"Wenn ich über mein Zuhause und meine Kindheit spreche, dann denke ich an den Fußballplatz neben meinem Elternhaus. Das ist meine Kindheit, das ist mein Zuhause."
Das runde Leder ist in Martin Ödegaard tief verwurzelt und steckt auch durch seinen Vater - einem ehemaligen Profi - in seiner DNA. Schon seit Kindheitstagen an lebte der skandinavische Blondschopf mit dem Babyface mustergültig das Leben eines Berufssportlers vor, als würde er genau wissen, was die Folgejahre mit sich bringen würden.
"Meine Eltern haben mir erzählt, dass ich schon als Baby, sobald ich laufen konnte, mit einem Ball herumlief. Im Grunde war es immer Fußball. Ich habe nie eine andere Sportart betrieben - für mich gab es immer nur Fußball", erzählte Ödegaard im Interview mit seinem Klub - dem FC Arsenal.
Unzählige Trainingseinheiten mit seinem Vater Hans Erik stecken in den Beinen des einstigen Wunderknaben, sein beispielhafter Ehrgeiz ist ihm bis heute erhalten geblieben. Mit nun 25 Jahren spielt er um die größten Vereinstitel des Fußballs mit und führt überdies ein junges, hungriges Team an, das sich unter den Besten beweisen will.
Mit Arsenal befindet sich der Norweger im Dreikampf um den englischen Thron der Premier League, auf europäischer Bühne hat der Mannschaftskapitän mit seinen "Gunners" den FC Bayern im Viertelfinale vor der Brust.
Rachegelüste in der Königsklasse
Am Dienstag (ab 21 Uhr im LIVE-Ticker >>>) wollen Ödegaard sowie seine Teamkollegen ihr herausragendes Talent im Emirates Stadium unter Beweis stellen und nebenbei die ewige Leidensgeschichte mit dem deutschen Rekordmeister in Vergessenheit geraten lassen.
Das Champions-League-Duell mit den Bayern weckt bei den englischen "Kanonieren" angesichts der 2:10-Schmach (Hin- und Rückspiel) im Achtelfinale der Saison 2016/17 besondere Rachegelüste.
Brisanterweise hätte Ödegaard auch eine Karriere im Bayern-Dress durchlaufen können. Die gesamte Beletage des europäischen Fußballs war einst hinter dem begnadeten Kicker her. Seine Unterschrift setzte der damals erst 16-Jährige aber unter einen anderen Vertrag – eine Signatur, die unwissentlich mit einer Odyssee verbunden war.
Rasanter Hype um den norwegischen Messi
Um Ödegaards komplizierten Werdegang verstehen zu können, ist der Blick auf dessen Ursprünge unerlässlich.
Im norwegischen Drammen aufgewachsen, schnürte der ballverliebte Jungspund von 2005 bis 2009 beim ortsansässigen Sportverein Drammen Strong seine Schuhe, ehe der nur wenige Kilometer entfernte Erstligist Stromsgodset IF, für den bereits sein Vater auflief, den Youngster fortan ausbildete.
Beim norwegischen Traditionsverein durchlief er sämtliche Jugendabteilungen - schnell wurde klar, dass man hier einen wahren Rohdiamanten in seinen Reihen hat.
"Als ich 13, 14 Jahre alt war, habe ich begonnen, mit der ersten Mannschaft zu trainieren", erzählte Ödegaard in einem Interview mit "The Players Tribune". Mit blutjungen 13 Jahren durfte er sogar bei einem Freundschaftsspiel eine ganze Halbzeit mit dem Profiteam auflaufen.
Von diesem Zeitpunkt an änderte sich das Leben des Dribbelkünstlers schlagartig. Das mediale Interesse an seiner noch jungen Person kam auf, doch anders als bei vielen Negativbeispielen wie Alen Halilovic, Hachim Mastour oder Freddy Addu konnte der heranwachsende Teenager die Füße auf dem Boden bewahren.
Ödegaard zeigte sich schon zu diesem Zeitpunkt druckresistent. "Ich bin erst 15 Jahre alt und spüre den Druck nicht. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich dem Ruf als große Hoffnung gerecht werden muss. Ich habe noch viel Zeit", sprach er damals mit völliger Gelassenheit.
Eine ausgeprägte Reife zeigte Ödegaard auch auf dem Rasen. Eine technisch feine Klinge sowie die Ruhe am Ball, überlegte Abschlüsse und eine ausgeprägte Übersicht zeichneten schon damals das Spiel des begnadeten Jünglings aus. Die norwegische Fußballwelt war in Anbetracht dieser exzellenten Mixtur von Qualitäten aus dem Häuschen. Das Bild des skandinavischen Messi war geboren und schlug auch über die Landesgrenzen hinaus große Wellen.
So verwundert es nicht, dass Ödegaard im Jahr 2014 im Alter von nur 15 Jahren und 300 Tagen den Rekord als jüngster Spieler der norwegischen Nationalmannschaft brach.
Karriereplan im Fokus
Wie später auch sein Landsmann Erling Haaland klapperte Ödegaard mit seinem Vater als Berater im Schlepptau sämtliche Top-Klubs ab – darunter der FC Bayern, der FC Arsenal und Real Madrid.
Pep Guardiola, in jener Zeit in München angestellt, wollte ihn unbedingt haben. Gespräche und ein Treffen mit Arsene Wenger (Arsenal) fanden statt. Auch Jürgen Klopp buhlte um den hochveranlagten Zehner, als er bei Borussia Dortmund das Zepter schwang.
Bei der Wahl des nächsten Klubs für seinen Sohn stand für Ödegaard Senior unterdessen vor allem die sportliche Perspektive im Vordergrund. "Ich spreche mit keinem Klub über Geld. Der Verein, für den wir uns entscheiden, muss einen Plan für Martins sportliche Entwicklung haben. Das ist das einzig Wichtige. Wenn wir einen Klub finden, der uns dies bieten kann, bin ich sicher, dass wir uns auch über alles andere einig werden."
Den Zuschlag erhielt letzten Endes Real Madrid, das kolportierte 2,8 Millionen Euro nach Norwegen überwies. Mit gerade einmal 16 Jahren unterschrieb Ödegaard einen Vertrag beim "Weißen Ballet", in dessen Reihen sich Klubgrößen wie Cristiano Ronaldo, Sergio Ramos oder Karim Benzema tummelten.
Real-Karriere im Wartezimmer
Im Kreise der größten Fußball-Stars wollte Ödegaard von deren immenser Erfahrung profitieren. Da er die spanische Sprache vorerst nicht beherrschte, nahmen Spieler wie Luka Modric, Toni Kroos oder Cristiano Ronaldo den Jüngling unter ihre Fittiche. Die Zweitvertretung der "Königlichen" sollten ihm nebenbei ausreichend Spielpraxis garantieren – ein weiteres Argument, das den jungen Kicker überzeugte.
Am letzten Spieltag der Saison 2014/15 feierte Ödegaard gegen den FC Getafe sein Debüt für Real Madrid. Beim 7:3-Sieg der Madrilenen wurde der Norweger in der 58. Minute für Cristiano Ronaldo eingewechselt. Bis heute ist er mit 16 Jahren und sechs Monaten der bislang jüngste Spieler, der je für Real in La Liga eingesetzt wurde.
Nach zwei Jahren der Akklimatisation in Madrid verspürte Ödegaard jedoch den Drang nach Veränderung. Sein Wunsch nach Profifußball auf höherem Niveau brachte den damals 18-Jährigen per Leihe zum niederländischen Eredivisie-Klub SC Heerenveen, für den er eineinhalb Jahre aktiv war. Es folgte eine weitere Leihe zu Vitesse Arnheim, wo er erstmalig sein enormes Potenzial auch mit Zahlen untermauern konnte. In 39 Pflichtspielen für die Niederländer erzielte Ödegaard elf Tore und verbuchte 13 Assists.
Da man ihm im Madrider Star-Ensemble weiterhin keinen fixen Platz in der ersten Mannschaft garantieren konnte, wurde er an Liga-Konkurrent Real Sociedad ausgeliehen – ein geglücktes Match für alle Parteien – Ödegaard knipste in 36 Pflichtspieleinsätzen sieben Treffer und sammelte zudem neun Vorlagen. Außerdem schaltete er mit Sociedad im Cup-Viertelfinale seinen Stammklub Real Madrid aus (4:3) und erzielte dabei einen Treffer.
Die starken Leistungen veranlassten Real, sein Juwel frühzeitig aus der zwei Jahre angedachten Leihe zu lösen und zurückzubeordern.
Mittlerweile saß Zinedine Zidane auf der Trainerbank des spanischen Rekordmeisters. Ödegaard und der Erfolgscoach kannten einander bereits aus der Castilla (Reals zweite Mannschaft). Eine vielversprechende Ausgangssituation, möchte man meinen.
Der erhoffte Durchbruch im weißen Dress blieb aber weiterhin aus. Ödegaard kam in der ersten Saisonhälfte 2020/21 lediglich auf neun Pflichtspiele und konnte obendrein keinen Scorerpunkt anschreiben. "Mit Martin ist alles gut, aber wir haben nun einmal viele gute Spieler, die spielen wollen", erklärte Zidane seine Entscheidung, auf sein Talent zu verzichten. Die Konkurrenz um Luka Modric, Toni Kroos, Casemiro, Isco und Federico Valverde war in der Mittelfeldzentrale schlicht zu hoch konzentriert, sodass der junge Norweger das Nachsehen hatte.
Einmal mehr musste Ödegaard Real auf Zeit den Rücken kehren.
Nord-London als neue sportliche Heimat
Im Winter 2021 bot sich Ödegaard plötzlich die Möglichkeit, sich bis zum Saisonende dem FC Arsenal anzuschließen. Ein weiteres Mal nahm er die Herausforderung an, im Wissen, dass es sich um seine womöglich letzte Chance handelt, eine Zukunft bei Real zu haben.
Im Norden Londons konnte er unter Trainer-Neuling Mikel Arteta aufblühen. Ödegaard bekam auf Anhieb ausreichend Einsatzzeit in der ersten Elf und empfahl sich für ein langfristiges Engagement beim Premier-League-Klub.
Im darauffolgenden Sommer musste der Norweger zunächst zurück nach Madrid reisen, doch schnell wurde offensichtlich, dass auch Carlo Ancelotti nicht mit ihm plant. Arsenal erkannte die einmalige Gelegenheit und schnappte zu – für, aus heutiger Sicht, schlanke 35 Millionen Euro wurde Ödegaard fest verpflichtet. Es stellte sich als Glücksgriff heraus.
In Artetas Spielsystem, das mittlerweile vermehrt auf Ballbesitz und Kontrolle Wert legt, agierte der Linksfuß fortan als umtriebiger Offensivgeist, Taktgeber und Antreiber der Mannschaft. Ödegaard übernahm unter der Anleitung des spanischen Taktikfuchses zudem immer mehr Verantwortung, wurde zum verlängerten Arm des Trainers. Nach dem Abgang von Pierre-Emerick Aubameyang wurde der Norweger folglich zum neuen Kapitän ernannt. Es begann eine neue Zeitrechnung beim englischen Top-Klub.
Im Rahmen eines radikalen Kaderumbruchs häufte Arsenal junge und erfolgshungrige Spieler an – mit Ödegaard hatte man dem Klub ein neues Gesicht verpasst.
"Martin hat viele Qualitäten, die wir uns als Kapitän wünschen... eine davon ist, dass er zuerst an die Mannschaft und dann an sich selbst denkt."
"Leader by Example"
Als seine größten Vorzüge werden dem heute 25-jährigen Norweger seine akribische, ausdauernde und vorbildliche Arbeitsweise attestiert. Sein Bestreben, sich täglich weiterzuentwickeln, konnte sich Ödegaard bereits früh in seiner Karriere aneignen. "Ich wollte mehr trainieren als die anderen, weil ich wusste, dass mich das besser machen würde. Das Wichtigste war also die Arbeitsmoral - immer hart zu arbeiten und mehr zu trainieren als alle anderen, das war das Wichtigste."
Ödegaard gilt innerhalb seiner Mannschaft nicht als lautstarker Anführer, der große Reden schwingt – das überlässt er anderen. Er selbst bezeichnet sich in Interviews gebetsmühlenartig als "Leader by Example". Der Mittelfeldstratege geht mit gutem Beispiel voran und versucht dadurch, seine Teamkollegen zu Höchstleistungen anzutreiben.
Exemplarisch: Ödegaard ist in Arsenals Spiel gegen den Ball erster Anpresser, der den Gegner bereits in der Defensive kaum Zeit gibt, nachzudenken.
"Martin hat viele Qualitäten, die wir uns als Kapitän wünschen... eine davon ist, dass er zuerst an die Mannschaft und dann an sich selbst denkt. Er hatte eine Phase am Anfang, in der er nicht gespielt hat, er war der erste im Training, der letzte, der ging, er hat die richtigen Fragen gestellt - warum er nicht gespielt hat, was er tun musste - er hat immer zugehört, er hat seinen Teamkollegen immer geholfen", schwärmte Arteta über seinen neuen Mannschaftsanführer.
Seit der Ankunft des pflichtbewussten Muster-Profis gelang es den "Gunners", nun in zwei aufeinanderfolgenden englischen Titelrennen mitzumischen.
Zwar verpasste Arsenal im Endspurt der vergangenen Spielzeit, die erste englische Meisterschaft seit 2004 zu fixieren. Die stetige Entwicklung des Teams ist jedoch unübersehbar, Ödegaard verkörpert dabei die "neuen" Werte der "Gunners" wie kein anderer – Fleiß, Spielwitz und Coolness.
Duell mit der Vergangenheit
Durch den zweiten Tabellenplatz im Vorjahr qualifizierte sich Arsenal erstmals nach einer siebenjährigen Flaute für die Champions League, noch in der laufenden Saison sorgten Ödegaard und Co. für einen weiteren Meilenstein. Die "Gunners" besiegten den FC Porto nach einem Elfmeter-Thriller und nehmen nach 14-jähriger Wartezeit wieder am Viertelfinale teil.
Setzt sich die Erfolgsserie des FC Arsenal fort und besiegt man den FC Bayern, so bietet sich nicht nur Arsenal eine neue Gelegenheit, sich in der europäischen Elite zu etablieren – ebenso winkt Martin Ödegaard ein Duell mit seiner Vergangenheit.
Sollte der Fußballgott das aufgelegte Narrativ durchwinken, so überwindet Real Madrid seine Viertelfinalhürde Manchester City. Anschließend würde das Semifinalduell mit den "Gunners" anstehen.
Martin Ödegaard schoss sich derweil beim souveränen 2:0-Heimsieg über Luton Town bereits warm, erzielte den Führungstreffer.
Das Schicksal nimmt seinen Lauf...