Der deutsche Fußball steckt in einer der größten Krisen seiner Geschichte.
Der Verband sorgt am Sonntag für ein absolutes Novum. Der elfte Bundestrainer Hansi Flick wird als erster in der 123-jährigen DFB-Geschichte entlassen (alle Infos >>>). Seine zehn Vorgänger verabschiedeten sich allesamt mit einem Rücktritt.
Mit 24 Spielen durfte in der gesamten Historie nur Erich Ribbeck zwischen 1998 und 2000 weniger Spiele wie Flick (25) betreuen.
Ribbeck ist auch jener Trainer, welcher als einziger einen niedrigeren Punkteschnitt (1,50) als der scheidende Bundestrainer (1,72) vorweisen kann.
Flick wollte weitermachen, ortete Qualitätsproblem
Kann also Hansi Flick alleine die Schuld für die aktuelle Krise der Herren-Nationalmannschaft zugeschrieben werden?
So einfach ist die Sache nicht. Bereits unter seinem Vorgänger Joachim Löw lief es nach dem WM-Titel 2014 am Ende nicht mehr nach Wunsch.
"Wir diskutieren immer über Konzepte, über das was im Kinderfußball passiert, was in der Ausbildung passiert. (...) Wir brauchen mehr Dribbler, mehr Leroy Sanes, mehr Florian Wirtz', mehr Jamal Musialas. Das sind die Dinge, die enorm wichtig sind. Da müssen wir schleunigst anfangen"
Bei der WM 2018 scheiterte die Mannschaft in der Gruppenphase, bei der Europameisterschaft 2021 war im Achtelfinale Schluss.
Geht es nach Hansi Flick, findet sich in der deutschen Fußball-Ausbildung der vergangenen Jahre ein Qualitätsproblem wieder.
"Wir diskutieren immer über Konzepte, über das was im Kinderfußball passiert, was in der Ausbildung passiert. Ich will da keine Ausreden finden, aber ich glaube, dass wir gesehen habe, dass Japan den Fußball sehr akribisch entwickelt hat. Da ist jeder einzelne Spieler einfach gut ausgebildet. Wir brauchen mehr Dribbler, mehr Leroy Sanes, mehr Florian Wirtz', mehr Jamal Musialas. Das sind die Dinge, die enorm wichtig sind. Da müssen wir schleunigst anfangen", stellt er gestern nach dem Spiel die deutsche Nachwuchsarbeit der vergangenen Jahre an den Pranger.
"Vielleicht denken wir auch, dass wir besser sind, als wir eigentlich sind", pflichtete ihm der vor dem Japan-Spiel von Flick ernannte Neo-Kapitän Ilkay Gündogan gegenüber "RTL" bei.
Flick zeigte sich gestern noch überzeugt weitermachen zu dürfen. "Wir bereiten die Mannschaft gut vor. Wir sind davon überzeugt von dem, was wir machen, deshalb geht es auch so weiter für mich", nahm er sich aus der Verantwortung.
Entscheidung "unumgänglich"
Die Verantwortlichen entschieden am Sonntag aber anders. Nach Vorschlag von DFB-Präsident Neuendorfer wurden Hansi Flick und seine beiden Co-Trainer Marcus Sorg und Danny Röhl beurlaubt.
"Die Gremien waren sich einig, dass die A-Nationalmannschaft der Männer nach den zuletzt enttäuschenden Ergebnissen einen neuen Impuls benötigt", bestätigt Neuendorfer, das Vertrauen in einen Turn-Around von Hansi Flick verloren zu haben.
Eine Entscheidung war für den Präsidenten "unumgänglich". "Der sportliche Erfolg hat für den DFB aber oberste Priorität", vermeldet er.
Im Rahmen einer Neuorientierung hätte Rudi Völler nach dem WM-Aus 2022 im Februar als neuer DFB-Sportdirektor für Schwung sorgen sollen.
"Hansi Flick hat gemeinsam mit seinem Trainerteam alles gegeben, um nach dem Ausscheiden bei der WM in Katar die Wende zum Positiven zu schaffen. Leider müssen wir heute feststellen, dass es nicht gelungen ist. Das Japan-Spiel hat uns klar gezeigt, dass wir in dieser Konstellation nicht mehr weiterkommen", findet dieser klare Worte.
"Wir müssen etwas verändern, um bei der Europameisterschaft im eigenen Land die anspruchsvolle und ambitionierte Gastgeber-Rolle spielen zu können, die wir uns alle erhoffen. Das ist es, was die Fans in Deutschland zu Recht von uns erwarten"
Für diese Entscheidung gibt es auch Zustimmung von "Sky"-Experte Didi Hamann: "Die Trennung von Flick war überfällig. Es wäre von der DFB-Führung verantwortungslos gewesen, in dieser Konstellation weiterzumachen".
Völler übernimmt in Dreier-Gespann
Am Dienstag gegen Frankreich sitzt Völler interimsweise mit Hannes Wolf und Sandro Wagner als Cheftrainer auf der Bank.
"Jetzt müssen wir verantwortlich handeln, müssen wir etwas verändern, um bei der Europameisterschaft im eigenen Land die anspruchsvolle und ambitionierte Gastgeber-Rolle spielen zu können, die wir uns alle erhoffen. Das ist es, was die Fans in Deutschland zu Recht von uns erwarten", gibt der Sportdirektor die weitere Richtung vor.
Nach seinem Interimsposten wartet für Völler eine deutlich wichtigere Aufgabe, er muss gemeinsam mit den weiteren Verantwortlichen des DFBs einen neuen Bundestrainer ernennen, und das gerade einmal neun Monate vor der Heim-EM.
Suche nach Nachfolger läuft
"Die dringlichste Aufgabe wird es danach sein, einen Bundestrainer zu verpflichten, der kurzfristig unsere Mannschaft neu ausrichtet und auf das große EM-Turnier im kommenden Jahr vorbereitet, von dem wir alle uns für den deutschen Fußball und auch für unser ganzes Land positive Impulse erhoffen. Einen Bundestrainer, der dann langfristig die Nationalmannschaft wieder auf das Niveau hebt, dass man von ihr kennt und auch erwartet" glaubt er an einen Verbesserung durch einen Trainerwechsel.
Doch wer tut sich diese Aufgabe an? Als Top-Kandidat wird von nahezu allen deutschen Medien Ex-Bayern-Coach Julian Nagelsmann ins Spiel gebracht. Dieser folgte Flick bereits beim deutschen Rekordmeister nach.
Das Problem: Nagelsmann steht nach seiner Freistellung noch beim deutschen Rekordmeister unter Vertrag, die Münchner dürften eine höhere Ablöse fordern. Es ist fraglich, ob der DFB einen Preis im ein- bis zweistelligen Millionen-Bereich abrufen kann und will.
Die Frage ist auch, ob sicher der junge Coach diesen Job antut, die Erwartungen im eigenen Land sind vor der Heim-EM trotz ausbaufähigem Kader enorm.
Ein weiterer Kandidat ist der "Bild" zufolge der Österreicher Oliver Glasner, er sorgte 2022 in Deutschland für Furore als er mit Eintracht Frankfurt die Europa League nach Hessen holte.
"Sky"-Experte Didi Hamann wünscht sich einen erfahreneren Mann: "Wir brauchen nun jemanden mit Autorität, Erfahrung und Rückgrat. Ich würde daher alles daransetzen, Felix Magath oder Matthias Sammer zum DFB zu holen."
Nur acht Monate Zeit das Team auf die EM vorzubereiten
Zweiterer sitzt selbst in der Krisen-Task-Force des DFBs. Seit seiner Job 2005 beim VFB Stuttgart hatte er allerdings keinen Trainer-Posten mehr inne.
Magath hingegen konnte in seiner Karriere immer wieder aufzeigen, zum Beispiel führte er 2008/09 überraschend VFL Wolfsburg zum Meistertitel in deutschen Bundesliga. Zuletzt rettete er 2022 kurzfristig die Hertha BSC vor dem Abstieg.
Dem neuen Bundestrainer bleiben ab der nächsten Länderspielpause nur acht Monate um die Mannschaft auf das Turnier vorzubereiten.
Ob der gewünschte Effekt eintritt, lässt sich wohl frühestens nach der Europameisterschaft herausstellen. Vielleicht hat Deutschland auch, wie es Hansi Flick sagte, einfach nur ein Qualitätsproblem.