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(K)ein Spiel für die Götter: Als Griechenland die EM gewann

Vor 20 Jahren gewann Griechenland die Europameisterschaft. Über destruktiven Fußball, antiquierte Taktiken und einen Erfolg, der das alles überstrahlte.

(K)ein Spiel für die Götter: Als Griechenland die EM gewann

Angelos Basinas schaut auf und läuft zur Ecke an. Der Ball segelt von rechts zu Angelos Charisteas, der Rest ist Geschichte.

Der damals 24-Jährige kommt zum Kopfball, Ricardo Carvalho und Costinha meiden das Duell, Torhüter Ricardo segelt vorbei. In dieser 57. Spielminute geht Griechenland im Estádio da Luz gegen Gastgeber Portugal in Führung.

Stillleben: Fünf Griechen, sieben Portugiesen, ein Torschütze dreht ab
Foto: © getty

Als Schiedsrichter Dr. Markus Merk nach 95 Minuten abpfeift, sind die Griechen Europameister. Was an diesem 4. Juli 2004, vor genau 20 Jahren passierte, sollte als die größte EM-Sensation der Geschichte eingehen.

Kahn wusste: "Ihm ist alles zuzutrauen"

2004 ist ein Jahr für die Geschichtsbücher. Aus dem FC Arsenal werden die Invincibles, Werder Bremen gewinnt mit Ailton das Double, José Mourinho holt mit dem FC Porto seinen ersten Champions-League-Titel.

Bei der EURO ist das Staraufgebot groß. Zinédine Zidane, Thierry Henry, Lilian Thuram, Iker Casillas, Carles Puyol, Raúl, Gary Neville, David Beckham, Paul Scholes, Wayne Rooney, Gianluigi Buffon, Alessandro Nesta, Gennaro Gattuso, Alessandro Del Piero, Oliver Kahn, Michael Ballack, Edwin van der Sar, Giovanni van Bronckhorst, Edgar Davids, Ruud van Nistelroy. Sie alle geben sich die Ehre, sie alle werden am Ende von einer unscheinbaren Fußballnation überschattet.

In seiner ganzen Geschichte war die griechische Nationalmannschaft bis dahin für zwei Großereignisse qualifiziert: die EM 1980 und die WM 1994. In beiden Turnieren blieb Griechenland ohne Sieg. Auch in der Qualifikation für die WM 2002 in Japan und Südkorea scheiterte man krachend.

Als Otto Rehhagel im Herbst 2001 das Team übernimmt, gibt es viel zu verändern. Und fast ein Jahr lang kein Pflichtspiel. Auch der Auftakt für die EM-Quali 2004 geht mit zwei Niederlagen in die Hose. Dann aber drehen die Griechen auf, schlussendlich landen sie einen Punkt vor Spanien auf Rang eins der Gruppe 6. 

Die Erwartungen für das Turnier in Portugal sind dennoch bescheiden. Nur Oli Kahn warnte bei einer Pressekonferenz im Vorfeld vor Otto Rehhagel: "Er ist ein ganz ausgefuchster Trainer. Ihm ist alles zuzutrauen. Er wird auch wieder für die eine oder andere große Überraschung sorgen."

Dass dieser Sensationen schaffen kann, hatte er bei seiner vorherigen Station bewiesen: Mit Bundesliga-Aufsteiger Kaiserslautern holte er 1998 direkt den Titel. Wieso er nach Griechenland wechselte, verstanden die wenigsten.

(Text wird unter dem Video fortgesetzt)

Auftakt nach Maß - aber nicht für den Gastgeber

Schon im ersten Gruppenspiel bekommt Griechenland es mit dem Gastgeber zu tun, geleitet wird das Eröffnungsspiel von Schiedsrichter-Legende Pierluigi Collina.

Fußballerisch ist es eine andere Zeit. Die Trikots sind weit geschnitten, das Spiel noch lange nicht so dynamisch, bei eigenem Anstoß wird der Ball schon mal planlos nach vorne gebolzt. Schüsse aus der Distanz sind ein Mittel, das noch wesentlich häufiger eingesetzt wird.

So fällt auch das 0:1. Giorgos Karagounis zieht nach sieben Minuten aus 20 Metern unbedrängt ab, er wird später zum griechischen Rekordnationalspieler avancieren. Portugals Gegenwehr bleibt marginal, nach der Halbzeit bringt der junge Cristiano Ronaldo seinen Gegenspieler Georgios Seitaridis im Strafraum zu Fall. Basinas verwandelt vom Punkt, Ronaldo kann in der Nachspielzeit nur noch den Ehrentreffer erzielen. Es ist sein allererstes Tor im Portugal-Trikot.

Gegen Spanien werden Fans mit hellblau gefärbtem Gesicht und Loorbeerkranz auf dem Kopf von den TV-Kameras eingefangen. Ihr Team gerät in Rückstand, Fernando Morientes lässt die Verteidiger in Minute 28 aussteigen. Griechenland will aber den Punkt, Angelos Charisteas trifft durch die Beine des jungen Torhüters Iker Casillas zum 1:1-Endstand (66.).

Das abschließende Gruppenspiel gegen Russland geht zwar mit 1:2 verloren (Zisis Vryzas trifft für die Griechen), der Aufstieg in die K.o.-Phase wird aufgrund mehr erzielter Tore aber vor Spanien geschafft.

Ein Libero, Manndeckung und gute Standards brachten nicht nur Otto Rehhagel in Feierlaune
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Gegen die Russen wird erneut klar: Spielerisch ist Griechenland äußert limitiert, insbesondere nach Rückstand geht wenig bis nichts. Die logische Konsequenz: besser nicht in Rückstand geraten.

Wie aus der Zeit gefallen

Griechenlands Erfolg bei der EURO 2004 gründet sich vor allem auf einem Faktor: kompromisslose Defensivarbeit. Später sollte Rehhagel einmal sagen: "Es gibt den Spruch: Man spielt nur so gut, wie es der Gegner zulässt. Wir haben es nicht zugelassen."

Was der Trainer spielen lässt, ist auch 2004 eigentlich längst aus der Mode gekommen. Taktisch setzt er zunächst auf eine Viererkette, davor lässt er ein 1-2-2-1 spielen. De facto sind also sieben Spieler im Defensivverbund tätig, vor der Viererkette spielt noch eine Dreierkette. Basinas gibt den Vorstopper. 

Im Turnierverlauf wechselt Rehhagel dann auf eine Fünfer-Abwehr, Traianos Dellas gibt mit seinen 1,96-Metern den Libero. Er soll alles aus der Gefahrenzone befördern, was auf ihn zukommt. Kompromisslos, schnörkellos, glanzlos. Nicht umsonst versucht Griechenland, die Gegner auf die Außen zu drängen und zu Flanken zu verleiten.

"Modern ist, wer gewinnt", sagt Rehhagel dem "Stern" in einem Interview zwei Tage vor dem Finale. Und: "Im Fußball gewinnt eben nicht immer der Beste."

Frankreich die Lust verdorben

Das bewahrheitet sich etwa im Viertelfinale gegen das starbesetzte Frankreich. Die Griechen betreiben destruktiven Defensivfußball par excellence.

Mit Katsouranis und Seitaridis sind gleich zwei Mann auf Thierry Henry abgestellt – Seitaridis ist eigentlich Außenverteidiger, folgt dem Arsenal-Kicker aber auf Schritt und Tritt. Noch ungemütlicher ist das Spiel für Zinédine Zidane: um ihn kümmert sich mit Katsouranis, Karagounis und Fyssas gleich ein Trio.

Die Null halten, keine dummen Fouls zulassen. Griechenlands Aufgaben sind klar, das Spiel ist furchtbar anzusehen.

Ausnahmsweise ohne Manndecker unterwegs: Thierry Henry nach dem Schlusspfiff. Im Hintergrund jubeln die Griechen
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Frankreich kann nicht und verliert zunehmend die Lust, Henry kommt zweimal zum Kopfball, beide Male daneben. Griechenland will nicht – wie auch, mit handgezählten zwei Spielern, die offensive Akzente setzen sollen. Es ist wieder ein langer Ball, der den Griechen zum Sieg verhilft. 

So kratzt der Underdog bereits nach 15 Minuten an der Führung, nach einem Freistoß rettet Fabian Barthez im Verbund mit dem Pfosten. In Minute 65 hat er das Nachsehen: Frankreichs Defensive schläft gekonnt, Kapitän Zarogakis findet mit seiner Flanke den Kopf von Charisteas, der wuchtig zum Goldtor einschädelt.

Tschechien den Zahn gezogen

Im Semifinale trifft Griechenland auf die Tschechen. Und die haben wesentlich mehr Bock als Frankreich.

Milan Baroš, Jan Koller, Pavel Nedvêd, Tomáš Rosicky, Karel Poborsky – Tschechien ist das beste Team des Turniers. Und macht Druck. Zwei Schüsse gehen in der Anfangsphase knapp daneben, der grauhaarige Torhüter Nikopolidis hält sein Team anschließend im Spiel. Noch vor der Pause muss aber Superstar Nedvêd mit einer Knieverletzung raus.

Die Hürde war hoch, doch auch Tschechien konnte den Erfolgslauf des Underdogs nicht stoppen
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Vorstopper Angelos Basinas ist es zu verdanken, dass Griechenland zwischenzeitlich Ruhe einkehren lassen kann. Er füllt im Mittelfeld Lücken, die seine manndeckenden Kollegen nicht stopfen können, macht Passwege zu, läuft Meter um Meter – und spielt wohl das Spiel seines Lebens. Nach 70 Minuten hat er Feierabend, Rehhagel wechselt überraschend und setzt auf ein schnelles Umschaltspiel.

Der Plan geht in die Hose, ohne Basinas hat Tschechien wieder Überzahl im Mittelfeld, die Griechen retten sich aber in die Verlängerung.

Rehhagel wechselt erneut, will nun im Angriffsdrittel selbst aktiv werden – Griechenland macht Druck, Tschechien ist überrascht. In der 105. Minute kommt der großgewachsene Dellas per Kopf am kurzen Pfosten zum Ball, 1:0. Es ist das erste und einzige Tor in der Nationalteam-Karriere des fußballerisch limitierten Defensivhünen. Sekunden später ist das Spiel zu Ende. 

Die EM 2004 ist das einzige Turnier, bei dem die Silver-Goal-Regel eingesetzt wurde. Fällt in Hälfte eins der Verlängerung ein Tor, wird Hälfte zwei gar nicht mehr angepfiffen.

Ronaldos Tränen und Ottos Königswerdung

Die erste Begegnung des Turniers ist zugleich auch die letzte. Portugal zeigt sich im Endspiel im Vergleich zum Auftakt auf fünf Positionen verändert, Deco und Cristiano Ronaldo spielen von Beginn an. Die Gastgeber zeigen sich aber auch im Finale nicht bereit für den großen Triumph. Portugals goldene Generation wird ihr Talent nur versilbern können. 

Griechenland indes zeigt indes wieder den Hauch mehr Offensivdrang, versucht sein Glück nach vorne über die beiden Außenverteidiger Seitaridis und Fyssas.

Am Ende ist es eben doch der Eckball, der die Entscheidung bringen wird. Zwölf Spieler sind im Strafraum, nur fünf Griechen sind dabei – und diese sind noch weit verstreut platziert. Charisteas, Kopfball, Tor.

Ungläubige Gesichter, Rehakles mit Pokal - Griechenland schaffte die Sensation
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Theodoris Zagorakis reckt den Henri-Delauna-Pokal an diesem 4. Juli 2004 in den Lissabonner Nachthimmel, Cristiano Ronaldo weint bitterlich. Otto Rehhagel wird fortan Rehakles genannt.

Griechenland macht die Nacht zum Tag, die Hauptstadt ist in ein Fahnenmeer getaucht, Pyrotechnik wird gezündet, Raketen abgefeuert. Jahre später meint Rehhagel gegenüber "Sport1": "Man hat mir erzählt, die Piloten, die in der Nacht mit ihren Maschinen nach Athen eingeflogen sind, die haben gesagt: 'Die Stadt brennt.'"

"König Otto" war am Höhepunkt. Auch er weiß: "Das war unglaublich, was da geschehen ist."

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