Im Spätsommer 2018 wird es zum ersten Mal dunkel im Leben des Josip Ilicic. Stockdunkel.
"Ich hatte Angst, schlafen zu gehen. Ich habe gedacht, ich würde in der Früh nicht mehr aufwachen und meine Familie nie wieder sehen", erinnerte sich der Slowene einmal an diese Episode.
Ein halbes Jahr zuvor war es seinem früheren Fiorentina-Teamkollegen Davide Astori so ergangen. Am Abend vor dem Auswärtsspiel in Udine legte er sich im Hotel schlafen, am Spieltag wachte er nicht mehr auf. Herzinfarkt mit 31 Jahren, er hinterließ eine Frau und eine zweijährige Tochter.
"Er hatte einen Nacken wie eine Melone"
Ilicic selbst kickte seit Sommer 2017 in Bergamo, hatte eine sehr ordentliche erste Saison im Atalanta-Trikot hingelegt. Doch zum Start der neuen Spielzeit muss er ins Krankenhaus, seit Tagen hat er Fieber, sein Zustand verschlechtert sich.
Es wird eine bakterielle Infektion der Lymphknoten festgestellt. Sein Trainer Gian Piero Gasperini sagte damals: "Er hatte einen Nacken wie eine Melone. Die Infektion hat uns allen Angst gemacht. Einige Menschen, die dasselbe Problem hatten, landeten im Koma."
Ilicic fürchtete um sein Leben. "Das Einzige, das ich im Kopf hatte: Überleben und bei meiner Familie sein. Es gab einen Punkt, an dem es mir schon gereicht hätte, wenn ich wie ein normaler Mensch wieder Gehen und Laufen hätte können", blickt er zurück.
JOSIP ILICIC
- Geburtsdatum: 29.1.1988 (36 Jahre)
- Nationalität: Slowenien
- Position: Offensives Mittelfeld
- Größe: 1,90 Meter
- Vereine: Bonifika Izola, Interblock Ljubljana, NK Maribor, Palermo, Fiorentina, Atalanta, Maribor
- Serie A: 339 Spiele (96 Tore, 66 Assists)
- Europacup: 61 Spiele (23 Tore, 10 Assists)
- Nationalteam: 83 Spiele (17 Tore, 17 Assists)
Der Atalanta-Profi erholt sich, er hat Glück, dass sich die Infektion nicht in seinem ganzen Körper ausbreitet, sondern auf seinen Nacken beschränkt bleibt. Mitte September steht er wieder auf dem Platz und kickt. Für ihn scheint die Sonne wieder, wenngleich diese Episode einen Schatten auf seiner Seele hinterlassen hat.
Doch zunächst läuft alles wunderbar. Ilicic ist wieder der Kicker, den man kennt. Im Sommer 2010 hatte der damalige Palermo-Coach Delio Rossi seinen Sohn Dario nach Slowenien geschickt, um das Spiel Maribor gegen Hibernian zu beobachten. Der Aufsteiger würde im Europacup auf die Sizilianer warten.
Anstatt aber mit einem detaillierten Scouting-Bericht über die beiden Teams heimzukehren, schwärmte der Junior nur von einem 22-Jährigen, den bis dahin keiner kannte: Josip Ilicic. Der offensive Mittelfeldspieler war in der Vorsaison mit Interblock in die zweite Liga abgestiegen und daraufhin nach Maribor gewechselt.
In den Duellen mit den Slowenen stieg Palermo zwar auf, aber Ilicic erzielte ein Tor und überzeugte Sportchef Walter Sabatini restlos. 2,3 Millionen Euro kassierte Maribor für den Youngster, den es Wochen zuvor selbst erst um läppische 80.000 Euro verpflichtet hatte. Jackpot.
Über Sizilien und die Toskana nach Bergamo
Ilicic war eines der funkelnden Sternchen am Himmel der Serie A. 107 Spiele inklusive 25 Toren und 19 Assists absolvierte er für Palermo, ehe er drei Jahre später für neun Millionen Euro nach Florenz wechselte.
In den vier Saisonen in der Toskana überzeugte er mit 37 Toren und 18 Assists in 137 Pflichtspielen. Als er im Sommer 2017 schon am Weg zum Medizincheck nach Genua war, um sich der Sampdoria anzuschließen, schnappte sein Ex-Palermo-Coach Gasperini im letzten Moment zu. 6,4 Millionen Euro für die Fiorentina, Ilicic für Atalanta.
An guten Tagen war der Mittelfeldspieler einer der besten Kicker der Serie A, an schlechten Tagen musste man sich am Ende des Spiels erst versichern, ob er tatsächlich am Platz gestanden war. Licht und Schatten.
"Wenn er geglänzt hat, ich erinnere mich an dieses Spiel gegen Valencia, hätte er den Ballon d’Or verdient."
"Wir sprechen hier über ein riesiges Talent, aber er ist ein sehr fauler Spieler. Er glaubt, er muss nicht viel trainieren, um am Sonntag gut zu spielen", sagte Trainer Delio Rossi einmal über ihn.
In der Saison 2019/20 gelingt es Ilicic scheinbar, sein Potenzial voll auszuschöpfen. 15 Tore und acht Assists in der Liga, fünf Tore und eine Vorlage in der Champions League.
Ein Hattrick gegen Torino, Doppelpacks gegen Milan, Parma und Udinese sowie ein legendärer Quattropack beim 4:3-Sieg in Valencia in der Königsklasse – Ilicic ist endlich der Unterschiedsspieler, der immer in ihm gesteckt hatte. "Wenn er geglänzt hat, ich erinnere mich an dieses Spiel gegen Valencia, hätte er den Ballon d’Or verdient", sagte Trainer Gasperini einmal. Die Sonne scheint heller als je zuvor.
Die Todesangst ist wieder da
Doch der Himmel verdunkelt sich schlagartig. Das Coronavirus kommt in Europa an und trifft Bergamo besonders hart. Die norditalienische Stadt wird das erste Epizentrum der Pandemie.
Ilicic wurde Ende der 1980er-Jahre in eine kroatische Familie in Bosnien-Herzegowina geboren, damals noch Jugoslawien. Sein Vater wurde ermordet, als er ein Baby war, seine Mutter übersiedelte daraufhin mit dem kleinen Josip und dessen Bruder nach Slowenien.
Die Sirenen, die Militär-Fahrzeuge, die die Särge wegschaffen – die Situation in Bergamo im Frühjahr 2020 triggert Ilicics Erinnerungen an die Gräuel des Bürgerkriegs in seiner Heimat. Und dann erkrankt er auch noch an Covid. Die Todesangst ist wieder da.
Später erinnerte sich Coach Gasperini in einem Interview unter Tränen an diese Zeit: "Er hatte Symptome, es ging ihm gar nicht gut. Er zog sich in seine eigene Welt zurück, war isoliert und alles wurde schlimmer und schlimmer. Es war der Beginn von etwas, das viel stärker war als das Virus. Es war eine Kombination aus mehreren Dingen."
"Er hielt es nicht aus, von seiner Familie getrennt zu sein. Da hat alles begonnen. Wir waren immer in seiner Nähe, sind immer zu ihm gestanden, aber er hatte ein ernsthaftes Problem", so Gasperini. Die Welt des Josip Ilicic ist tiefschwarz.
Teilweise wird er sogar stationär behandelt. Im August 2020 besucht ihn Gasperini im Krankenhaus. "Ich bin hin, um ihn zu sehen. Er hatte zehn bis zwölf Kilo verloren. Ich habe ihn wie eine Puppe gehalten und zu ihm gesagt: 'Komm schon, Josip, komm mit uns.'"
Im Herbst 2020 lichten sich die Wolken, Ilicic kommt zurück, macht seine Spiele, seine Tore, seine Assists. Es hatte den Anschein, als ob die Welt wieder in Ordnung wäre. Ist sie aber nicht. Im Herbst 2021 ist der Slowene meist nur noch ein Schatten seiner selbst, mit Jahreswechsel 2022 ist an Fußball nicht mehr zu denken. Wieder Depressionen, wieder alles dunkel.
"Er hat uns mit seiner Magie auf dem Feld zum Träumen gebracht, und uns mit einer Sensibilität und Menschlichkeit abseits davon bewegt."
Der Kicker kann sich kaum mehr zu Trainings aufraffen, im Sommer lösten Ilicic und Atalanta einvernehmlich den Vertrag auf. "Er ist ein sehr normaler, positiver Mensch, aber das Innere unseres Geistes ist wie ein Dschungel", sagte Gasperini.
Atalanta verabschiedet ihn mit bewegenden Worten: "Er hat uns mit seiner Magie auf dem Feld zum Träumen gebracht, und uns mit einer Sensibilität und Menschlichkeit abseits davon bewegt."
Ilicic kehrt in seine Heimat zu NK Maribor zurück. Es ist die gefeierte Rückkehr eines Helden. Doch dieser ist nur ein Schatten seiner selbst. Der Superstar ist körperlich weit weg vom Profisport.
Wiedergeburt unter Simundza
Schon bald hat Maribor-Coach Damir Krznar keine Verwendung mehr für ihn, lässt ihn alleine trainieren. Die Dunkelheit rückt wieder an. Doch am Horizont wartet schon wieder ein Silberstreif auf Ilicic.
Ante Simundza übernimmt als Maribor-Coach, die beiden kennen sich aus Ilicics erster, kurzer Zeit beim Klub. Der Mittelfeldspieler spielt regelmäßig, bringt seine Leistungen, darf sogar die Kapitänsbinde tragen. Die Sonne scheint.
"Der Kopf ist das Wichtigste von allem, im Fußball und im Leben. Wer es im Kopf kann, der kann es auch mit den Füßen", sagt Ilicic.
Es sind die kleinen Momente, die große Bedeutung haben. Als Atalanta Ende Oktober 2023 in der Europa League beim SK Sturm gastiert, machen zwei vollbesetzte Fanbusse aus Bergamo einen Abstecher nach Maribor.
120 Fans überraschen Ilicic in seiner Heimat. Gesänge, Umarmungen, ganz viel Liebe. Ein sichtlich bewegter Profifußballer stellt fest, dass er in Italien längst nicht vergessen ist. Die Atalanta-Fans überreichen ihm das Spruchband, mit dem er einst aus Bergamo verabschiedet worden war.
Im Juni 2024 steht Ilicic erstmals seit November 2021 wieder im Kader des slowenischen Nationalteams, wird gegen Armenien eingewechselt und erzielt nur vier Minuten später das Siegtor zum 2:1.
"Jojo" fährt zur EURO 2024
"Jojo", wie sie ihn in seiner Heimat nennen, ist zurück. Dass ihn Teamchef Matjaz Kek dann tatsächlich in den Kader für die EURO 2024 nominiert, sorgt mitunter für Diskussionen. Legende Zlatko Zahovic äußert sich kritisch: "Ich war überrascht. Er hatte nichts mit der Qualifikation zu tun."
Keks Replik: "Es geht nicht um Errungenschaften in der Vergangenheit. Slowenien kann es sich nicht leisten, Spieler auszuschließen, die spielen können und wollen." Dass Ilicic mit der Nummer 26 die letztmögliche aller Kaderspieler wählt, wird gemeinhin als Zeichen gesehen, dass er sich unterordnet, keine Ansprüche stellt.
Er sei wie der große Bruder für viele Spieler, sagt der 36-Jährige. "Ich weiß sehr gut, wo ich in meiner Karriere stehe. Ich erteile Ratschläge und helfe meinen Kollegen, zu wachsen", beschreibt er seine Rolle.
Im letzten Gruppenspiel gegen England wird der Routinier eingewechselt. Noch am Feld gratuliert ihm Arsenal-Profi Declan Rice zu seiner Rückkehr. Das Licht, es ist wieder da.
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