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"Rote Teufel" erfinden sich unter Domenico Tedesco neu

Das Debakel bei der WM 2022 hat im belgischen Fußball seine Spuren hinterlassen, aber Platz für einen Neuanfang geschaffen. Tedesco ist dessen zentrale Figur.

Foto: © getty

Ob Domenico Tedesco den belgischen Fußball nur aus dem Dornröschenschlaf geküsst oder mit einem Defibrilator zurück ins Leben geschockt hat, ist im Land von Pommes Frites, Tim und Struppi und 2.400 Tonnen schweren Darstellungen von Eisenmolekülen eigentlich jedem egal. Den "Roten Teufeln" scheint nach der Debakel-WM in Katar aber ein Neustart geglückt zu sein.

Sechs Tore, zwei Siege. Die Bilanz der Belgier im Jahr 2023 liest sich gut. Einem überzeugenden 3:0-Sieg über Schweden samt Lukaku-Hattrick folgte ein 3:2-Achtungserfolg in einem Freundschaftsspiel über Deutschland. Es war der erste Erfolg gegen eine DFB-Auswahl seit 1954.

Dass sich die Belgier, die bei der WM 2018 noch Dritter wurden, so schnell vom Tiefschlag im Nahen Osten erholen würden, war so nicht abzusehen. 

Nicht mehr "golden" - "La génération perdue"

Nach dem Gruppenphasen-Aus in Katar herrschte in Belgien eine ungesunde Mischung aus Tristesse und Nostalgie. Der ersehnte erste Titel bei einem großen Turnier schien in unerreichbare Ferne gerückt.

Die Presse teilte gegen Teamchef Roberto Martinez und seine Schützlinge kräftig aus. "La Capitale" machte aus der "goldenen Generation" die "génération perdue", zu Deutsch: Die verlorene Generation. "Le Soir", die größte Tageszeitung des Landes, verkündete gleich deren Ende (der "goldenen Generation", Anm.) und bilanzierte die WM als einen "Schlag ins Wasser".

Personelle Konsequenzen wurden gefordert und folgten, peu á peu. Teamchef Roberto Martinez nahm seinen Hut, Kapitän Eden Hazard gab seinen Rücktritt bekannt. Weitere sollten folgen: Auch Abwehrchef Toby Alderweireld (ehemals Tottenham Hotspur) und Mittelfeldspieler Axel Witsel (Atletico Madrid) verabschiedeten sich in den Folgewochen vom Nationalteam.

Dass Jubelstürme und ein neues Selbstwertgefühl im 12-Millionen-Einwohner-Land wieder so schnell Einzug halten konnten, ist besonders einem Mann zu verdanken: Domenico Tedesco. Der Deutsche steht für offensiven Fußball, hat endlich den lange gefürchteten Umbruch ohne große spielerische Einbußen über die Bühne gebracht und zieht Fans und Experten auf seine Seite.

Belgien unterzieht sich Verjüngungskur

"Wir haben keine Chance, wir sind zu alt", sagte Kevin de Bruyne bei der WM in Katar und sollte recht behalten. Der Umbruch, der der "goldenen Generation" bevorstand, wurde von Ex-Trainer Martinez so lange aufgeschoben, bis es am Ende seiner Amtszeit für ihn zu spät war.

Tedesco gelang eine Fusion der Jungstars mit den Routiniers, die bisher harmoniert. Beide mannschaftsinternen Lager können dabei von Tedescos Know-How profitieren. "Wir haben viele junge Spieler, aber alle lernen viel vom neuen Trainer", sagte Yannick Carrasco (Atletico Madrid).

Was Tedesco in wenigen Monaten gelang, kann am besten mit Zahlen verdeutlicht werden. 31,36 Jahre alt war die letzte Startelf, die Martinez bei der WM aufbot. Tedesco setzte auf Verjüngungskur. Bei seinem Debüt war die Startelf schon um fast vier Jahre verjüngt worden (27,81). Der Kader, der am 17. Juni gegen Österreich bestehen soll, ist noch jünger (25,96), obwohl die meisten Talente, die den Altersschnitt noch einmal gehörig senken würden, bei der U21-EURO gefordert sind.

"Wenn alle Spieler auf dem richtigen Platz eingesetzt werden, kommt die Qualität von alleine. Man sieht, dass uns die jungen Spieler neue Energie geben. Sie kommen zu uns mit dem Gefühl, Chancen zu bekommen."

Kevin De Bruyne

Natürlich, auf gewisse Personalien kann auch Tedesco in seinem System nicht verzichten. Thibaut Courtois (31), Kevin De Bruyne (31) und Romelu Lukaku (30) sind beim Neo-Coach, sofern fit, gesetzt. Im Mittelfeld und in der Verteidigung wird aber dennoch fleißig umgekrempelt.

De Bruyne: Junge Spieler "geben uns neue Energie"

Jan Vertonghen (36), Thomas Meunier (31) und Toby Alderweireld (34) werden in der Abwehr nach und nach durch Arthur Theate (Stade Rennes), Wout Faes (Leicester City) und Zeno Debast (Anderlecht) ersetzt. Im Mittelfeld haben Thorgan Hazard (30), Dries Mertens (36) oder Hans Vanaken (30) gegenüber jungen Talente wie Amadou Onana (Everton), Romeo Lavia (Southampton), Charles de Ketelaere oder Alexis Saelemaekers (beide Milan) das Nachsehen.

Auch im Angriff bekommt der zuletzt wiedererstarkte Romelu Lukaku langsam Konkurrenz. Lois Openda, Teamkollege von ÖFB-Legionär Kevin Danso bei RC Lens, schoss in dieser Saison 21 Tore in der französischen Meisterschaft (20 davon aus dem Spiel heraus!) und wird auf Dauer schwer zu übergehen sein.

"Wenn alle Spieler auf dem richtigen Platz eingesetzt werden, kommt die Qualität von alleine. Man sieht, dass uns die jungen Spieler neue Energie geben. Sie kommen zu uns mit dem Gefühl, Chancen zu bekommen", sagte Neo-Kapitän Kevin De Bruyne, der die Binde von Eden Hazard übernahm, gegen Österreich allerdings verletzt passen muss.

Tedesco: Inkarnation des "Laptop-Trainers"

Tedesco bewies bereits in Leipziger und Schalker Zeiten seine taktische Flexibilität und sei "Anhänger von hohem Pressing und einem Spiel, das sich nach vorne orientiert", schrieb Belgiens öffentlich-rechtlicher Rundfunk "RTBF".

Der Deutsche sei zudem eine Inkarnation des neuen Trainertyps des digitalisierten 21. Jahrhunderts. Des "Laptop-Trainers". Als "Daten-Freak" wird Tedesco in belgischen Medien gerne dargestellt.

"Natürlich nutze ich Daten, aber ich gehe nicht mit meinem Computer ins Bett", verteidigte sich Tedesco. Der Fußball sei schließlich "menschlich" und folglich auch vor Fehlern nicht gefeit. Im Kopf der Spieler werden Spiele entschieden, Sportpsychologie hat im Fußball längst einen hohen Stellenwert. Das weiß auch der Deutsche.

"Tedesco setzt seine Gegner gerne mit hohem Pressing unter Druck, das ist eine ganz andere spielerische Ausrichtung als noch unter Roberto Martinez."

Arsenals Leandro Trossard

Eine klare "Tedesco-Taktik" gibt es in der Form aber nicht. Welcher Fußball gespielt werden kann, sei schließlich vom Spielermaterial abhängig. "Was du dich fragen musst, ist: Was will deine Mannschaft? Was sagen dir die Spieler?" Erst dann könne ein Trainer auf ein Team einwirken und langsam seine "Handschrift entwickeln", sagte Tedesco kurz nach seinem Amtsantritt am 8. Februar. Auch mit den "Roten Teufeln" sei der Deutsche noch in einer solchen Findungsphase.

"Das ist noch nicht die Art Fußball, die ich im Kopf hatte", sagte Tedesco nach seinem ersten Lehrgang, der, objektiv betrachtet, nicht viel besser hätte laufen können.

Aggressives Pressing imponiert Stars

Bei den Führungsspielern kommt die neue taktische Ausrichtung gut an. Kapitän De Bruyne gefällt besonders das "neue System" Belgiens, durch das "wir mehr Druck ausüben und den Ball schneller erobern". "Tedesco setzt seine Gegner gerne mit hohem Pressing unter Druck, das ist eine ganz andere spielerische Ausrichtung als noch unter Roberto Martinez", zieht Arsenal-Legionär Leandro Trossard auch einen Vergleich mit dem Ex-Teamchef.

Auch ÖFB-Teamchef Ralf Rangnick und Tedesco verbindet trotz gemeinsamer Red-Bull-Vergangenheit wohl weniger, als so mancher annehmen würde. "Es ist auf jeden Fall irgendwo ein anderer Ansatz", sagte Konrad Laimer über Tedescos Spielsystem. Dem Deutschen wird gar nachgesagt, eine Spur zu weit von der eigentlichen Idee des Red-Bull-Fußballs abgerückt zu sein. Ob er deswegen gar die Antithese zu Rangnick sei? So sehen es Konrad Laimer und Xaver Schlager.

Beide Deutschland-Legionäre bekräftigten aber aus eigener Erfahrung, dass Pressing beim Deutschen ganz groß geschrieben wird.

Das bekam auch Deutschland beim Freundschaftsspiel im März zu spüren. Die DFB-Elf bekam in der Anfangsphase überhaupt keine Kontrolle über das aggressive Pressing der Belgier, die nach neun Minuten bereits 2:0 führten und Chancen auf eine höhere Führung ausließen.

Tedesco hat aus Martinez' Fehlern gelernt

Die Fehler seines Vorgängers Roberto Martinez darf Tedesco nicht machen. Bisher grenzt er sich scharf vom Spanier ab. Leistung ist wieder die bestimmende Determinante für Einsätze im Nationalteam. Spielt ein Spieler im Verein nicht, wird er nicht berücksichtigt - Vergangenes nimmt keinen Einfluss auf das Jetzt.

Dass etwa Eden Hazard bis zu seinem Rücktritt nach der WM Kapitän des Nationalteams blieb, war für viele unverständlich. Schließlich spielte der Linksaußen bei Real Madrid schon jahrelang keine Rolle mehr, Martinez gab dem Routinier aber dennoch stets den Vortritt vor formstärkeren Spielern wie Arsenal-Legionär Leandro Trossard. Auch das Festhalten an einer Solospitze trotz Problemen in der Offensive war ein Konfliktherd, denn mit Lois Openda wäre eine geeignete Option schon während der Ära Martinez bereitgestanden.

"Probieren wir doch einmal etwas anderes. Aber Martinez hat schon immer Vetternwirtschaft betrieben", ärgerte sich Marc Delire, ein belgischer Fernsehmoderator, live auf Sendung während der WM und brachte damit die zwei großen Kritikpunkte klar heraus. Spielerischer Stillstand und das Festhalten an den gleichen, alternden Spielern.

Teile der "goldenen Generation" unter Tedesco außen vor

Tedesco stellte sich schon bei seiner ersten Kaderbekanntgabe gegen solche Praktiken. Zahlreiche Leistungsträger der Vergangenheit und Helden der "goldenen Generation" wurden nicht einberufen. So verzichtete Tedesco etwa auf Axel Witsel oder Dries Mertens, auch Thorgan Hazard spielt wohl keine Rolle mehr. Ein wichtiger Schritt, um der belgischen Öffentlichkeit das Gefühl zu geben, dass sich etwas geändert hat.

Klar ist aber, dass Tedesco an Titeln gemessen werden wird. Auch Martinez war erst zur persona non grata geworden, als diese ausblieben. Sechs Jahre war der Spanier Teamchef (2016-2022), Platz drei bei der WM 2018 war das Höchste der Gefühle. Trotzdem: Mit durchschnittlich 2,29 Punkten pro Spiel war Martinez auf dem Papier de facto bester Belgien-Trainer in der Historie der 1895 gegründeten Royal Belgian Football Association.

Nächste Goldene Generation ante portas?

Der Tristesse nach dem WM-Aus in Katar ist in Belgien ein gesunder Zweckoptimismus gewichen. Zumindest bis zur EM 2024 bzw. WM 2026 werden De Bruyne, Courtois, Lukaku und Co. den Youngsters noch zur Seite stehen können, danach sollen diese im Idealfall genauso erfolgreich sein.

Wie gut es um den belgischen Nachwuchs steht, wird man bei der U21 Europameisterschaft in Georgien und Rumänien (21. Juni bis 8. Juli) sehen. Dort werden neben Salzburgs Ignace van der Brempt zahlreiche Zukunftsversprechen wie Charles de Ketelaere (Milan), Eliot Matazo (Monaco), Aster Vranckx (Milan) oder Zeno Debast (Anderlecht) auf dem Platz stehen.

Glück für Österreich ist, dass die aufstrebende neue Generation somit nicht für das A-Team abgestellt werden kann. Der Kader der Belgier ist aber auch ohne sie und Champions-League-Sieger Kevin De Bruyne, der wegen einer Muskelverletzung passen muss, starbesetzt.

Ersthelfer Tedesco hat das Kardiogramm des kleinen Fußball-Riesen wieder in eine stabile Lage gebracht. "La Derniere Heure" sprach bei den beiden Spielen im März von "historischen Siegen" und "frischer Luft im Nationalteam". "Le Soir", das den belgischen Fußball Monate zuvor totgesagt hatte, ortete angesichts der jüngsten Vorstellungen ein "Versprechen für die Zukunft".


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