätte erwarten können. Die Bereiche im Detail zu erläutern, würde laut Ilzer den Rahmen sprengen. Aber das eine oder andere Beispiel hat er parat:
"Bei den Highspeed-Parametern sind wir absolut dabei, aber zu den Top-Teams fehlt es uns an Endgeschwindigkeit. Im Ballbesitz haben Salzburg oder LASK noch mehr Highspeed-Meter als wir."
Oder folgendes Beispiel: "Im Ballbesitz schaue ich mir nicht den gesamten Ballbesitz an, sondern wie viele Ballbesitz-Phasen wir haben. Salzburg und wir haben zehn Sekunden pro Ballbesitz-Phase, Hartberg oder Altach 14, 15 Sekunden, weil sie mehr in der eigenen Hälfte spielen. Unsere Spielidee ist, dass wir uns schnell ins Angriffsdrittel, in die Abschlusszone entwickeln wollen, aber im Vergleich zu den Spitzenteams fehlt es uns da noch an Präzision. Da sind wir klar hinter Salzburg, LASK und Rapid."
Nur nicht von der Tabelle blenden lassen!
Dies seien Beispiele für Bereiche, in denen man sich weiter entwickeln müsse, wenn Sturm wirklich konstant vorne mit dabei sein möchte.
"Wir schauen uns diese Themen an, weil wir wissen möchten: Wo stehen wir wirklich?", verdeutlicht der 43-Jährige, "die Tabelle spiegelt auch etwas wider, aber da hatten wir auch einen super Lauf - wir haben keine Tore gekriegt, zum richtigen Zeitpunkt welche gemacht und eine richtige Flow-Stimmung entwickelt. Davon sollte man sich jedoch nicht zu sehr blenden lassen. Man muss wissen, wo es Schrauben gibt, an denen man drehen kann."
Und diesbezüglich kann Ilzer recht beharrlich sein. Mit einem Anteil von 8,4 Prozent an Highspeed-Metern an der Gesamtdistanz habe man bereits einen Top-Wert vorzuweisen: "Aber ich will auf 10 kommen. In diesem Bereich ist schon noch etwas drinnen."
Schon fast auf Augenhöhe mit dem WAC
Dass die Tabelle lügt, kann man wohl nicht behaupten. Ergebnisse sind im Fußball immer noch die härteste Währung. Zur Selbsteinschätzung helfen solche Parameter aber bestimmt. Und auch bei der Gegneranalyse.
Denn geht es nach Ilzer, gehört mit dem WAC auch Sturms Auftakt-Gegner im Frühjahr in die Gruppe der Spitzenteams: "Der WAC hatte nur keinen guten Start. Wir sind schon fast auf Augenhöhe mit ihnen, im letzten Drittel sind sie fußballerisch aber noch besser, dafür sind wir in anderen Bereichen besser."
Wohlgemerkt: Sturm hat acht Punkte Vorsprung auf den WAC.
Die gute Stimmung nicht "oberflächlich" nutzen
Zweck dieser Übung ist wohl auch zu verdeutlichen, dass ein Trainer in der Leistungsbeurteilung logischerweise nicht nur auf die Tabelle blickt.
"Ergebnistechnisch sind wir dort, wo wir sind. Wir haben uns eine gute Ausgangsposition verschafft, die sicher weit über den Erwartungen von uns allen ist. Diese gute Stimmung muss man natürlich nutzen - aber nicht oberflächlich", warnt Ilzer.
Ein großer Vorteil guter Stimmung? Man kann sich definitiv ungestörter besagten Details widmen, die eine Mannschaft voranbringen sollen.
Ein Luxus, der ihm bei der Austria nicht vergönnt war.
"Kein so katastrophales Jahr" für Ilzers Trainer-Team
"In der Jahrestabelle ist die Austria Fünfter und Sturm Siebenter. Von den 37 Punkten der Austria haben wir 26 gemacht, von den 31 Sturms 24. Man muss natürlich sagen, dass wir mit der Austria in der Quali-Gruppe waren, aber trotzdem war es für mein Trainer-Team kein so katastrophales Jahr."
"Entscheidend ist immer, was man aus Dingen lernt, welche Rückschlüsse man zieht. Das Austria-Jahr war vielleicht eine von vielen Prüfungen, denen man sich stellen musste. Aber wer weiß, vielleicht sagen in einem Jahr alle, es war gar nicht so schlecht, was er dort gemacht hat", grinst Ilzer und verweist auf die Jahrestabelle von LAOLA1:
"Dort ist die Austria Fünfter und Sturm Siebenter. Von den 37 Punkten der Austria haben wir 26 gemacht, von den 31 Sturms 24. Man muss natürlich sagen, dass wir mit der Austria in der Quali-Gruppe waren, aber trotzdem war es für mein Trainer-Team kein so katastrophales Jahr."
An besagtem Trainer-Team schätzt Ilzer die verschiedenen Qualitäten: "Es gibt für jeden Bereich Spezialisten. Wenn ich beispielsweise am Schreibtisch eine Seite mit Zahlen lese, werden die aus Tausenden Zahlen herausgefiltert."
Ilzer: "Spieler haben begriffen, dass Geben vor dem Nehmen kommt"
Nun wolle man sich mit guter Arbeit weiter an die Spitzenteams herantasten. Angesichts des Erfolgs finden Ilzer und Co. mutmaßlich gerade eine besonders aufnahmebereite Mannschaft vor - und letztlich zählt dies wohl genauso viel wie diverse Parameter.
"Die Spieler hier haben sehr, sehr schnell begriffen, dass das Geben vor dem Nehmen kommt. Das ist sehr wichtig, wenn du im Fußball Erfolg haben willst", erklärt Ilzer, "denn spielen können immer nur elf, aber am Trainingsplatz hast du 28."
Man darf gespannt sein, wie viele Ausbaustufen Trainerteam und Mannschaft in Graz noch gemeinsam zünden.