Die Türkei träumt von einem Kunststück wie 2008, die Niederlande vom zweiten großen Titel nach dem EM-Triumph 1988.
"Oranje" geht nach dem deutlichen Achtelfinal-Erfolg über Rumänien gestärkt ins Viertelfinal-Duell mit den Türken. Diese wollen am Samstag (21.00 Uhr/live ServusTV, RTL) in Berlin aber wie gegen Österreich aus der Rolle des Außenseiters überzeugen.
Wolfsgruß-Geste überschattet Partie
Überschattet wird die Partie von Diskussionen um den Wolfsgruß des türkischen Verteidigers Merih Demiral.
Nachdem der Vorfall auf eine politische Ebene geriet, ist die Atmosphäre erhitzt. Via soziale Netzwerke forderten türkische Ultras die Fans im Stadion zum Zeigen des Wolfsgrußes während der Nationalhymne auf. Die Polizei rüstet sich für ein "Nonplusultra-Hochrisikospiel".
Die Grauen Wölfe sind mit 18.500 Mitgliedern die größte rechtsextreme Organisation in Deutschland. Sie sind nicht verboten, werden aber vom Verfassungsschutz beobachtet. Demiral hatte gesagt, dass er mit der Geste nur ausdrücken wollte, dass er stolz sei, Türke zu sein und keine versteckte Botschaft dahinterstecke.
Die Disziplinarkammer der UEFA sperrte Demiral am Freitag jedoch für zwei Spiele. Er habe "Sportereignisse für Kundgebungen nicht-sportlicher Art genutzt und den Fußballsport in Verruf gebracht", hieß es unter anderem in der Begründung.
Teamchef Vincenzo Montella war mit der Entscheidung überhaupt nicht einverstanden. "Wir denken, dass diese Sperre unfair ist. Das war keine politische Botschaft, es wurde aber als eine solche interpretiert", sagte der Italiener.
"Aber das wird unseren Stolz nicht dämmen. Wir werden sogar noch leidenschaftlicher und stolzer sein. Wir wollen das Land stolz machen. Ich bin sicher, dass alle höchst motiviert sein werden - und das gilt auch für die Fans", erklärte Montella, mahnte aber auch kühlen Kopf ein. "Wir müssen unsere Emotionen drosseln", forderte er.
Euphorie und Unterstützung aus der Community
Im weiten Berliner Oval werden die Türken stimmungstechnisch wohl im Vorteil sein. "Berlin ist ja die größte Stadt außerhalb der Türkei mit über 200.000 türkeistämmigen Menschen, deswegen freuen sich die Leute natürlich", sagte Vorstandssprecher Safter Çinar vom Türkischen Bund in Berlin-Brandenburg (TBB).
In der großen türkischen Community in Deutschland war nach dem Sieg über Österreich Jubel angesagt.
Das Halbfinale wie 2008 ist nun das Ziel. Dann wäre auch die neuerliche Reise nach Berlin zum Endspiel möglich, hieß es.
Nicht zuletzt hat sich auch der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan für die Partie im Olympiastadion angesagt. Er wolle der Mannschaft den Rücken stärken, verbreiteten türkische Medien.
Büyükeksi: "Diese Jungs schreiben Geschichte"
Der italienische Trainer Vincenzo Montella wurde von Verbandschef Mehmet Büyükeksi als "einer von uns" bezeichnet. "Ich habe den Spielern vor dem Turnier gesagt, über 2002 (WM-Dritter, Anm.) und 2008 wurde jahrelang gesprochen. Diese Jungs schreiben Geschichte und werden dies auch weiterhin tun", sagte Büyükeksi.
Montella kann wieder auf den im Achtelfinale gesperrt gewesenen Kapitän Hakan Calhanoglu zurückgreifen. Orkan Kökcü und Ismail Yüksek fehlen jedoch nach der jeweils zweiten Gelben Karte.
Emotionales Duell: Kökcü und Kadioglu im Spannungsfeld zwischen Heimat und Herkunft
Kökcü fällt dadurch um ein Aufeinandertreffen mit seiner Heimat um. Der Mittelfeldspieler ist in Haarlem geboren und wurde bei Feyenoord ausgebildet, spielte in niederländischen Nachwuchs-Auswahlen, seit der U21 aber für die Türkei. "Es zerreißt mir das Herz", sagte Kökcü. "Ich hätte alles dafür getan, um dieses Spiel zu spielen."
Linksverteidiger Ferdi Kadioglu lief gar bis zur U21 für "Oranje" ein, ehe er zum türkischen Verband wechselte. Der 24-Jährige spielt zwar seit 2018 für Fenerbahce, spricht aber kaum türkisch. "Die Niederlande sollten auf alle Fälle Angst vor uns haben", meinte Kadioglu. "Wir sind vorne gefährlich und spielen defensiv gut. Wir sind harte Kämpfer und haben außerdem den zwölften Mann mit den Fans hinter uns."
Koeman: "Das ist unser Niveau"
Die Niederländer wurden beim 3:0 gegen Rumänien aus der Tristesse nach dem medial heftig kritisierten Auftritt gegen Österreich (2:3) gerissen. "Naar links! Naar rechts!" - die Fans hüpften auf der Tribüne ausgelassen ihren EM-Tanz. "Das ist unser Niveau", schwärmte Bondscoach Ronald Koeman. "Wenn man bei dem Niveau aber nachlässt, kommt man nicht ins Finale."
Koeman selbst war 1988 beim größten Triumph der Niederländer gegen die damalige Sowjetunion (2:0) dabei. Der 61-Jährige sieht in der aktuellen "Elftal" viel Talent. "Aber man muss dann auch etwas gewinnen", mahnte der einstige Libero.
Ein Problem der Niederländer bleibt die Chancenverwertung. Cody Gakpo und Co. ließen einige Möglichkeiten ungenutzt. "Wir werden besser", beruhigte der Liverpool-Angreifer. "Einige Puzzleteile fehlen noch, aber das wird schon."
Historische Parallelen: Niederlande und Türkei im Streben nach neuen Erinnerungen
Wie die Türkei standen auch die Niederländer zuletzt 2008 im Viertelfinale einer EM.
2000 und 2004 war jeweils im Halbfinale Endstation. Vom Turnier in Österreich und der Schweiz vor 16 Jahren habe er noch Bilder im Kopf, berichtete der 25-jährige Gakpo dieser Tage. "Wir sind jetzt hier, um unsere eigenen Erinnerungen zu schaffen."
Drei Tore hat der 1,93 m große Stürmer bei der EM angeschrieben. Er ist Spezialist für die wichtigen Momente. Sechs seiner 13 Tore im Nationaltrikot hat Gakpo bei Großereignissen erzielt. Dreimal hatte er bei der WM in Katar getroffen.