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Der falscheste Zeitpunkt

Teamchef Koller konterkariert mit der Dreierkette seine eigene Herangehensweise.

Der falscheste Zeitpunkt

Nein, Österreich ist nicht wegen eines Dreierketten-Experiments bei dieser EURO gescheitert.

Ich kann den Gedanken dieses Systems auch nachvollziehen. Das kann man gegen Island und ihr 4-4-2 schon mal machen. Zumindest in der Theorie wohlgemerkt.

In der Praxis hätte Österreich jedoch nie und nimmer – ungeprobt – mit diesem System auflaufen dürfen. Nicht in einem "Finale" wie diesem.

Es hat nicht wunschgemäß funktioniert und im Nachhinein ist es immer einfach klugzuscheißen. Völlig richtig. Es gibt auch keinen Beweis dafür, dass es vor der Pause im gewohnten System besser geklappt hätte, wenngleich die Leistungssteigerung nach dem Seitenwechsel zumindest ein Indiz dafür ist.

Das Problem ist ein anderes: Viereinhalb Jahre lang hat Marcel Koller an einer Spielanlage gefeilt, sein gewohntes 4-2-3-1 dabei maximal leicht in ein 4-1-4-1 abgewandelt, ansonsten jedoch nur kleinere Adaptionen im jeweiligen Matchplan vorgenommen (Wo wird attackiert? Wie scharf wird gepresst? etc.)

 

Dass Koller, dieser Schritt-für-Schritt-Baumeister, dieser detailverliebte Planer, dieser Großmeister der Eingespieltheit und des blinden Vertrauens, ausgerechnet im allerwichtigsten Spiel seiner Amtszeit den Hasardeur in sich entdeckt, irritiert.

Einen etwaigen Plan B, was das System betrifft, also zum Beispiel eine Dreierkette, schob er immer auf die lange Bank, weil er den Plan A perfektionieren wollte – und dies auch tat. Zumindest in der Qualifikation konnte man wenig bis gar nichts daran aussetzen.

Eine weitere Dauerbegründung gegen andere Systeme war, dass man die ja einstudieren müsste und man beim Nationalteam nicht die Zeit dafür habe.

Hier ein Auszug aus einem LAOLA1-Interview mit dem ÖFB-Teamchef nach der WM in Brasilien:

LAOLA1: Eine taktische Variante, die bei der WM wieder in Mode gekommen ist, ist die Dreierkette. Hat das Gedankenspiel, das vielleicht auch einmal zu probieren, einen gewissen Charme?

Koller: Ja, absolut. Auch das braucht natürlich Übung und Trainingsintensität. Aber mir hat gut gefallen, wie das vom einen oder anderen Team umgesetzt wurde. Da ist auch eine gewisse Flexibilität mit dabei. Du brauchst natürlich auch die Spieler dazu, gerade auf den Außenbahnen sind andere Spieler gefordert.

LAOLA1: Hätte das ÖFB-Team die nicht?

Koller: Wir hätten die sicher auch. Aber es würde natürlich im ganzen Verbund Verschiebungen geben. Das eine ist die Theorie – für Medien ist es ja auch interessant, über ein System zu diskutieren. Es ist aber viel schwieriger, das auf den Platz zu bringen und so umzusetzen, dass ich sagen kann: Ich fühle mich gut, wir können das gut, wir bringen das auf den Platz.

Was genau veranlasste Koller nun dazu, sich plötzlich vor diesem „Alles-oder-Nichts“-Spiel gut zu fühlen, dies auf den Platz bringen zu können?


So schieden wir bei der EURO aus:


Nun ist durchaus anzunehmen, dass dem Eidgenossen die Dreierketten-Idee nicht über Nacht oder beim Radfahren am Matchtag gekommen ist, sondern er nach intensivem Studium der Isländer schon vor Wochen und Monaten begann, mit dieser Variante zu spekulieren.

Deshalb vermutlich der Versuch beim 14:0 gegen Schluein. Gegen Schluein! In einem Länderspiel hat er diese Option nie geprobt.

Dass Koller, dieser Schritt-für-Schritt-Baumeister, dieser detailverliebte Planer, dieser Großmeister der Eingespieltheit und des blinden Vertrauens, ausgerechnet im allerwichtigsten Spiel seiner Amtszeit den Hasardeur in sich entdeckt, irritiert.

Nicht weil es sinnlos oder falsch gedacht wäre, sondern schlicht und ergreifend, weil es seine bewährte – und lange Zeit höchst erfolgreiche – Herangehensweise konterkariert.

Ähnliches war bereits gegen Portugal zu beobachten, wenngleich in verträglicher Dosis. Diese stumpfe Defensivtaktik musste man beileibe nicht mögen, sie ging auch nur mit Glück gut, aber sie ging gut. Von dem her war sie zu akzeptieren.

Mit seinen eigenen fußballerischen Grundwerten hatte jedoch das schon wenig zu tun, die Abkehr gegen Island war jedoch noch viel eklatanter.

Wie gezielt man die Dreierkette im Training einstudierte? Ernstzunehmende Einheiten gab es vor dem Island-Spiel deren zwei, also nur in diesen beiden?

Oder trainierte man diese Variante schon im Rahmen der Vorbereitung immer wieder? Und wenn ja, und vielleicht ein bisschen ketzerisch gedacht: Brachte man die Mannschaft damit im gewohnten System aus dem Rhythmus?

Zumindest der Überraschungseffekt ist Koller gelungen, die Isländer rechneten nicht mit dieser Aufstellung.

Mit ein wenig Mut wäre es sogar zu erraten gewesen. Schon in Schluein sagte Koller, dass wir uns überraschen lassen sollen, ob, wann und wo die Dreierkette zum Einsatz kommen wird.

Am Tag vor dem Island-Spiel gab er sich, angesprochen auf eine mögliche Dreierkette, kryptisch: „Ich kann mir viel vorstellen. Ihr kennt mich jetzt auch schon alle länger. Aber das ganze Tiefe in mir kennt ihr noch nicht. Von dem her lasst euch überraschen.“

Obwohl diese Ansage im Nachhinein weniger kryptisch war, sondern eine Ankündigung seines Vorhabens: Geglaubt hat es niemand. Warum? Weil Koller im Normalfall so berechenbar berechenbar ist.

Jetzt alles und jeden in Frage zu stellen und den über Jahre mühsam aufgebauten Status komplett kaputtzumachen, wäre die falschestmögliche Herangehensweise. Denn dass der bisherige Weg weitergegangen werden muss, steht trotz des Misserfolgs außer Frage.

Was haben wir gelernt? Im Turnier-Modus wird der Schweizer offenkundig berechenbar unberechenbar und zum wahren Pokeranten.

Natürlich könnte man argumentieren, dass er einer verunsicherten Mannschaft mit diesem System Sicherheit und Kompaktheit verleihen wollte. Aber ganz ehrlich: Verunsichert es nicht noch mehr, wenn man sich – wie gesagt: ungeprobt – im learning by doing Abläufe einstudieren muss, die im gewohnten System blind sitzen sollten.

Okay, das taten sie gegen Ungarn nicht. Völlig richtig. Aber wegen einer Partie gleich das Vertrauen in ein jahrelang bewährtes Mittel und Rezept verlieren, nachdem man selbst vier Jahre lang nichts anderes tat, als dieses Mittel und Rezept bewährt zu machen?

So sehr Flexibilität bezüglich Taktik und System zu begrüßen ist und man eine solche in Zukunft auch einfordern kann. Im konkreten Fall kam sie zum falschesten Zeitpunkt. Geht man etwa mit vier Punkten ins Spiel gegen Island – okay! Warum dann nicht den Plan durchziehen? Aber so?

Kehren wir jedoch nochmal zum Ursprungsgedanken zurück: Deswegen muss Österreich nicht die Heimreise antreten, das wäre zu billig.

Warum der Großteil seiner Spieler so derart offenkundig nicht bereit war für ein Großereignis, vor allem mental, ist die viel wichtigere Frage, die Koller in den kommenden Wochen für sich beantworten wird müssen.

Dass die ÖFB-Elf kaum Turniererfahrung hat, wusste man. Dass der 55-Jährige diesem Thema zumindest öffentlich kaum Bedeutung zumaß, ebenfalls.

Diese Turniererfahrung hat man nun, allerdings auf brutale Art und Weise als Sitzenbleiber, bei der europäischen Zentralmatura sang- und klanglos durchgefallen. Und das - diese Erkenntnis schmerzt sehr - völlig zurecht.

Gelingt der richtige Umgang mit dem Scheitern, kann es im Hinblick auf die WM 2018 sogar wertvoll gewesen sein. Jetzt alles und jeden in Frage zu stellen und den über Jahre mühsam aufgebauten Status komplett kaputtzumachen, wäre die falschestmögliche Herangehensweise. Denn dass der bisherige Weg weitergegangen werden muss, steht trotz des Misserfolgs außer Frage.

In Richtung Russland sollte ihn halt nur nicht der Teamchef höchstpersönlich genau dann unverhofft verlassen, wenn es am meisten zählt.


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