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Vikingur Reykjavik: Vom Fetzenlaberl zur Conference League

Ein Klub, der von Kindern gegründet wurde, ärgert die Favoriten in der Conference League. Man hat kein Flutlicht, dafür aber Tribünen aus Holzpaletten.

Vikingur Reykjavik: Vom Fetzenlaberl zur Conference League Foto: © getty

In der Serie "Das Tor zur Welt" nehmen wir internationale Fußball-Klubs und ihre Geschichten genau unter die Lupe. Wir beleuchten die Hintergründe, die in der schnellen, täglichen Berichterstattung gerne untergehen.

Von Aston Villa und Benfica Lissabon über Europas größten Fußballklub IF Brommapojkarna, den Fan-Verein CS Lebowski bis hin zum deutschen Überraschungsteam 1. FC Heidenheim haben wir schon einige Klubs porträtiert. Hier kannst du alle nachlesen >>>

Heute widmen wir uns dem ersten isländischen Team, das jemals ein Europacup-Spiel gewinnen konnte und nun dem LASK das Leben schwer machen will: Vikingur Reykjavik. Warum man sich über 1.000 Zuseher freut, nicht in der Halle, dafür ohne Flutlicht spielen muss und warum alles mit einem "Fetzenlaberl" begann.

LASK-Vikingur Reykjavik am Donnerstag um 21 Uhr im LIVE-Ticker>>>


Die Überraschung war groß, als Breidablik Kopavogur zu Beginn der Saison 2023/24 erstmals den Sprung in die Gruppenphase der UEFA Conference League schaffte. Ein Team aus Island im Europacup, das gab es davor noch nie.

Europaweit sorgte dies für Schlagzeilen, wurden die Klubs von der Insel - die weniger für Fußball und mehr für Geysire, Vulkane und frostige Temperaturen bekannt ist - bis dahin eher belächelt.

Mittlerweile, auch durch die Reform der Europacup-Bewerbe begünstigt, sind internationale Ausrufezeichen von Teams aus Island keine so große Überraschung mehr. Auch in dieser Saison schaffte es mit Vikingur Reykjavik ein isländisches Team in den Europacup.

Underdog? Nur vermeintlich!

In der Conference League sorgt die von Ex-Premier-League-Legionär Arnar Gunnlaugsson betreute Elf für gehöriges Aufsehen. Derzeit hält man bei sieben Zählern aus fünf Spielen. In der Tabelle bedeutet das Rang 19, das Überwintern im Bewerb ist fast schon gesichert.

Der vermeintliche Underdog musste zwar zum Auftakt gegen Omonia Nikosia Lehrgeld bezahlen (0:4), zog daraus aber die richtigen Schlüsse. Es folgten Siege gegen das zu jenem Zeitpunkt noch von Miron Muslic und nun von Ferdinand Feldhofer gecoachte Cercle Brügge (3:1) und Borac Banja Luka mit ÖFB-Legionär Stefan Savic (2:0). Gegen den FC Noah holte man ein torloses Remis, ehe man gegen Djurgarden knapp und nicht unbedingt verdient mit 1:2 unterlag.

Am Donnerstag misst sich der LASK mit den Isländern, die nicht mehr der klare Underdog sind, für den man sie vielleicht halten mag. Die Entwicklung des Klubs in den letzten Jahren ist beachtlich.

Kinder an die Macht

Genaugenommen ist Vikingur Reykjavik ja eigentlich nur der Rufname des Klubs. Auf dem Papier firmiert der Verein mit den Farben rot und schwarz als "Knattspyrnufélagið Víkingur" ("Fußballverein Vikingur").

Beheimatet ist Vikingur im Reykjaviker Bezirk Fossvogur, dessen malerisches Bild schon allein einen Besuch wert ist.

Auch touristisch ist Reykjavik eine Reise wert.
Foto: © GEPA

So außergewöhnlich schön Island und seine Hauptstadt sind, so außergewöhnlich ist auch die Gründungsgeschichte des Klubs. Im Jahr 1908 fand sich eine Gruppe Kinder zusammen, die sich für den nun auch in Island immer mehr bekannter werdenden Fußballsport begeisterten. Und zwar auf einfachste Art und Weise: Mehr als eine Wiese und ein (der Begriff ist tatsächlich recht zutreffend) "Fetzenlaberl" stand nicht zur Verfügung.

Schon bald entstand die Idee, einen echten Klub zu gründen. Das, was aber eminent wichtig dafür ist, hatte man nicht - einen echten Lederball. Die gab es zwar auch in Island käuflich zu erwerben, günstig war die Angelegenheit (insbesondere für Kinder) aber nicht. Um den Kaufpreis zu finanzieren, sammelten die Kids Spenden oder führten kleine Arbeiten und Botengänge aus. Am 21. April 1908 wurde schließlich einer der ältesten Sportvereine Islands und der erst zweite isländische Fußballklub überhaupt aus der Taufe gehoben (älter ist nur Stadtrivale KR Reykjavik).

Dass ihr Klub sich einmal in halb Europa einen Namen machen würde, davon träumten nicht einmal die Gründerväter, so sehr die kindliche Fantasie auch oft ihre wilden Blüten treibt. Denn keiner von ihnen war annähernd erwachsen: federführend waren der zwölfjährige Axel Andresson, der neunjährige Emil Thoroddsen, der elfjährige Davio Johannesson sowie Pall Andresson und Tortur Albertsson.

Gründungstätte: Lettland statt Island

Die Gründungsversammlung mit gezählten 32 Teilnehmern fand an der Tungata 12 statt, also jenem Grundstück, auf dem die Kids regelmäßig ihrem Lieblingssport nachgingen. An Fußball erinnert dort allerdings nichts mehr. Heute steht an dieser Stelle das "Lettische Monument der Dankbarkeit". Ein Geschenk der lettischen Nation an Island, überreicht 1996, um die Unterstützung Islands für die lettische Unabhängigkeit zu feiern.

In den Jahren nach der Gründung entwickelten sich die kindlichen Vereinsgründer zu jungen, hungrigen Fußballern, die sich nach und nach ihren Sporen im Erwachsenenbereich verdienten. Schon 1920 durfte man den ersten Meistertitel bejubeln. Ein weiterer sollte 1924 noch folgen.

"Ein absoluter Traditionsverein. Wie Rapid oder Austria in Österreich."

Helgi Kolvidsson über Vikingur

Heute ist Vikingur "ein absoluter Traditionsverein. Wie Rapid oder Austria in Österreich", vergleicht Ex-Lustenau-Coach Helgi Kolvidsson gegenüber LAOLA1.

Und kein reiner Fußballklub mehr, man betreibt auch Sektionen für Handball, Tennis, Tischtennis, Karate und Skifahren. Vor allem im Handball ist man neben dem Fußball eine echte Größe im Land, mit mehreren nationalen Titeln.

Zuerst Double, dann zweimal "Vize"

Die Fußballer halten bei sieben Meistertiteln und fünf Cupsiegen, im Jahr 2023 holte Vikingur das Double. In der vergangenen Saison verlor man das Cupfinale gegen KA Akureyri überraschend mit 0:2, doch zumindest der Meistertitel sollte es werden - so zumindest der Wunsch.

In der Meisterrunde (die isländische Liga wird ähnlich wie die ADMIRAL Bundesliga nach einem Grunddurchgang geteilt) lief alles auf ein Herzschlagfinale gegen Breidablik hinaus. Vor dem letzten Spieltag hielten beide Klubs bei 59 Punkten und trafen im abschließenden Saisonspiel im direkten Duell aufeinander.

Das Interesse an der Partie war für isländische Verhältnisse enorm. Vikingurs Heimstadion "Víkingsvöllur" (zu Deutsch "Wikingerfeld") bietet nur Platz für 1.500 Zuschauer, weshalb die Fans kurzerhand improvisierten. Ähnlich wie hierzulande im ÖFB-Cup der DSV Leoben gegen Rapid und Ardagger gegen Salzburg, errichteten die Fans Tribünen aus Holzpaletten.

Diese sollten vor dem Titelduell gegen Breidablik zum Zielobjekt der Fans des Gegners werden. Sie schlichen sich in der Nacht vor dem Spiel ins Stadion und bemalten die in rot gehaltene "Popup-Tribüne" in ihren Vereinsfarben - nämlich grün.

Der moralische Schwächungsversuch dürfte zumindest nicht geschadet haben, denn Breidablik setzte sich vor 2.500 Zuschauern verdient mit 3:0 durch und krönte sich zum Meister. Der neue Champion und seine Fans hatten außerdem einen zusätzlichen Ansporn, denn nur drei Tage zuvor schrieb Vikingur ausgerechnet in deren Stadion Geschichte.

Das 3:1 gegen Cercle Brügge war der erste Sieg eines isländischen Teams in einem Europacup-Bewerb. Das Ausweichen der "Wikinger" liegt darin begründet, dass das "Víkingsvöllur" für internationale Spiele nicht zugelassen ist und man daher ins "Kópavogsvöllur"-Stadion von Breidablik "zwangsumsiedeln" muss.

Und auch dort ist nicht alles so möglich, wie man das von Europacup-Spielen gewohnt ist. Denn die Arena verfügt über kein Flutlicht, weswegen die Conference-League-Partien schon am Nachmittag angepfiffen werden müssen, um der Dunkelheit zu entgehen.

Das hielt die Vikingur-Elf aber freilich nicht davon ab, den Sieg über Cercle frenetisch zu feiern: 

Grundsätzlich stünde in Reykjavik auch eine Fußball-Halle zur Verfügung. Deren Nutzung für internationale Spiele gestand die UEFA dem Klub aber nicht zu. "Das lassen die Regularien für internationale Spiele nicht zu. Dazu kommt, dass das Nationalstadion jetzt gerade umgebaut wird. Das ist etwas, das unsere Nation leider total verpennt hat", konstatiert Helgi Kolvidsson.

Dennoch sind dies Sorgen, die man bei Vikingur gerne hat. Denn durch die jüngsten Erfolge kommt endlich Wind in das Infrastruktur-Thema in Island, viel wichtiger aber ist, dass man überhaupt auf diesem Niveau jammern darf.

Drei isländische Ikonen übernehmen das Ruder

Denn es lief in der Historie des Klubs nicht immer so toll. Vikingur hat einen langen Weg an die Spitze hinter sich. Nach anfänglichen Erfolgen in den Gründungsjahren musste man lange auf weitere Titel warten, Anfang der 80er wurde man zwei weitere Male Meister, etablierte sich eine Zeit lang an der Spitze.

Etwas überraschend holte Vikingur 1991 einen weiteren Titel, nur um bald darauf abzusteigen. In den 30 Jahren danach sei "kaum etwas" passiert, um sportlich wieder Schritte nach oben zu machen, wie Sportdirektor Kari Arnason im "Daily Star" schilderte.

Erst seit sich ehemalige isländische Spielergrößen wie er, Trainer Arnar Gunnlaugsson und sein "Co" Sölvi Geir Ottesen im Verein tummeln, geht es aufwärts. Gunnlaugsson legte für isländische Verhältnisse eine schillernde Spielerkarriere hin, reüssierte unter anderem bei Feyenoord, Nürnberg, Sochaux, Bolton, Leicester und Stoke. Nun ist er ein wesentlicher Erfolgsfaktor als Vikingur-Coach.

"Im Hintergrund läuft alles wie am Schnürchen"

Vikingur-Sportdirektor Arnason

"Neben uns dreien haben wir einen wirklich guten Vorstand, der weiß, wann er Risiken eingehen muss und wann er auf Nummer sicher gehen sollte. Im Hintergrund läuft alles wie am Schnürchen", berichtet Arnason.

Auch bei den Fans zieht der Klub mehr als je zuvor. "Der Support ist überragend", freut sich Arnason. Vikingurs Heimatbezirk Fossvogur zählt etwa 8.000 Einwohner, bei den Spielen liegen die Zuschauerzahlen immer um die 1.000, wie Arnason berichtet. "Ich habe das Gefühl, dass unser Fußballverein zum Dreh- und Angelpunkt des Viertels geworden ist", so der Sportdirektor weiter.

Helgi Kolvidsson spielte mit dem heutigen Vikingur-Coach Gunnlaugsson einst im Nationalteam und fühlt sich an glorreiche Zeiten erinnert. Zu seiner Zeit erlebte der isländische Fußball seinen ersten großen Höhenflug. Auch damals mussten Zusatztribünen, wenn auch nicht aus Holzpaletten, errichtet werden: "Das war wie damals, als wir nach der WM 1998 das erste Spiel gegen Frankreich gespielt haben. Da hat man Zusatztribünen aufgebaut und es waren um die 15.000 Leute da."

Für Arnason fühlt sich der Erfolg von Vikingur heute ähnlich an: "Wenn ich durch mein altes Viertel laufe, klatscht jeder mit jedem ab - es ist großartig."

Jugend forscht

Der Erfolg soll diesmal aber nachhaltig sein. Bei Vikingur war die Nachwuchsarbeit schon immer ein wichtiger Faktor, in den letzten Jahren wurde dem aber ein noch größeres Augenmerk gewidmet, die Jugend ist eine der elementarsten Säulen des Klubs geworden.

Ein Gutteil des aktuellen Kaders entspringt dem eigenen Nachwuchs. Einige davon sind auch A- und Jugendnationalspieler. Stellvertretend dafür lässt sich das wohl größte Talent im Kader nennen: Gisli Thordarson. Der großgewachsene zentrale Mittelfeldspieler ist eine Säule im Team von Arnur Gunnlaugsson und eine der heißesten Aktien der "Wikinger". In Island wird er gerne mit Dänen-Star Pierre Emile Höjbjerg verglichen.

Was aktuell bei Vikingur passiert, soll aber noch nicht das Ende der Fahnenstange sein. Nächste Saison wolle man die Europa League ins Visier nehmen, wie Arnason wissen lässt. Wenngleich ihm durchaus bewusst ist, dass es sich dabei "um eine große Aufgabe für ein isländisches Team" handelt. Aber eine, die man sich zutraut. "Ich sage nicht, dass es unmöglich ist, aber es ist sehr schwierig", meint Arnason.

Leicht wird es gewiss auch beim LASK nicht, der danach trachten wird, die Ligaphase zumindest mit einem Erfolgserlebnis abzuschließen, nachdem die Chance auf den Aufstieg nur mehr rein theoretischer Natur ist.

Vikingur dagegen steht davor, den Sprung in die K.o.-Runden-Playoffs der Conference League zu schaffen und so vor dem nächsten Meilenstein in der Geschichte des isländischen Klubfußballs.


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