Denkt man an kanadische Fußballer, musste man einst lange grübeln, ehe einem ein bekannter Name einfiel.
Paul Stalteri, 2004 deutscher Meister mit Bremen und später bei Tottenham, war einer der Vorreiter. So richtig von sich reden machte aber erst in den letzten Jahren "Flügel-Rakete" Alphonso Davies bei Bayern München.
Ein wenig in seinem Schatten steht der gleichaltrige Jonathan David, der aber in den letzten 12 Monaten immer mehr zu einer großen Nummer wurde.
Der 24-Jährige von LOSC Lille, am Donnerstag Kontrahent von Sturm Graz im Conference-League-Achtelfinale, fliegt in unseren Breiten noch ein wenig unter dem Radar. In seiner Heimat sowie in Frankreich ist er aber längst in aller Munde.
Für seinen Klub erzielte der Angreifer in 169 Spielen 75 Tore, zählte in den letzten beiden Jahren zu den Top-Goalgettern der Ligue 1.
"Die kanadische Perle", wie er in seiner Heimat genannt wird, hat eine bewegte Lebensgeschichte mit vielen sportlichen Höhen, großen menschlichen Gesten und prägenden Schicksalsschlägen hinter sich.
Ersteres macht ihn zum Objekt der Begierde zahlreicher Top-Klubs, Zweiteres zum Liebling der Fans und letzteres zum nahbaren Sympathieträger.
LAOLA1 stellt euch den Star von Sturms Europacup-Gegner näher vor.
Zwischen New York, Haiti und Ottawa
Es war ein bewölkter Tag in Brooklyn, New York, als Jonathan Christian David am 14. Jänner 2000 das Licht der Welt erblickte. Seine Eltern, allen voran Mama Rose, konnten damals noch nicht ahnen, wie stolz er sie später einmal machen sollte.
Auch wenn David in den USA geboren wurde, so liegen die Wurzeln der Familie in Haiti, wohin es diese nur drei Monate nach der Geburt von Jonathan verschlug.
Er lebte zwar nur bis zu seinem siebenten Lebensjahr in der dortigen Hauptstadt Port-au-Prince, danach wanderte die Familie nach Ottawa aus. Die Zeit in Haiti prägt ihn aber bis heute.
Der nunmehrige Fußball-Star engagiert sich schon seit vielen Jahren vor Ort, unterstützt dort mit nicht näher genannten, aber wohl nicht zu knappen Geldsummen Jugendspieler in Cite Soleil, dem Elendsviertel von Port-au-Prince.
Schon alleine diese Tatsache beschreibt den Charakter von David sehr gut, der allgemein als bescheiden und bodenständig gilt. "Wir helfen den Jugendlichen, sich zu ernähren, zu bilden und zu trainieren. Sie haben sechs Trainingseinheiten pro Woche. Sie bekommen immer eine Mahlzeit. Manchmal ist es ihre einzige Mahlzeit am Tag", sagt David selbst über sein Projekt.
"Ich habe die Mittel. Ich möchte ihnen das geben und ihnen so gut ich kann helfen", sagt er. So sei er eben erzogen worden. Ein Wort, das ihn wohl am besten beschreibt, sei "authentisch". So sieht es sein Nationalteam-Kollege Scott Kennedy vom WAC im Gespräch mit LAOLA1.
"Er spricht nicht viel. Aber wenn er etwas sagt, ist es meistens wichtig. Ein sehr schlauer Junge", unterstreicht er.
Ein Held, der gar keiner sein will
Diese Demut, nie zu vergessen, wo man herkommt, sie hält ihn am Boden und ist dadurch auch ein wesentlicher Faktor für Davids Erfolg. Der Spaß am Spiel, der ihn einst zum Fußball brachte, ist ihm auch heute noch anzumerken - nicht selbstverständlich in Tagen wie diesen.
"Um ehrlich zu sein, will ich nicht unbedingt der gefeierte Held sein", sagt David selbst. "Ich suche nicht nach dem Rampenlicht. Ich gehe nicht in die sozialen Medien. Ich konzentriere mich auf meine Karriere, meine Familie und meine Freunde", betont er. "Aber", fügt er an, "ich strebe immer noch danach, einer der besten Stürmer der Welt zu werden. Daran arbeite ich jeden Tag".
Der 24-Jährige hatte bereits in jungen Jahren einen großen Traum, dem er seither verbissen nachjagt. Schon als Kind, so berichtete es etwa "ICI-Radio Canada" habe er nicht für Klubs vom amerikanischen Kontinent geschwärmt. In seinem Kopf gab es nur ein Ziel: Europa, die ganz großen Namen hatten ihm es angetan.
Fußballsüchtig im Eishockey-Land
Die Liebe zum Fußball ist bei David eine ganz besondere. Entfacht wurde sie schon in frühester Jugend. Unüblich für einen in Kanada aufwachsenden Jungen, wo das Eishockey alles überstrahlt.
"Schuld" daran war die Schule. David ging in die französischsprachige "Louis-Riel-Highschool" in Ottawa, in der Fußball im Mittelpunkt steht. Auf den jungen Jonathan hatte das einen fast magischen Effekt. Richtiggehend süchtig nach Fußball sei er dort geworden, sagte er einst.
Das betraf aber nicht nur den aktiven Kick, sondern auch jenen auf der Spielkonsole. Das Videospiel FIFA, heute "EA-Sports FC", hatte es ihm ebenso angetan. Der Teenager zockte einst derart exzessiv, dass seine Trainer einschreiten mussten, weil sie seine Entwicklung in Gefahr sahen.
"Ich habe mich so mies gefühlt, Gent hatte gar keine andere Möglichkeit, als mich abzulehnen."
Über das High-School-Team ging es später zu den Ottawa Internationals, wo er auch internationalen Scouts auffiel. Darunter auch einem von Red Bull Salzburg, der ihn 2017 zu einem Probetraining einlud, bei dem David aber nicht überzeugen konnte. Erstmals verließ der familiär tief verwurzelte Jonathan seine Eltern, was an ihm zu nagen schien.
Am Ende schnappte sich KAA Gent aus Belgien das Talent und machte alles richtig. Doch auch dort fiel er beim ersten Mal durch. "Ich habe mich so mies gefühlt, Gent hatte gar keine andere Möglichkeit, als mich abzulehnen", so David über den ersten gescheiterten Versuch. Doch im zweiten Anlauf klappte es. Ein Trainer bemerkte seine seelische Verfassung und bestärkte ihn. "Er sagte mir, dass er etwas Besonderes in mir sieht", erinnert sich David. Das habe ihm den nötigen Schub gegeben, um zu überzeugen.
Traumdebüts da wie dort
Schon bald stellte sich heraus, dass Gent damit alles richtig gemacht hatte. Rasch hatte David alle von seinem Talent überzeugt und wurde in den Profikader berufen. Sein Debüt feierte er am 4. August 2018 gegen Zulte Waregem und es hätte nicht besser laufen können. Der damals 18-Jährige wurde in der Schlussphase für den heutigen Valencia-Star Roman Yaremchuk eingewechselt und besorgte in der Nachspielzeit das 2:2.
Es sollte nur ein Vorgeschmack sein, auf das, was noch kommt: In den fünf folgenden Einsätzen traf er fünf Mal.
Da verwundert es auch nicht, dass er umgehend ins Nationalteam berufen wurde und auch dort vollbrachte er das gleiche Kunststück: Gegen die Amerikanischen Jungferninseln debütierte er am 9. September 2018 und traf sogleich im Doppelpack.
Schicksalsschlag um Mutter Rose
David schwebte sportlich auf Wolke sieben, hatte am Ende der Saison 14 Treffer und fünf Vorlagen zu Buche stehen, doch im Dezember 2019 versetze ihm das Schicksal einen schweren Schlag. Eines Abends saß David in seinem Hotelzimmer, als sein Handy läutete. Am Telefon war sein Vater, was er ihm zu sagen hatte, muss unvorstellbar schmerzhaft gewesen sein.
Er solle sich sofort auf den Weg nach Hause machen, der Gesundheitszustand von Mutter Rose habe sich dramatisch verschlechtert. Gent gab dem Youngster sofort Sonderurlaub, der stieg in den nächsten Flieger, von seiner Mutter aber sollte er sich nicht mehr verabschieden können. Beim Zwischenstopp in London erreicht ihn die Nachricht, dass sie aus dem Leben geschieden sei.
Am 14. Dezember trug er seine Mutter zu Grabe, mit 18 Jahren. Sein Klub unterstütze ihn nach Kräften. Egal wie lange es dauern würde, David sollte sich die Zeit nehmen, die er braucht und seien es Monate. Doch der Youngster kehrte bald zurück, suchte die Ablenkung in dem, was er liebt.
Am 22. Dezember stand er wieder in der Startelf von Gent - und legte Teamkollege Vadis Odjidja-Ofoe gegen FC Brügge das 1:1 auf. "Natürlich ist das ein schwieriger Moment für mich, es war schwer, an etwas anderes zu denken", meinte er danach gegenüber "The Athletic". "Ich habe mich auf mein Spiel konzentriert und versucht, für meine Mutter alles zu tun, was ich kann", so ein gerührter David.
Und die Fans? Die überhäuften den Youngster geradezu mit Beistand. Minutenlang verblieb David nach der Partie vor dem Fanblock, weil die Fans seinen Namen skandierten und ihm auch mit einem Banner zeigten: Wir stehen hinter dir.
Lille macht David zum teuersten Kanadier aller Zeiten
Nur kurz darauf wurde er zu Kanadas Spieler des Jahres gewählt, erzielte für Gent in dieser Saison 23 Treffer in 40 Spielen und krönte sich zum Torschützenkönig in Belgien. Mama Rose, sie wäre stolz gewesen auf ihren Jonathan.
David war nicht mehr aufzuhalten, kein Wunder daher, dass nun auch größere Klubs auf ihn aufmerksam wurden. Im Sommer 2020 machte ihn LOSC Lille zum teuersten Kanadier aller Zeiten. Berichten zufolge zahlte man 27 Millionen Euro für die Dienste des Angreifers.
Mit den Franzosen krönte er sich 2021 sensationell zum Meister, Davids Anteil daran: 16 Scorerpunkte (13 Tore, drei Vorlagen). Seit seinem Wechsel ist er aus der Elf von Lille nicht wegzudenken, matchte sich im Vorjahr sogar lange mit Kylian Mbappe und Alexandre Lacazette (Lyon) um den Titel als Torschützenkönig.
"Revanche" an den "Bullen" und Gänsehautmomente
Im Herbst 2021 kam es für ihn zum Wiedersehen mit Red Bull Salzburg, als er mit Lille in der Champions-League-Gruppenphase auf die "Bullen" traf. Im Rückspiel bereuten die Salzburger Verantwortlichen wohl, ihn nicht verpflichtet zu haben. Lille gewann zu Hause mit 1:0. Das Goldtor erzielte natürlich Jonathan David.
Apropos Goldtor: Nur wenig später bejubelte er ein solches gegen Girondins Bordeaux auf ganz besondere Weise. David traf in der Schlussphase zum 3:2, etwas mehr als zwei Jahre, nachdem er seiner Mutter zu Grabe getragen hatte. Beim Torjubel ließ er sich eine pinke Rose reichen, die er gen Himmel reckte und so für Gänsehaut sorgte:
Es sind diese Aktionen, die ihn nicht nur als Spieler, sondern auch als Mensch zum Liebling der Fans werden ließen.
Die großen Namen klopfen an
Mittlerweile jagt den 24-Jährigen halb Fußball-Europa. Milan, Tottenham, Juve, Real Madrid, Napoli, Bayern, Manchester United und Aston Villa wird Interesse nachgesagt - und dies sind nur die prominentesten Namen.
"Ich weiß, dass er Interesse daran hat, in einer anderen Liga zu spielen. Ich glaube, er ist dafür bereit und wenn der richtige Klub kommt, macht er das auf jeden Fall."
Es wäre nur wenig verwunderlich, sollte sich David in der kommenden Saison nicht mehr im Kader von Lille wiederfinden. Auch WAC-Abwehrbollwerk Kennedy traut seinem Landsmann den Schritt zu einem Spitzenklub zu: "Ich weiß, dass er Interesse daran hat, in einer anderen Liga zu spielen. Ich glaube, er ist dafür bereit und wenn der richtige Klub kommt, macht er das auf jeden Fall."
Kommt also einer der nächsten, ganz großen Top-Stars aus Kanada? Kennedy traut es ihm zu. Der Innenverteidiger beschreibt den Mittelstürmer Jonathan David als "einzigartig". Warum? Der 24-Jährige sei "kein typischer Neuner, er ist nicht so groß. Aber er ist sehr stabil und schnell. Er hat eine sehr eigene Art (Fußball zu spielen, Anm.)", konkretisiert er. Es sei schwer, David mit irgendeinem anderen Spieler zu vergleichen.
Kenndey sieht nur einen Grund, der eine ganz große Karriere verhindern könnte: "Das Einzige, was ihn hindern könnte, aber dafür kann er nichts, ist seine Größe", meint er. David misst 1,75 Meter. In England werden seit jeher eher Stürmer vom Typ "Brecher" gesucht, auch in anderen Ligen, beispielsweise in Italien, geht der Trend in diese Richtung.
Der warmherzige "Iceman" David
Davids Stärken sind mit dem Ball am Fuß und bei der Coolness im Kopf zu verorten. Seine Abschlusstärke und Kaltschnäuzigkeit vor dem Tor zeichnen ihn seit jeher aus. Das lobt auch der kanadische Ex-Teamchef John Herdman: "Er ist wie aus Eis", bringt er es auf den Punkt. Taucht David vor dem gegnerischen Kasten aus, ist es temporär vorbei mit seiner charakteristischen Warmherzigkeit. "Er ist in der Lage, im Strafraum zu verzögern, darauf zu warten, dass der Torhüter sich hinlegt und seine Momente zu nutzen. Das ist eine ganz besondere Qualität bei einem Stürmer", beschreibt Herdman.
"Bei meiner Positionierung und meinen Bewegungen denke ich daran, wie ich der Mannschaft helfen kann, und nicht nur daran, mich zum Helden zu machen."
Stürmer seien Egoisten, heißt es oft. Experten betonen gebetsmühlenartig, dass ein gesundes Maß an Egoismus eine Notwendigkeit für einen Goalgetter sei.
"Ich bin Stürmer, also ist es meine Aufgabe, Tore zu schießen", meint auch David selbst und erklärt, dass das Team dennoch Priorität hat. "Wie jeder weiß, bekommen Angreifer normalerweise den Ruhm. Aber bei meiner Positionierung und meinen Bewegungen denke ich daran, wie ich der Mannschaft helfen kann, und nicht nur daran, mich zum Helden zu machen. Natürlich möchte ich gute Statistiken haben, aber das ist nicht mein Antrieb", beschreibt er sich.
Auch hier kommt seine Persönlichkeit zum Vorschein. Trotz seines steilen Aufstiegs ist David ohne Scheuklappen unterwegs. Auf dem Platz und auch abseits davon hat der 24-Jährige den Blick für andere und hilft, wo es nötig ist - und denen, die es am nötigsten haben.
Jonathan David ist erst 24 Jahre jung und hat schon mehr hinter sich, als manch anderer in deren 50 nicht erlebt - positiv, wie negativ. All das, und das betont er auch selbst, hat ihn nur noch stärker werden lassen. Die Basis ist gelegt, Jonathan David kann ein ganz großer Fußballer werden. Ein ganz großer Mensch ist er schon.