Er grinst.
Wer Rafael Leao zum ersten Mal auf dem Feld sieht, wundert sich. Der Star des AC Milan hat in brenzligen Situationen, wenn er mit dem Ball am Fuß im höchsten Tempo auf einen Gegner zuläuft, tatsächlich ein beseeltes Lächeln im Gesicht.
Auch sein Trainer hat sich gewundert. "Am Anfang hat es mich ein wenig irritiert. Aber später habe ich erkannt, dass das etwas ist, das einfach aus ihm rauskommt, wenn er spielt. Dann war es schön für mich. Es ist schön, man selbst zu sein", sagt Stefano Pioli.
Am vergangenen Wochenende war er wieder ganz er selbst. Nachdem der Start in die neue Saison eher durchschnittlich verlaufen ist, setzte Rafael Leao im Derby gegen Inter ein lautes Ausrufezeichen – zwei Tore und ein Assist beim 3:2-Sieg. Das war eine Ansage.
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Es hatte fast den Anschein, als sei nach dem Trubel der vergangenen Wochen mit dem Schließen des Transferfensters eine gewisse Last vom 23-Jährigen abgefallen.
Atemberaubende Summen
Bis zuletzt war ein Blockbuster-Transfer im Raum gestanden. 100 Millionen Euro hat Chelsea geboten, die Mailänder aber wollten 150 Millionen Euro. Eine Einigung kam nicht zustande.
Nun gehen die Verhandlungen weiter. Jorge Mendes persönlich, der wohl profilierteste Spielermanager im Weltfußball, sitzt für Rafael Leao am Verhandlungstisch. Die Summen sind atemberaubend. Aktuell verdient der junge Portugiese 1,4 Millionen Euro pro Saison, Milan bietet für eine Verlängerung des bis Sommer 2024 laufenden Vertrags 4,5 Millionen, Mendes fordert 7 Millionen.
Als die "Rossoneri" den Kicker mit angolanischen Wurzeln im Sommer 2019 für 29,5 Millionen Euro von OSC Lille holten, war er eines von vielen hochveranlagten Talenten, inzwischen ist er einer der aufregendsten Jungstars der Welt, alle Top-Klubs positionieren sich, um sich das Juwel zu sichern, wenn es in drei, vier Jahren am Höhepunkt seines Schaffens sein dürfte.
"Einer mit seinen Anlagen muss daran denken, es an die Weltspitze zu schaffen", sagt Pioli über ihn. Der Nachsatz erklärt dann aber auch, warum der Portugiese noch nicht da ist, wo er schon sein könnte, warum er in der öffentlichen Wahrnehmung oft unter dem Radar fliegt: "Talent allein reicht nicht."
Von Sporting-Fans attackiert, Vertrag aufgelöst
Dass sein Talent außergewöhnlich ist, war schon früh klar. Im Alter von neun Jahren schloss sich Rafael Leao dem Nachwuchs von Sporting an. Tiago Fernandes, sein ehemaliger Nachwuchs-Trainer, erzählt: "Ich habe den damaligen Trainer Jorge Jesus gedrängt, ihn zu den Profis zu nehmen und ihm gesagt: 'Ja, Gelson Martins hat Talent, aber Rafael ist der beste Spieler in der Geschichte der Sporting-Akademie!' Im Nachwuchs war er besser als Cristiano Ronaldo."
Tatsächlich nannte der Youngster aus Almada in der Region Lisboa früher oft Cristiano Ronaldo als sein großes Vorbild. 18 Jahre und vier Monate war der Offensivspieler alt, als er im Oktober 2017 für die Sporting-Profis debütierte, zehn Monate älter als CR7 bei seinem ersten Auftritt für den Klub.
Den Durchbruch schaffte Leao in Lissabon aber nie. Als im Frühjahr 2018 Sporting-Spieler nach dem Verpassen eines Champions-League-Platzes beim Training von einer Gruppe Fans attackiert wurden, löste der Youngster wie viele weitere seiner Kollegen den Vertrag auf.
"Er ist ein Spieler, der dafür sorgt, dass du dir die Haare raufst, nur um ein paar Minuten später ein Lächeln auf dein Gesicht zu zaubern"
Lille schlug zu und sicherte sich das Talent ablösefrei. Weil der Klub aber in finanzielle Schwierigkeiten geraten war, konnte er Rafael Leao nicht registrieren, der Offensivspieler wollte seinen Vertrag schon wieder auflösen, als es schließlich doch klappte.
Rund um den Jahreswechsel 2018/19 sorgte er in Frankreich erstmals für Schlagzeilen, erzielte in sieben Ligue-1-Partien sechs Tore. "Der portugiesische Mbappé", schrieben Frankreichs Medien. Doch Leao ließ in Folge aus, traf in den zehn Spielen danach nur ein Mal.
"Er ist ein Spieler, der dafür sorgt, dass du dir die Haare raufst, nur um ein paar Minuten später ein Lächeln auf dein Gesicht zu zaubern", beschrieb ihn sein Coach Christophe Galtier damals. Der Youngster ließ jegliche Konstanz vermissen.
Milan aber hatte genug gesehen und überwies fast 30 Millionen Euro in den Norden Frankreichs. Sechs Tore und drei Assists in 33 Pflichtspielen 2019/20, sieben Tore und sechs Assists in 40 Partien 2020/21. In seinen ersten beiden Saisonen im Trikot der "Rossoneri" war Leao okay, mehr aber auch nicht.
Ibrahimovic verzweifelte
In der vergangenen Saison aber rieben sich alle Beobachter der Serie A die Augen. Rafael Leao lieferte ab, mit einer Konstanz, die man nicht für möglich gehalten hätte. Zwei Männer haben großen Anteil daran: Altstar Zlatan Ibrahimovic und Trainer Stefano Pioli.
Bereits nach dem ersten gemeinsamen Spiel im Jänner 2020 diktierte Ibrahimovic in die Mikrofone der Reporter: "Ich habe Leao erklärt, was er tun muss, um spielentscheidender zu werden."
Später erklärte "Ibra" einmal, dass er am jungen Portugiesen fast verzweifelt sei, das Gefühl gehabt hätte, alles, was er zu ihm sage, ginge bei einem Ohr rein und beim anderen wieder raus.
"Ich bin nicht an ihn rangekommen. Wenn er sich nicht selbst hilft, kann ihm keiner helfen. Das war vor dieser Saison. Jetzt hat er sich total geändert, er hat selbst rausgefunden, was er tun muss", stellte Ibrahimovic im vergangenen Frühjahr zufrieden fest.
14 Tore und zwölf Assists in 42 Partien, bester Spieler der Serie A, Meister – was hat Rafael Leao für eine Spielzeit 2021/22 hingelegt!
Die richtige Position
"Davor war ich inkonstant. Ich habe vielleicht für eine Viertelstunde großartig gespielt und dann damit aufgehört oder Dinge nur halbherzig gemacht. Jetzt bin ich konkreter, bin 90 Minuten lang konsistent, schieße mehr Tore und liefere mehr Assists", sagt er.
Trainer Pioli fand nach langer Suche die richtige Position für den Jungstar. Während Leao zuvor oft an vorderster Front oder als hängende Spitze eingesetzt wurde, spielte er 2021/22 im 4-2-3-1 ausschließlich am linken Flügel. Dort kommen sein Speed und seine Dribblingstärke am besten zur Geltung.
"Er hat mich verstanden. Zuvor hat er mit mir viele taktische Dinge diskutiert, weil ich noch jung und undiszipliniert war. Jetzt erklärt er mir gar nicht mehr so viel, er vertraut mir, ich erledige meinen Teil, auch wenn der Gegner am Ball ist", sagt der Kicker.
Der Reifeprozess im Laufe der Vorsaison war augenscheinlich. Just im Finish, als der Druck immer größer wurde, wurde Rafael Leao immer besser. Mit drei Toren und sechs Assists war er hauptverantwortlich für die sechs Siege in Serie, die Milan letztlich den Scudetto sicherten.
Der Groschen ist gefallen. "Gott hat mir ein seltenes Talent geschenkt, aber ich muss Opfer und harte Arbeit beisteuern", sagt der Portugiese.
Und dann kam am Ende der Meistersaison der nächste Vergleich daher. "Er erinnert mich sehr an Thierry Henry", sagte Pioli.
"Ich will Rafa sein, ich will meinen eigenen Weg machen", grinst Rafael Leao.
VIDEO: Rafael Leaos schönste Tore im Milan-Trikot