"Wir freuen uns darauf, nächste Woche nach Hogwarts London zu reisen, um es mit Potter aufzunehmen", verlautbarte der offizielle englische Twitter-Kanal des FC Salzburg vor einer Woche und spielte damit auf die Namensvetterschaft des wohl berühmtesten Zauberers der Welt, Harry Potter, und des neuen Chelsea-Coaches, Graham Potter, an.
Während sich Ersterer von der Besenkammer seiner verhassten Stiefeltern aus zum heldenhaften Bezwinger des dunklen Lord Voldemorts aufschwang, durchlebte Zweiterer in seiner Entwicklung vom ehemals mittelmäßigen Unterligen-Kicker zum nun teuersten Coach aller Zeiten einen ähnlich märchenhaften Aufstieg.
Damit enden die Parallelen zwischen den beiden Briten allerdings auch schon wieder. Graham Potter verfügt nämlich weder über magische Fähigkeiten, noch ist er von einer markanten Gesichtsnarbe gezeichnet.
Viel mehr gilt der der 47-Jährige als harter Arbeiter, dessen Werdegang vom Universitätsmannschaften-Coach zu einem der renommiertesten Chetrainer-Posten der Welt alles andere als gewöhnlich ist. LAOLA1 beleuchtet Graham Potter etwas genauer:
"Ich war ein ziemlich mieser Spieler"
Wie bei vielen Weltklasse-Coaches stand auch am Beginn von Graham Potters Karriere eine eher unerfolgreiche aktive Laufbahn. Den Großteil seiner Spieler-Karriere verbrachte der Linksverteidiger in der englischen Zweitklassigkeit oder sogar darunter; die einzige Ausnahme war die Saison 1996/97, in der Potter für den FC Southampton immerhin acht Premier-League-Einsätze verbuchte.
"Ich war ein ziemlich mieser Spieler, ich wusste, dass ich keine Möglichkeiten aufbauend auf einer herausragenden Spieler-Karriere bekommen werde", sagte Potter einmal gegenüber "Wales Online".
Kurz nach seinem 30. Geburtstag hängte er schließlich seine Schuhe an den Nagel, nur wenig später hatte er einen Abschluss in Sozialwissenschaften in der Tasche. Zu studieren begann Potter während des Kickens deshalb, weil er sich eines Tages im Mannschaftsbus beim Überfliegen einer Boulevardzeitung ertappte.
Da dabei inhaltlich so gar nichts hängen blieb und seine Mutter ihn ohnehin immer dazu anhielt, sich weiterzubilden, inskribierte der bescheidene Engländer eine Woche nach diesem für ihn einschneidenden Erlebnis für ein Fernstudium an der Open University.
Erste internationale Erfahrung mit Ghanas "Black Queens"
Über diese akademische Brücke landete er nach seinem Karriereende einen Job als Football Development Manager an der University of Hull. 2006 absolvierte die ghanaische Frauenfußball-Mannschaft ein Trainingslager am Universitätsgelände; Potter betreute die "Black Queens" vor Ort und wurde kurzerhand als Technischer Direktor Ghanas für die Frauen-WM 2007 in China angeheuert.
Für die "BBC" führte er einen Blog über seine Erlebnisse mit der ghanaischen Nationalmannschaft. In diesem bezeichnete er die Bezeichnung als Technischer Direktor zwar als "ein wenig peinlich. Aber ich bekomme die Chance, eine internationale Mannschaft in der Vorbereitung auf eine Weltmeisterschaft zu unterstützen, was eine große Herausforderung in dieser Phase meiner Trainer-Karriere ist, über die ich mich sehr freue."
Nach dem Turnier, das Ghana mit null Punkten bereits nach der Gruppenphase beenden musste, war die Euphorie bei Potter dahin. "Wann immer in Zukunft schlechte Zeiten kommen, werde ich an diese Erfahrung zurückdenken und mir sagen, wenn ich das durchstehe..."
"Wollte mehr als nur der Ex-Fußballer sein"
Schlechte Zeiten waren ab diesem Zeitpunkt aber nicht mehr im Ansatz in Sicht. Nach seiner Rückkehr auf die Insel wechselte Potter 2008 an die Leeds Metropolitan University, um sowohl seine akademische als auch seine Coaching-Karriere voranzutreiben. Neben seiner Tätigkeit als Football Coaching Manager und Assistenztrainer der englischen Universitätsnationalmannschaft absolvierte er in West Yorkshire quasi im Vorbeigehen ein Masterstudium in "Führung und Emotionaler Intelligenz".
"Als ich mit dem Fußballspielen aufhörte, war ich nicht selbstbewusst. Ich mochte es nicht, vor Leuten zu stehen, ich mochte meine eigene Stimme nicht. Deswegen probierte ich alles, um mehr Selbstbewusstsein zu bekommen. Ich wollte nicht einfach nur der Ex-Fußballer sein. Ich wollte mehr als das sein und ich liebte das Lernen", sagte Potter einmal über seinen Drang zur Bildung.
Ich wollte nicht einfach nur der Ex-Fußballer sein. Ich wollte mehr als das sein und ich liebte das Lernen.
Zu diesem Zeitpunkt dieser Erzählung war Potter 33 Jahre alt und damit nur unwesentlich jünger, als es Salzburg-Coach Matthias Jaissle jetzt ist. Zwar feierte der Brite mit der Universitätsmannschaft von Leeds einige Erfolge, dass er jemals Trainer eines Champions-League-Teams werden könnte, hätte der Blondschopf in dieser Phase seiner Karriere allerdings wohl nicht zu träumen gewagt.
Der Wechsel in die schwedische Provinz
Dann kam das Jahr 2010. Graeme Jones, ein ehemaliger Mitspieler Potters bei Boston United, agierte zwischen 2007 und 2009 als Assistent vom aktuellen Belgien-Teamchef Roberto Martinez bei Swansea City. Die Waliser absolvierten um diese Zeit immer wieder Testspiele gegen das unterklassige schwedische Team Östersunds FK, im Rahmen derer eine Freundschaft zwischen Jones und Östersund-Präsident Daniel Kindberg entstand.
Als Kindberg 2010 einen neuen Trainer für den Viertligisten suchte, der Wert auf Ballbesitzfußball legt, kontaktierte er Jones. Dieser schlug seinem schwedischen Spezi prompt Potter vor; wenige Wochen später unterschrieb der damalige Universitätscoach im kalten Schweden.
Mitsamt Ehegattin, die für den neuen Job ihres Mannes in der letzten (!) Spielklasse Schwedens ihr Kleinunternehmen aufgab, und Kleinkind heuerte Potter im Jänner 2011 schließlich in Östersund an - und hatte trotz aller Widrigkeiten auf Anhieb Erfolg.
Ein Resultat von Potters unglaublichem Willen: "Wenn du diesen Schritt gehst, mit all diesen Aufopferungen, musst du es funktionieren lassen. Aber es war aufzehrend", verriet der heute 47-Jährige einmal dem "Guardian".
Teilweise musste Potter neun Stunden mit dem Auto fahren, nur um einen Spieler zu scouten, da für Videoaufnahmen das Geld fehlte. Am Ende wurden alle Mühen aber belohnt: Zwischen 2011 und 2015 stieg Östersund drei Mal auf, 2016 waren Potter und Co. endlich in der höchsten schwedischen Spielklasse, der Allsvenskan, angekommen.
Schwanensee-Aufführung nach Erstliga-Aufstieg
Zur Feier des Aufstiegs inszenierten Östersunds Fußballer für ihre Fans eine Aufführung des Tschaikowsky-Balletts Schwanensee – mit Potter in einer der Hauptrollen. Das klingt zunächst merkwürdig, war für den sonderbaren schwedischen Klub damals aber Alltag.
Beim Östersunds FK spielten Kunst und Kultur nämlich schon seit 2012 eine große Rolle. Vom Verein inszenierte Rockkonzerte, Theateraufführungen, Kunstaustellung – all das war in der schwedischen Provinz Jämtland während Potters Engagement gang und gäbe. Es würde den Spielern helfen, aus sich rauszukommen, wenn sie sich als Kunstreibende beschäftigen, so die Idee dahinter. Wer nicht mitmachen wollte, musste den Klub verlassen.
Potter stand in dieser Angelegenheit zu 100 Prozent hinter der Vereinsphilosophie, auch wenn solche Kulturaktivitäten nichts sind, "was während meiner Spielerkarriere in Großbritannien vorstellbar gewesen wäre", gab er mal gegenüber "11Freunde" zu.
Zwischen Rentier-Fangen und Fußballspielen
Besonders beeindruckt hat den Briten eine Aufführung zu Ehren der indigenen Sami, während deren Vorbereitung er lernte, ein Rentier mit einem Lasso einzufangen; auch eine Gala zugunsten von Flüchtlingen bewegte Potter nachhaltig.
"Die Geschichten zu hören und die Reaktion zu sehen, wenn man vor 1.600 Menschen singt, war beeindruckend. Zu Beginn musste ich die lappländische Nationalhymne in einem lokalen Dialekt singen. Es war unglaublich nervenaufreibend, nüchtern vor den Spielern zu singen. Man kämpft wirklich mit seinen Schwachstellen, aber ich habe es geschafft, das durchzustehen", blickt er auf diese Erfahrung im "Guardian" zurück.
Mit seiner eigenen Verletzlichkeit in solchen Situationen umzugehen, sei ein "großartiger Weg, um sein Selbstbewusstsein und seine Verantwortungsgabe weiterzuentwickeln".
Auch auf dem Fußballfeld präsentierte sich Östersund äußerst kunstvoll; Potter war für kurze Zeit nur als "der Mann, der Östersund wie Barcelona spielen lässt", bekannt. Viel wichtiger als die Attraktivität des Spiels ist allerdings freilich dessen Erfolg – und dieser war zu Genüge vorhanden.
Wunderlauf in der Europa League änderte alles
Unter Potter etablierte sich Östersund auf Anhieb im oberen Mittelfeld der Allsvenskan und gewann 2017 den schwedischen Pokal – und an dieser Stelle kommt Potters Erfolgsgeschichte erst so richtig ins Rollen.
Durch den Pokalgewinn durfte Östersund in der Saison 2017/18 nämlich erstmals am Europacup teilnehmen – und die schwedischen Provinzler sorgten für viele offene Münder. Von der zweiten Runde der Europa-League-Qualifikation aus führte Potter seine hauptsächlich mit ehemaligen schwedischen Zweitliga-Kickern gespickte Mannschaft ins Sechzehntelfinale des zweithöchsten europäischen Bewerbs.
Galatasaray Istanbul, PAOK Saloniki und Hertha BSC waren nur einige der Mannschaften, die die furios aufspielenden Schweden dabei hinter sich ließen. Als Östersund in der Europa-League-Zwischenrunde schließlich auf den FC Arsenal traf und beinahe noch eine 0:3-Hinspielpleite in Form eines 2:1-Sieges im Emirates Stadium wettmachte, wurde Potter endlich auch in seiner englischen Heimat die Ehre zuteil, die ihm zustand.
Über Swansea in die Premier League
Im Sommer 2018 holte ihn ausgerechnet Swansea City zurück auf die Insel. Östersunds FK, heute in der zweiten schwedischen Liga zuhause, konnte nie mehr an die Erfolge unter seinem englischen Heilsbringer anknüpfen.
In Wales wurde Potter die schwierige Aufgabe zuteil, nach Swanseas Abstieg in die Championship den sofortigen Wiederaufstieg in die Premier League zu meistern. Daran scheiterte er schlussendlich zwar deutlich, zur Saison 2018/19 fand sich der ehemalige Universitätsfußball-Trainer allerdings dennoch in der Premier League wieder.
Knapp 3,5 Millionen Euro blätterte Brighton & Hove Albion für Potter und sein Trainerteam hin. Alle Versuche Swanseas, ihn noch länger in Wales zu behalten, scheiterten. Potter wusste: Seine Zeit in Englands höchster Spielklasse war gekommen.
In Brighton implementierte der Taktikfuchs rasch seinen offensiven Spielstil samt hohen Pressing und führte die "Seagulls" so zwei Mal in Folge komfortabel zum Klassenerhalt. In der Vorsaison konnte Brighton zu Beginn sogar um die internationalen Plätze mitspielen, ehe ein kleiner Einbruch erfolgte. Dennoch beendete das erstmals 2017 in die Premier League aufgestiegene Team die Spielzeit 2021/22 zum ersten Mal in der Klubgeschichte in der oberen Tabellenhälfte.
Ich bin ein großer Fan von Graham Potter.
Guardiola outet sich als Potter-Fan
Speziell die Art und Weise, wie sich die vergleichsweise kleinen "Seagulls" gegen die finanzstarke Konkurrenz behauptete, sorgte für Aufsehen.
"Es macht eine Riesenfreude, Brighton zuzusehen, sie zu analysieren. Allerdings bist du währenddessen auch besorgt über ihre Qualität. Ich bin ein großer Fan von Graham Potter", verriet Pep Guardiola auf einer Pressekonferenz vor einigen Monaten.
Und Bernardo, selbst zwei Jahre Spieler unter Potter bei Brighton, sagt gegenüber LAOLA1: "Auch wenn ich mir mehr Einsatzzeit gewünscht hätte, kann ich dennoch sagen, dass er ein großartiger Trainer ist. Er hat extrem viel taktisches Wissen und damit den Spielstil von Brighton massiv geändert."
"Er hat aus einem Klub, der viel über die körperliche Komponente kommt, ein Team gemacht, dass spielerische Lösungen sucht und viel über Ballbesitz kommt. Auch gegen größere Gegner. Ich denke, dass wird er mit Chelsea ebenfalls so machen", erklärt der nunmehrige Salzburger, der beim Wiedersehen mit Potter am kommenden Mittwoch aufgrund der aktuellen Verletzungsmisere der "Bullen" wohl von Beginn an auf dem Platz stehen wird, weiters.
Jetzt ist Potter der teuerste Trainer aller Zeiten
Und damit sind wir in der Gegenwart angekommen. Nachdem Potter mit Brighton einen großartigen Start in die neue Saison hinlegte und beim FC Chelsea Thomas Tuchel etwas überraschend entlassen wurde, hat der bodenständige 47-Jährige endgültig den Fußball-Olymp erreicht.
23 Millionen Euro blätterten die "Blues" laut "Times" für Potter und sein Trainerteam hin und machten ihn damit vor Julian Nagelsmann zum teuersten Fußballtrainer aller Zeiten. Die englische FA, die Potter gerne irgendwann mal als Nachfolger von Teamchef Gareth Southgate engagiert hätte, wird wohl nicht so schnell zum Zuge kommen.
Bis 2027 läuft der Vertrag Potters an der Stamford Bridge nämlich. Da er der absolute Wunschkandidat vom neuen Chelsea-Eigentümer Todd Boehly war, dürfte ihm laut englischen Medienberichten selbst bei einem Verpassen der Saisonziele wie einer erfolgreiche Champions-League-Qualifikation mehr Geduld eingeräumt werden, als vielen seiner Vorgänger.
Gegen den FC Salzburg wird Potter sein Debüt an der Chelsea-Seitenlinie geben. Noch nie waren auf den ehemaligen League-Two-Kicker, Masterstudenten, Uni-Coach, Amateur-Balletttänzer und Rentier-Fänger international so viele Augen gerichtet. Es wird spannend zu sehen, wie der stets gut gelaunte Menschenfänger damit umgehen wird.
Eines ist jedenfalls klar: Zaubern kann Potter nicht. Was der 47-Jährige aus seiner Trainerkarriere bisher gemacht hat, ist aber verdammt nahe am Magischen dran.
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