Ajax Amsterdam ist das Sensationsteam der Saison 2018/19. Der Traditionsklub aus den Niederlanden mischt den europäischen Fußball derzeit so richtig auf.
Vor dem Rückspiel gegen Tottenham (heute, 21 Uhr, bei DAZN und im LIVE-Ticker) sind die Holländer nur noch einen Schritt vom Einzug ins Finale der UEFA Champions League gegen den FC Liverpool entfernt.
Alle fühlen sich an den Glanz vergangener Tage erinnert. Doch was macht diese Mannschaft wirklich so stark? Schließen die "Enkelsöhne Cruyffs" an ihre alte Tradition an? Oder sehen wir da vielleicht doch eine neue Art von Fußball?
In seinem ersten LAOLA1-Taktik-Corner erklärt Experte Ogi Zaric, warum Ajax dieser Tage von Erfolg zu Erfolg eilt:
Eine Generation wirft ihre Schatten voraus. Ajax Amsterdam back to the roots oder doch Ajax 2.0? Was macht das unter Ten Hag praktizierte 4-2-3-1 so besonders?
Der Ajax-Aufbau: V-Staffelung & Schlüsselspieler De Jong
Das oberste Spielprinzip ist attraktiv und innovativ zugleich - Ballorientiertes Überlagern der Räume in Ballbesitz.
Der Schlüssel im Aufbauspiel ist klar definiert - Frenkie De Jong. Und gerade weil er als Schlüsselspieler auszumachen ist, ist Ajax im ersten Drittel so schwer berechenbar. De Jong spielt kreativ und variantenreich. Der Ajax-Quarterback ist ein Stratege und Kicker zugleich. Er vereint technische Perfektion, Handlungsschnelligkeit und den Ajacied-Gedanken. Ajax will Fußball dominieren - ganz ideologisch in allen vier Phasen. De Jong als Schlüsselfigur des neuen Ajax soll den Spielaufbau dominieren. Dominieren, um ins Zentrum zu kommen. Aus dem Zentrum im Übergang in den Halbräumen, maximal Halbraum-Flügel breit, positionieren. Ein Mittel zum Zweck folglich.
Trainer Ten Hag nutzt das Kippen eines Sechsers, um aus der Zweier- eine Dreierkette zu formen. Die Höhe der beiden Außenverteidiger ist variabel, meist jedoch von Tiefe geprägt, insbesondere um Gegner im ersten Drittel vor Pressingprobleme zu stellen. Die Dreierkette agiert dynamisch V-förmig. Ein zentrales Element im Aufbauspiel unter Ten Hag ist die dadurch gegebene Tiefenstaffelung - ein Libero und zwei Halbraum-Öffner davor. Stammtorhüter Andre Onana entscheidet oftmals anhand seiner Wahrnehmung der Möglichkeit zur Einbindung von De Jong im Aufbauspiel. Ist dies nicht möglich, ist auch ein Chipball zur Eröffnung und Verlagerung erlaubt.
De Jong rotiert indes vermehrt diagonal halblinks, meist zwischen Daley Blind und Nicolas Tagliafico. Interessant ist insbesondere sein praktizierter horizontaler Laufweg mit Ball, gepaart im Positionswechsel mit Blind. Situativ bilden die beiden, zusammen mit Kapitän Matthijs de Ligt eine umgekehrte V-Staffelung. Neue Positionierung, neuer Feldvorteil.
Lasse Schöne ist sein Lückenfüller im besten Sinne. Überall wo De Jong Räume reißt, schließt Schöne. Ten Hags Credo: stabile Zentrumssicherung.
Zentrumsorientierte Feldbesetzung in Ballbesitz - Flügel einfach besetzt
Eine Innovation im Spiel der Holländer ist mit Sicherheit der Gedanke hin zur ballorientierten Denkweise. Während De Jong sich fallen lässt, gehen beide Außenverteidiger hoch, nicht untypisch. Für die Spielidee Ajax aber etwas Neues und Entscheidendes. Beide Flügelstürmer - sowohl David Neres, als auch Hakim Ziyech rücken ins Zentrum ein. Eine numerisch überladene Feldbesetzung zwischen der Abwehr- und Mittelfeldkette des Gegners ist gegeben. Ajax besetzt die Halbräume dynamisch und positioniert genau hier Zocker-Typen mit der Möglichkeit zu drehen. Der Flügel ist pro Seite jeweils einfach mit den Außenverteidiger als Breitengeber besetzt. Vorteil dieser Feldbesetzung ist ein vertikaler Raumgewinn in Richtung gegnerisches Tor.
Der Keypoint ist die Besetzung der Halbräume. Dadurch, dass Ziyech und Neres situativ einrücken, spielt Ajax positionell mit drei offensiven Mittelfeldspielern im Zehnerraum. Die Halbraumpositionierung ist markant. Dazu kommt, dass mit den beiden nominellen Flügelstürmern zwei Spieler mit Schnelligkeit nun zentral aufdrehen können, ebenso aber lauern, um diagonal in die Schnittstelle einlaufen zu können. Zur numerischen Überzahl kommt nun auch ein Plus in Punkto Speed.
Größtes Update in der Spielweise ist der Gedanke weg von raumorientiert hin zu ballorientiert. War es in der Vergangenheit Teil der Spielidee, die Flügelzonen beidseitig möglichst breit mit beiden Flügelstürmern zu besetzen, so ist der Wandel mittlerweile vollzogen. Der Orientierungspunkt im Spiel ist der Ball, eine Zonenbesetzung im Raum - speziell ballfern - ist durchbrochen.
Ten Hag ist die Feldbesetzung wichtig. Die Raumaufteilung in der vertikalen plus horizontalen Ebene. Maximal drei Spieler, vertikal situativ zwei. Die Live-Grafik zeigt die Ebenen im Spiel. Plus ballorientiertes Überlagern.
Grundordnung ade, Flexibilität in Ballbesitz
Ein zweiter Blick auf diese Grafik ist unumgänglich. Augen reiben, aber de facto ist die Positionierung eine extrem spannende. Die beiden Flügelstürmer bewegen sich fern ihrer Startpositionen im Achter- und Neunerraum. Zentrumsorientiert, aber unisono ballorientiert und gefährlich im Raum zwischen den Ketten. Flexibilität kennt keine Grenzen. Die ballferne Seite wird aufgegeben, Ten Hag denkt ballorientiert und will ebendort die Überzahl. Ajax nutzt diese Besetzung zwischen den Linien sehr gut, um den Gegner in eine vertikale Verschiebung zu locken. Innovativ und megafrech.
Eigene Kontersicherung ist mannorientiert
Diese nach vorne ausgerichtete Spielweise und der Mut, den die Ten Hag-Elf an den Tag legt, ist auch gezeichnet mit einer interessanten Restverteidigung. Im eigenen Ballbesitzspiel ist die Kontersicherung streng mannorientert. Mann gegen Mann, ohne Überzahlspieler. Die Überzahlspieler behält Ajax vor dem Ball. Hinter dem Ball wird doch recht riskant in Gleichzahl verteidigt, wobei die Aufgabe im Umschaltmoment entsprechend klar ist.
Durch die hohen Außenverteidiger bietet sich eine Restverteidigung mit Tagliafico und Joel Veltman nicht an. Die Positionierung von De Jong nach Überspielen des Pressings in den 6er-Raum zurück ermöglicht entsprechend die Mannorientierung hinterm Ball, mit dem horizontal verschiebenden Schöne. Der Ajax-Ausbildungsgedanke, der von klein auf gelebt wird, mit Fokus auf Eins-gegen-Eins-Situationen kommt hier auch den Defensivakteuren entsprechend zu Gute. Der Bonus individualtaktisch bestens ausgebildeter Spieler kommt zur Geltung.
Dusan Tadic: Falsche 9 oder doch Freigeist?
Spielverständnis, Torgefahr, innere Ruhe und Gelassenheit - einer der unterbewertetsten Spieler der letzten Jahre ist Dusan Tadic. Er verkörpert so ziemlich alles, was einen Offensivspieler auszeichnet und ist genau dort überall einsetzbar. Ob als Spielmacher, zentraler Stürmer oder am Flügel - der Routinier im Ajax-Dress reißt hier wie dort Lücken.
Sinnbild dafür ist seine Bewegung vor dem Führungstor im Hinspiel gegen Tottenham. Tadic erkennt, mit dem Rücken zum Tor stehend, dass Donny van de Beek aufdrehen kann und sieht im Augenwinkel Neres diagonal die Schnittstelle einlaufen. Durch seine im ersten Moment azyklische Bewegung - kurz anstatt tief - zwingt er Tottenhams Vertonghen die Kette aufzugeben, Rose ist im Zuordnungsproblem zwischen dem aufgerückten Veltman und Van de Beek. Der an diesem Abend stark aufspielende Van de Beek ist freigespielt und trifft zur Ajax-Führung. Die Idee, Tadic als falsche Neun aufzustellen, hat faktisch zwei Überlegungen. Tadic sich in seiner Freigeist-Funktion, der im Ballbesitzspiel weit in der eigenen Hälfte die Bälle holt, entfalten zu lassen und durch die Kreuzbewegungen im Offensivverbund die vertikalen Abstände der gegnerischen Abwehr- und Mittelfeldreihe zu maximieren.
Ausblick: Champions League Halbfinal-Rückspiel
Ajax ist es im Hinspiel beeindruckend gelungen, Tottenham zu locken. Durch die zahlreichen Positionswechsel und Passoptionen bereits in der eigenen Hälfte sind die Spurs ins hohe Mittelfeldpressing gelockt worden. Speziell durch das frei Bewegen weit in der eigenen Hälfte von Tadic und Ziyech war es für die Offensivreihe der Engländer im 2-2-Block fast unmöglich, Überzahl zu kreieren und Zugriff auf den Aufbau zu bekommen. Die Grundidee von Ten Hag geht in dem Moment auf, in dem Tottenham hier ins Pressing geht. Jetzt nämlich ist der Plan mit einem aus dem Duo Tadic/ Ziyech in den Halbraum im Rücken von Ali und Eriksen zu kommen. Mit Vollsprint und frontalem Blick. Durch Van de Beek ist auch in der Spielfortsetzung eine Überzahl gegen den meist an Anschluss zur Linie verlierenden Wanyama gegeben.
Die Frage bleibt, ob Pochettinos 3-1-4-2 die Ideallösung gegen Ajax sehr variables 4-2-3-1 ist oder eben diesem genau in die Karten spielt. Zwar entsteht durch die Gegenüberstellung beider Systeme eine Mannorientierung übers Gesamtfeld, jedoch machen die Bewegungen im Ajax-Spiel und deren Interpretation dessen diese zunichte und erzeugen zum einen extreme Zuordnungsprobleme und zum anderen durch die diagonalen Freilaufbewegungen auch Kommunikationsprobleme und ein immer weiteres Zurückziehen Richtung Tottenham-Tor.
Der Nagelsmann-Einfluss in Amsterdam
Individuell hochbegabte, technisch bestens ausgebildete Spieler in der wohl mitunter renommiertesten Talentschmiede weltweit reifen zu Weltstars. Jahrzehntelange Tradition bei Ajax. Coach Ten Hag hat es geschafft, dieser fantastischen, traditionellen Ideologie eine Prise Innovation mit auf den Weg zu geben. Sein bester Coup? Alfred Schreuder.
Die rechte Hand im Trainerteam trägt den Namen Schreuder und ist in Holland kein unbeschriebenes Blatt. Er ist derjenige, der mit Details entscheidende Anpassungen initiiert hat und den von Ajax seit den 1970er Jahren geprägten Begriff des Total Fußball (Totaalvoetbal) heute mit revolutioniert. Neres und Ziyech, zwei Kicker vom feinsten, haben den letzten Baustein in ihrer Fußballausbildung - taktische Unabhängigkeit - unter Schreuder erlangt. Die Flexibilität im Positionsspiel, Zonenbesetzung im Schwerpunkt Halbraum und das provozierte Chaos in Ballnähe, all dies erinnert an Elemente im Spiel unter Hoffenheim-Coach Julian Nagelsmann. Ebenso die neue “Tunnel-Lastigkeit“. Im Tunnel kontern ist das Schlagwort!
Der erste Pass nach Ballgewinn ist mit auffällig mehr Risiko behaftet. Nach Ballgewinn zählt ein Ball in die Tiefe, der innerhalb der Spur bleibt. Ein Element von Chaos, da der Impuls Ballgewinn als Indiz für Sprints im Tunnel dient. In die Torerziel-Zonen wird eingelaufen - möglichst schnell und mit möglichst viel Mann. So ist das Signal Ballgewinn - Sprint in die Box. Ziel ist maximale Raumüberwindung. Schreuder, einst Nagelsmann-Co und auch dessen designierter Nachfolger im Sommer, hat Ideen und Überlegungen übernommen, die genauso in Hoffenheim praktiziert wurden. Mit Erfolg.
Eine Szene, die Sinnbild für ein Schreuder-Prinzip ist und das neue Ajax aufzeigt. Der Flügelstürmer bewegt sich diagonal ins Zentrum hinein. Er verlässt die Flügelzone, diese wird situativ im Übergangsspiel aufgegeben. Tadic kippt in den Achter-Raum und erkennt den Weg als diagonaler Passempfänger. Er erzeugt sogleich ein Zuordnungsproblem in den Räumen horizontal links und rechts vom gegnerischen defensiven Mittelfeldspieler. Der Passweg diagonal-tief ist frei. Währenddessen sprintet Neres die Schnittstelle diagonal im Rücken des Verteidigers an. Neres ermöglicht so zwei unmittelbare Passoptionen für Tadic, der Passempfänger wird. Direkte Weiterleitung auf Neres, der einen Handlungsvorsprung hat und aus vollem Lauf kommt. Die wahrscheinlichere Option ist, dass Neres durch das Zack-Zack einlaufen seine(n) Gegenspieler mitzieht und dadurch den Raum öffnet für seinen Mitspieler. Der kann aufdrehen und die Schnittstelle anlaufen.
Die Staffelung im 3-2-2-3 bzw. 4-2-2-2 ermöglicht räumlich einen direkten Zugriff im Gegenpressing. In Richtung Ball wird in der Ballverlust-Phase maximaler Druck erzeugt, der Ballverlust wird vorbereitet und die Balljagd beginnt impulsiv.
Ballorientiertes Spiel in die Tiefe fulminant und situationsabhängiges Entscheiden für alle Spieler. Ajax hat die komplexe Reaktionszeit ihrer Spieler effektiv verkürzt und dadurch einen Handlungsvorsprung generiert. Tradition trifft Innovation.
Mutig, dominant, attraktiv und nach vorne ausgerichtet. Und weg von Raum, hin zum Ball. Total Fußball 2.0 eben.
Der Tiroler Ognjen "Ogi" Zaric ist im Besitz der UEFA-A-Lizenz und hat am Weg dahin alle Ausbildungen mit Auszeichnung absolviert. Der 30-Jährige sieht den Fußball daher aus einem anderen Blickwinkel als der durchschnittliche Stadionbesucher. Mit seinem geschulten Trainer-Auge versucht er den LAOLA1-Usern in Zukunft taktisches Insider-Wissen rund um das runde Leder zu vermitteln. Sein eigener Trainer-Weg führte ihn ab 2014 nach Deutschland, wo er unter anderem die U17 der SpVgg Unterhaching und zuletzt als Chefcoach den Regionalligisten 1860 Rosenheim betreute.