Die SSC Napoli steht vor einer Traumsaison, der erste "Scudetto" seit rund 30 Jahren ist zum Greifen nahe. Neun Runden vor Schluss haben die "Partenopei" 16 Zähler Vorsprung auf den ersten Verfolger Lazio Rom.
Erst drei Niederlagen musste die Elf von Erfolgscoach Luciano Spalletti einstecken. Die jüngste jedoch bezog man gegen niemand geringeren als die AC Milan, jenen Gegner, dem man im Viertelfinale der Champions League gegenübersteht (Mittwoch, ab 21 Uhr im LIVE-Ticker>>>).
Es war keine gewöhnliche Niederlage, wie sie selbst bei einer solchen Top-Saison wie dieser einmal vorkommen kann. Gegen die "Rossoneri" ließen die Neapolitaner alles vermissen, was sie in dieser Spielzeit bisher so auszeichnete und unterlagen auch in dieser Höhe verdient mit 0:4 (Spielbericht>>>).
Was dabei ins Auge stach, war einerseits das Fehlen des verletzten Top-Angreifers Victor Osimhen, den Giovanni Simeone nicht im Ansatz ersetzen konnte. Andererseits merkte man der SSC an, dass man das wechselhafte Milan sichtlich unterschätzt hatte.
Das darauffolgende Spiel vergangenes Wochenende gegen US Lecce konnte zwar mit 2:1 gewonnen werden, überzeugend war die Leistung der Spalletti-Elf aber auch in diesem Spiel nicht.
Es schien ganz so, als stecke Napoli der überraschend schwache Auftritt gegen Milan noch in den Gliedern.
Spalletti zittert um seine Mittelstürmer
Offensiv fand man auch in dieser Begegnung nicht zum gewohnten Spiel. Das Fehlen Osimhens war erneut augenfällig, auch Giacomo Raspadori konnte die Lücke nicht füllen.
Zwar haben er und Simeone in dieser Saison bereits mehrmals gezeigt, dass sie nicht auf Osimhens Niveau performen, jedoch lieferten sie zuverlässig ab, als der Nigerianer im Herbst bereits einmal fast fünf Wochen lang verletzt fehlte.
Im Moment plagen den voraussichtlichen Meistertrainer Luciano Spalletti aber noch viel größere Sorgen.
Denn wie nach dem Spiel gegen Lecce bekannt wurde, wird die Personaldecke im Angriff nicht nur dünn, womöglich ist sie auf der Position des Mittelstürmers gar nicht mehr vorhanden.
Wie der "Corriere dello Sport" berichtet, zog sich Giovanni Simeone gegen Lecce eine Muskelverletzung zu. Diese stellte sich bei Untersuchungen am Dienstag als schwerwiegender heraus, als zunächst angenommen. Der Argentinier dürfte rund einen Monat ausfallen.
Victor Osimhen trainierte bis inklusive Dienstag weiter individuell und macht im Aufbautraining nicht die gewünschten Fortschritte. Sein Einsatz gegen Milan scheint nicht unmöglich, wackelt aber gehörig.
Bleibt also nur noch Giacomo Raspadori. Bei ihm sieht es etwas besser aus, am Dienstag trainierte er wieder mit dem Team. Auch bei ihm wird es knapp, doch wie es scheint, dürfte er rechtzeitig fit werden.
Sollte auch er es nicht schaffen, braucht Spalletti einen Plan B. Im Training wurde daher ein solcher erarbeitet. So wurde der neue Superstar Khvicha Kvaratskhelia als falsche Neun getestet.
Im georgischen Nationalteam agierte der 22-Jährige bereits als zweiter Stürmer und wäre so die naheliegendste Alternative für den Extremfall, dass Spalletti tatsächlich auf alle seine Mittelstürmer verzichten muss.
Gute Voraussetzungen vor dem bisher wichtigsten Spiel der Saison sehen jedenfalls anders aus, was der AC Milan in die Karten spielen könnte.
Stefano Pioli offenbart sich als "Wundertüte"
Die "Rossoneri" zeigten hingegen beim ersten von drei Napoli-Duellen innerhalb von nur 16 Tagen, wie man die Erfolgstaktik von Luciano Spalletti knacken kann.
Dabei überraschte Milan-Coach Stefano Pioli seinen Gegenüber mit der Abkehr von der defensiven Dreierkette, mit der er sein Team nach der wochenlangen Krise zu Jahresbeginn zurück in die Erfolgsspur führte.
Dies gab den beiden Kreativposten Rafael Leao und dem in Hochform agierenden Brahim Diaz deutlich mehr Freiheiten und bot ihnen auf den Flügeln mehr Unterstützung durch die Außenverteidiger Davide Calabria und Theo Hernandez.
Bei Leao scheint es so, als habe er endlich seine Leichtigkeit wiedergefunden. Im Frühjahr kam der 23-Jährige bisher wenig zur Geltung, die Gespräche um einer Verlängerung seines Vertrages schienen ihm wie ein Klotz an den Beinen zu haften.
Denn hier zeichnet sich nach Lösung der Transferposse mit seinem Ex-Klub Lille endlich eine Lösung ab, diese hatte die Gespräche mit den "Rossoneri" lange zum Stillstand gebracht.
Doch nun befindet sich der Portugiese wieder in der Spiellaune der Meistersaison im Vorjahr, in dieser ist er für gegnerische Abwehrreihen kaum zu stoppen.
Auch Brahim Diaz zeigte nach langer Zeit wieder einmal, was ihn so auszeichnet. Der kleingewachsene Dribblanski spielte die Napoli-Defensive teilweise schwindlig und war beim 4:0-Sieg der auffälligste Akteur auf dem Platz.
Im jüngsten Liga-Spiel gegen Empoli kamen die Milanisti nicht über ein maues 0:0-Remis hinaus. Dabei verzichtete Coach Pioli jedoch auf sein gegen Napoli brandgefährliches Offensivtrio um Leao, Diaz und Sturm-Oldie Olivier Giroud.
Erst als er die drei Torjäger ins Spiel brachte, entwickelte die Milan-Offensive richtige Gefahr, der Aufschwung kam aber zu spät, zudem wurde ein Giroud-Treffer wegen Handspiels nicht anerkannt.
Papier ist geduldig
Auf dem Papier ist erneut die SSC Napoli der Favorit und vor dem 0:4 gegen die "Rossoneri" wäre für Beobachter ringsum alles andere beinahe schon paradox gewesen, so übermächtig präsentieren sich die "Partenopei".
Doch Papier ist geduldig, sagt ein altes Sprichwort. Zwar erlebt die AC Milan heuer ein ständiges Auf und Ab, Stefano Pioli hat aber bewiesen, dass er speziell gegen direkte Konkurrenten immer noch ein taktisches Ass im Ärmel hat.
Hinzu kommt der Heimvorteil im ausverkauften San-Siro-Stadion, wo die frenetischen Milan-Tifosi für den nötigen Rückenwind sorgen werden.
Eine klare Prognose lässt sich ob der ungewissen Ausgangslage nicht treffen. Auch Carlo Ancelotti, der bei beiden Teams bereits an der Seitenlinie stand und mit Milan zweimal die Champions League gewinnen konnte, bläst in dieses Horn.
Er erwarte ein "sehr ausgeglichenes und sehr offenes Spiel", sagt er gegenüber "Radio Uno".
Es sei "schwer zu sagen, wer der größere Favorit ist", meint Ancelotti. "Napoli hat eine fantastische Saison, Mailand ist eher auf und ab, sie kommen mit unterschiedlichen Voraussetzungen zu diesem Spiel, aber die Motivation wird die gleiche sein: das Halbfinale zu erreichen", führt er weiter aus.
Fest stehe jedenfalls, dass "keiner von den Jungs da eine große Motivationsrede braucht", weiß der aktuelle Coach von Real Madrid und David Alaba.
"Wichtig wird sein, den Spielern klare und einfache Anweisungen zu geben, auch um den Druck von außen, den sie sicher alle spüren werden, ein wenig abzumildern", spricht der Trainer-Routinier.
Spallettis Erfahrung könnte entscheidender Faktor sein
Und womöglich hat Ancelotti damit bereits den entscheidenden Faktor identifiziert: Die Frage danach, wer mit dem Druck besser umgehen kann.
Beide Teams haben noch kaum Erfahrung auf diesem Niveau und mit solchen Situationen gesammelt. Einzig auf der Trainerbank hat Napoli mit Luciano Spalletti ein Stück die Nase vorne.
"Wichtig wird sein, den Spieler klare und einfache Anweisungen zu geben, auch um den Druck von außen, den sie sicher alle spüren werden, ein wenig abzumildern."
Denn der Napoli-Übungsleiter coachte bereits 65 Partien in der Königsklasse, sein erstes in der Saison 2005/06 mit der AS Roma. Über das Viertelfinale kam aber auch er nie hinaus.
Stefano Pioli stand erst vor eineinhalb Jahren erstmals in der Champions League an der Seitenlinie, wo er mit Milan aber schon in der Gruppenphase scheitern sollte.
Heuer läuft es dagegen deutlich besser. Doch bereits der Sieg im Achtelfinale gegen Tottenham war eine Überraschung, mit der nicht zu rechnen war.
Gewiss ist nur: Einer der beiden wird erstmals in seiner Karriere in einem Champions-League-Halbfinale stehen. Am kommenden Dienstag, wenn das Rückspiel über die Bühne geht, wird feststehen, wer von den beiden Trainer-Füchsen der schlauere war.