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Kollers ungeahnte Flexibilität

Lob, Mitleid und Kritik. Eine gewisse Wendigkeit kann man Teamchef Koller plötzlich nicht absprechen:

Kollers ungeahnte Flexibilität

Not macht erfinderisch. Auch Marcel Koller.

Man weiß gar nicht, ob man den ÖFB-Teamchef derzeit loben, bemitleiden oder auch ein wenig kritisieren soll. Wahrscheinlich von allem ein bisschen.

Summa summarum ist die Flexibilität, die der Schweizer in Frankreich an den Tag legt, wahrscheinlich auch an den Tag legen muss, aber für einen Planer, Vorausdenker und nicht gerade für seine Spontanität bekannten Trainer-Typen durchaus bemerkenswert.

Personell wie taktisch gesehen.

Viereinhalb Jahre lang hat Koller an seinen Grundprinzipien gebastelt, der ÖFB-Elf eine aktive Spielphilosophie eingetrichtert, ihr damit ein Gesicht sowie Wiedererkennungswert verliehen und dabei Schritt für Schritt eine mehr oder weniger einzementierte Startelf entwickelt.

Schon im zweiten EURO-Gruppenspiel ist vorerst nur wenig davon übrig geblieben. Das ist zum einen natürlich sehr unerfreulich, die Gründe sind ohnehin bekannt und zur Genüge diskutiert: Formschwäche einiger Schlüsselkräfte, Verletzungsnachwehen, eine aktuelle Verletzung, eine Sperre. Allesamt Dinge, die bei einem Großereignis passieren können. Und beim ÖFB-Team summierten sich die Baustellen so richtig.

Zum anderen kann man Koller zugestehen, auf die Ungarn-Pleite richtig reagiert und somit vielleicht das Turnier aus rot-weiß-roter Sicht gerettet zu haben. Die Chance lebt jedenfalls.

Ich gebe zu und bin vermutlich nicht der einzige: So richtig viel anfangen kann ich mit einer destruktiven Herangehensweise wie gegen Portugal nicht – gerade, wenn man nur zu gut weiß, was dieses Team im Normalfall drauf hätte und wie sehr man ÖFB-intern besagte aktive Spielidee forciert, allen voran der Teamchef selbst.

Aber den Normalfall erleben wir gerade nicht. Das hat man spätestens gegen Ungarn brutal vor Augen geführt bekommen. Also galt es in Windeseile, sich selbst von der Vergangenheit zu lösen („Bei der EURO legen wir dann schon den Schalter auf den Qualifikations-Modus um“) und sich in gewisser Art und Weise neu zu erfinden.

Auch personell. Spieler wie Stefan Ilsanker, Sebastian Prödl, Marcel Sabitzer oder Alessandro Schöpf, als vermeintliche Backups zur EM gereist, haben bisher mehr Einsatzzeit, als man vielleicht noch vor einer Woche erwarten durfte, bekommen und haben längst Lunte gerochen, noch mehr rauszuholen.

Auch in der Dreierkette machen wir uns Gedanken über die Aufstellung:


In Mallemort kursierten dieser Tage die unterschiedlichsten Aufstellungs-Tipps für das Island-Spiel, so viele verschiedene Startelf-Varianten hat es in der Ära Koller schon sehr, sehr lange nicht mehr gegeben.

Dieser Konkurrenzkampf kann im konkreten Fall natürlich befruchtend sein, aber geplant hat Koller das alles so nicht. Das ist beinahe auszuschließen, wie alleine das Eh-wie-immer-Lineup gegen Ungarn beweist.

Nachdem seine – selbstverständlich zu befürwortende – Personalpolitik der Konstanz und des Vertrauens über einen so langen Zeitraum gut gegangen ist, fliegt sie ihm ausgerechnet bei der EURO um die Ohren, da Stammkräfte aus den verschiedensten Gründen schwächeln oder wegbrechen. Dafür gibt es das Mitleid.

Die Kritik gibt es dafür, dass der 55-Jährige die Probleme des einen oder anderen Akteurs offenkundig unterschätzt und die mentale Lage seiner Mannschaft, wie er selbst einräumen musste, nicht in den Griff bekommen hat.

Aber, und dafür gibt es das Lob, Koller hat ungeahnte Wendigkeit bewiesen. Offenbar war seine Elf nach Ungarn derart im Eck, dass es aus seiner Sicht gar nicht anders ging, als diese limitierte Brachial-Taktik-Portugal-Variante auszupacken. Mehr im Hier und Jetzt zu leben geht gar nicht.

Mit unbändigem Willen, einer leidenschaftlichen Abwehrschlacht und, wie nach der vermuteten Verschwörung der Fußball-Götter bei der Ungarn-Partie diesmal Gott sei Dank niemand im ÖFB-Lager bestritt, dem nötigen Glück ging die Rechnung auf.

Ein gemeinschaftliches Erfolgserlebnis wie dieses kann natürlich neue Kräfte freisetzen und im Rückspiegel vielleicht eine Initialzündung gewesen sein, gerade wenn man gegen Island nachlegen könnte.

Aber dies ist tendenziell schon wieder zu weit gedacht. Das „Finale“ gegen die Insel-Kicker wird ohnehin eine zähere Aufgabe, als einem lieb sein kann. Potenzielle Achtelfinal-Optionen gilt es bis Mittwoch, 20 Uhr, komplett auszublenden.

Man darf gespannt sein, ob und was sich Koller diesmal einfallen lässt. Der Vorteil dieses „Improvisations-Stils“: Das ÖFB-Team war schon einmal ausrechenbarer. Personell wie taktisch.

Bei einem Turnier, wo die Eingespieltheit angesichts des langen gemeinsamen Zusammenseins womöglich eine Spur weniger zählt als in einer Qualifikation mit ihren langen Pausen, kann dies tendenziell nicht schaden.

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