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England und das Pferd, das nur so hoch springt, wie es muss

Die "Three Lions" sind minimalistisch ins Finale eingezogen. Warum die Kritik an Harry Kane unberechtigt ist und wie Gareth Southgate England verändert hat.

England und das Pferd, das nur so hoch springt, wie es muss Foto: © GEPA

"Endlich!", werden sich viele englische Fans gedacht haben, als sie im EURO-Halbfinale mit den "Three Lions" mitgefiebert haben.

Fünf Spiele hat die Mannschaft von Teamchef Gareth Southgate gebraucht, um in Fahrt aufzunehmen. Dank des späten Erfolgs über die Niederlande hat man am Sonntag gegen Spanien (21:00 Uhr im LIVE-Ticker >>>) wie schon 2021 die Chance, sich erstmals zum Europameister zu krönen.

Die Reise nach Berlin war von vielen Stolpersteinen geprägt. Auf den mageren 1:0-Auftaktsieg über Serbien folgte ein glückliches Remis gegen Dänemark und eine weitere Punkteteilung gegen Slowenien. In der K.o.-Phase angekommen, wäre das Turnier im Achtelfinale beinahe vorbei gewesen.

Gegen die Slowakei liefen die Engländer 70 Minuten lang erfolglos einem 0:1-Rückstand hinterher, ehe Jude Bellingham mit der letzten Aktion der regulären Spielzeit einen Geniestreich auspackte und das runde Leder per Fallrückzieher im Netz versenkte. Harry Kane schoss den Weltranglisten-Fünften in der Verlängerung ins Viertelfinale.

Auch dort legte das Mutterland des Fußballs keineswegs eine Glanzvorstellung hin, musste gegen die Schweiz sogar bis ins Elfmeterschießen. Dort hielten, für eine englische Mannschaft ganz untypisch, die Nerven und der Aufstieg in die Vorschlussrunde wurde sichergestellt.

Im Halbfinale wurden schließlich zumindest über eine Halbzeit hinweg die Zügel gelöst, die Niederlande trotz eines frühen Rückstands doch dominiert. Trotzdem war der Aufstieg nach 90 Minuten wieder mit etwas Glück verbunden, als Joker Ollie Watkins den Ball mit Anbruch der Nachspielzeit aus spitzem Winkel ins lange Eck beförderte.

"Es hat keinen Spaß gemacht, zuzusehen"

(Artikel wird unterhalb des Videos fortgesetzt)

"Ein Pferd springt nur so hoch, wie es muss", lautet ein bekanntes Sprichwort. Kann damit Englands bisherige EM beschrieben werden?

Geht es nach Tom Middler, lautet die Antwort: Ja. "Ich glaube schon! Sie sind in der Gruppenphase nie wirklich aus dem ersten Gang herausgekommen. Wenn man sich die österreichische Gruppe anschaut, hatte ich das Gefühl, dass sie gegen gute Mannschaften in der Anfangsphase mehr Leistung bringen würden, während bei England das Gegenteil der Fall war."

Middler ist gebürtiger Brite und lebt seit 2015 in Österreich. Über die Jahre hat er sich als Moderator von Podcasts ("The Other Bundesliga", "SweeperPod"), Kommentator von diversen Sportevents und Reporter einen Namen gemacht.

Gegenüber LAOLA1 erläutert er, warum es den Engländern bislang schwergefallen ist, spielerisch zu überzeugen. "Wenn man sich die bisherigen Spiele anschaut, scheint die englische Mannschaft wirklich so aufgestellt zu sein, dass sie den Gegner daran hindern will, Chancen zu kreieren."

Das hätte auch gut funktioniert, im Turnierverlauf wurden erst vier Gegentore - zwei davon aus Fernschüssen - kassiert. "Aber es hat keinen Spaß gemacht, zuzusehen", gibt Middler unumwunden zu.

Eine Teilschuld trägt Southgate. "Spieler wie Phil Foden spielten nicht auf ihren besten Positionen, und die Rollenverteilung zwischen Vereinsmannschaften und der Nationalmannschaft ist sehr unterschiedlich, sodass es für die besten Spieler schwer war, sich zu entfalten."

Kleine Leistungsexplosion war nicht überraschend

Im Halbfinale gegen "Oranje" folgte endlich die allerorts gewünschte Leistungsexplosion - wenn auch nur im kleinen Umfang. Middler hat erwartet, "dass es in diesem Spiel passieren würde."

Eine Rolle könnte der schnelle Treffer von Xavi Simons gespielt haben. Dieser könnte für die Mannschaft "vielleicht auch gut" gewesen sein. "Die Spieler wussten, dass sie sich gegen die Niederlande mehr auf den Angriff konzentrieren und mehr Risiko eingehen mussten, und am Ende hat das mit einer Drei-Mann-Abwehr gut funktioniert."

Southgate wich schon gegen die Schweiz vom etablierten 4-2-3-1-System ab und nahm eine Umstellung auf das 3-4-2-1 vor. Dadurch konnte etwa Phil Foden gemeinsam mit Jude Bellingham hinter Sturm-Spitze Harry Kane rücken und blüht seitdem förmlich auf.

"Der Druck und die Erwartungen der Fans sind natürlich hoch. Aber es ist schon etwas anderes, wenn jeder weiß, dass Spanien der große Favorit ist."

Tom Middler sieht England im Finale als Außenseiter

Generell präsentiert sich England in der Offensive nun variabler, geht aber weiterhin keine großen Risiken ein. Im Duell mit der Niederlande "kombinierten sie die frühere Vorsicht am Ball und ihr ballbesitzorientiertes Spiel mit der Freiheit, mehr zu schießen und mehr Chancen zu suchen", analysiert Middler und ortet "eine enorme Verbesserung für England".

Aus der Partie gegen die "Elftal" könne sicherlich "etwas Selbstvertrauen" mitgenommen werden, glaubt Middler. Den "Three Lions" könnte auch zugutekommen, im Endspiel der Außenseiter zu sein. Zumindest schiebt Middler Bellingham und Co. in diese Position.

"Der Druck und die Erwartungen der Fans sind natürlich hoch", weiß er, schließlich warten die englischen Fans seit 1966 auf einen großen Titel. "Aber es ist schon etwas anderes, wenn jeder weiß, dass Spanien der große Favorit ist."

Die "Furia Roja" konnte jedes ihrer sechs EM-Spiele für sich entscheiden, schaltete auf dem Weg nach Berlin Europameister Italien, Kroatien, Deutschland und Frankreich aus.

Dazu lässt Teamchef Luis de la Fuente den wohl attraktivsten Fußball spielen, der Mix aus routinierten Stars wie Rodri und jungen Talenten wie Wunderkind Lamine Yamal wird auch England alles abverlangen.

Lehrreiche Erfahrungen aus dem EM-Finale 2020

Doch die Truppe von Gareth Southgate kann den Vorteil der Final-"Routine" für sich beanspruchen. Zehn Spieler waren schon bei der EURO 2020 dabei, die aufgrund der Corona-Pandemie erst 2021 ausgetragen werden konnte. Die "Three Lions" erreichten das Endspiel im Londoner Wembley Stadium, das ein tragisches Ende nahm.

Foto: © getty

Italiens Leonardo Bonucci konnte die frühe englische Führung von Luke Shaw egalisieren, mit dem Stand von 1:1 geht es bis ins Elfmeterschießen. Dort konnten mit Marcus Rashford, Jadon Sancho und Bukayo Saka gleich drei Engländer ihre Versuche verwandeln, die "Squadra Azzurra" schnappte England den Pokal vor der Nase weg.

Über die drei Fehlschützen brach in den folgenden Tagen und Wochen ein rassistischer Shitstorm ein, sogar Mord-Drohungen waren in den sozialen Medien zu finden. Drei Jahre später hat nur Saka die Chance, zu einem der Helden zu werden. Rashford und Sancho wurden vom Teamchef nicht berücksichtigt.

Nichtsdestotrotz sieht Middler die gesammelten Erfahrungen als wertvolles Asset an. "Natürlich hilft ein Sieg noch mehr, aber die jüngste Erfahrung mit diesem Druck und diesem Umfeld muss hilfreich sein", betont er und meint weiter: "Spanien hat eine Kultur des Gewinnens, aber sie haben eine junge Mannschaft, die etwas weniger Erfahrung auf diesem Niveau hat. Vielleicht könnte das auch England helfen."

Kritik an Kane unberechtigt

Die Hoffnungen der Fans werden natürlich wieder auf Harry Kane ruhen.

Der Weltklasse-Stürmer wurde im Turnierverlauf von allen Seiten bereits massiv kritisiert, erzielte gegen die Niederlande aber sein drittes Tor bei dieser EM und hat damit die Chance, Torschützenkönig zu werden. Ist die Kritik an ihm daher unberechtigt?

"Harry Kane hat seine Qualität in vielerlei Hinsicht unter Beweis gestellt", bejaht Middler die Frage und begründet: "Das System war nicht so aufgebaut, wie er es am liebsten mag, aber er hat trotzdem weiter gearbeitet, und wenn sich ihm Chancen boten, hat er ein Tor erzielt. Seine Bilanz ist außergewöhnlich."

Es gebe "viele andere große Spieler in diesem Turnier, die nicht so viel geleistet haben wie er, und trotzdem wird er von Leuten kritisiert, die erwarten, dass England jedes Spiel 5:0 gewinnt. Das ist ein bisschen unrealistisch!", fordert Middler mehr Respekt für die dargebotenen Leistungen des Bayern-Angreifers ein.

"Mit einem Sieg wäre er sicherlich Sir Gareth Southgate"

Der wartet indes genauso wie Southgate noch auf seine erste Trophäe. Der 53-jährige Teamchef übernahm die "Three Lions" im September 2016 und habe England seitdem verändert, erklärt Middler.

"20 Jahre lang schied England immer im Viertelfinale aus, zeigte zu wenig Leistung und verlor im Elfmeterschießen. Er hat die Mannschaft übernommen und den Spielern wieder Spaß daran gemacht, für England zu spielen. Das Einzige, was noch fehlt, ist eine Trophäe."

Man könne darüber streiten, ob es schon bei der EURO 2020 soweit hätte sein sollen. Dann wäre die Geschichte um England ganz anders verlaufen, "wenn sie diese gewonnen hätten. Jetzt haben sie eine weitere Chance, seine Ära in England zu krönen. Mit einem Sieg wäre er sicherlich Sir Gareth Southgate!"

Glaubt Middler daran, dass der Mann aus Watford zum Ritter geschlagen wird? Beim Final-Tipp ist der Wahl-Österreicher zwiegespalten: "Das Herz sagt: 1:0 England. Der Kopf sagt: 1:0 Spanien!"


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