Wer an Lazio Rom denkt, denkt automatisch auch an die Anhänger des Serie-A-Klubs.
Vor allem an die berüchtigten Ultras in der Curva Nord. Skandale reihen sich an Eklats und umgekehrt.
Die umstrittene Gruppierung, die seit Jahrzehnten das Sagen hat, heißt "Irriducibili" - die Unbeugsamen.
Das Gedankengut des harten Kerns ist bekannt: rassistisch, faschistsisch, antisemitisch.
Wie tickt die Lazio-Kurve und wie hat sie sich über die Jahrzehnte hinweg verändert?
Darüber hat sich LAOLA1 mit Kai Tippmann unterhalten. Der Deutsche lebt seit über zehn Jahren in Italien und ist absoluter Experte in Sachen italienischer Fans.
Er hat mehrere Bücher italienischer Ultras ins Deutsche übersetzt und versorgt seine Leser auf dem Blog altravita.com regelmäßig mit fundierten Informationen zu den italienischen Kurven.
Hier gibt Tippmann nun Auskunft über die Fans von Lazio Rom, dem Gegner von Salzburg im Viertelfinale der UEFA Europa League (Do., 5. April, 21:05 Uhr im LIVE-Ticker).
LAOLA1: Wie sieht der Status quo der Curva Nord aus?
Kai Tippmann: Der Status quo ist die Umkehrung des inoffiziellen Status quos, den wir kurz vorher hatten. Nachdem der Präsident (Claudio Lotito, Anm.) gegen die "Irriducibili" vorgegangen ist – mit legalen und anderen Mitteln – waren die eine Zeit lang verschwunden, so dass niemand genau wusste, wer die Kurve führt und Verantwortung übernimmt. Die wichtigsten Köpfe sitzen bzw. saßen im Gefängnis. Doch im letzten Oktober haben sich die "Irriducibili" wieder zurückgemeldet und meinten, die Kurve könnte zur früheren Geschlossenheit zurückgeführt werden, Lazio sollte im Mittelpunkt stehen und in diesem Zusammenhang hat man sich auch zu den Anne-Frank-Aufklebern (Hier nachlesen!) geäußert. Die "Irriducibili" waren also nicht präsent, hatten aber weiterhin das Sagen und sind nun wieder präsenter. Ich denke, der Kurve selbst ist nicht klar, was da passiert ist. Das hängt wie in vielen anderen Gruppen sicherlich auch mit dem Repressionsdruck zusammen, mit dem sich italienische Kurven auseinandersetzen. Das macht das Ganze etwas weniger gut beobachtbar.
LAOLA1: Das heißt aber, die "Irriducibili" regieren auch zu diesem Zeitpunkt von innen heraus?
Tippmann: Davon ist auszugehen. Dass das Wort einer über Jahrzehnte geformten, großen Gruppe mit den entsprechenden Exponenten, die lange dabei sind, natürlich Gewicht hat und Gewicht haben wird, ist klar. Vor allem, wenn keiner dieses Vakuum füllt. Der Kern der "Irriducibili" hat sicherlich noch viel zu sagen in dieser Kurve. Generell befinden wir uns aber nicht mehr in einer Epoche, wo eine große Gruppe eine Kurve sichtbar anführt. Das ist in den wenigsten Kurven der Fall. Aber ja, die Leute sind noch da, wenn sie nicht im Gefängnis sitzen, haben ein Gesicht und können Geschicke bestimmen. Aber wenn natürlich weniger Kurvengänger in solchen Gruppen fest organisiert sind, wird es eben unübersichtlich. Sie haben aber sicher mehr zu sagen als andere bei Lazio.
Das ging dann sogar so weit, dass sie für eine Zeit lang die Markenrechte am Lazio-Logo hatten und mehrere Fan-Shops in der Stadt betrieben haben. Für jedes offizielle Lazio-Trikot oder für jeden Fan-Schal, der mit dem Logo versehen war, wurde ein prozentueller Betrag eingenommen – unabhängig von den eigenen Fanshops, die sie hatten.
LAOLA1: Früher hatten Sie sogar sehr viel Macht.
Tippmann: Sie haben diese damals nach einer gewissen Zeit an Streitigkeiten von den "Eagles‘ Supporters" übernommen. Ab den 80ern waren die "Irriducibili" sicherlich eine der größten und kompaktesten Gruppen in Italien und extrem bestimmend. Das ging dann sogar so weit, dass sie für eine Zeit lang die Markenrechte am Lazio-Logo hatten und mehrere Fan-Shops in der Stadt betrieben haben. Für jedes offizielle Lazio-Trikot oder für jeden Fan-Schal, der mit dem Logo versehen war, wurde ein prozentueller Betrag eingenommen – unabhängig von den eigenen Fanshops, die sie hatten. Von anderen italienischen Ultras wurden sie deswegen auch als "Lazio GmbH" verspottet. Schließlich ist das nicht besonders "ultra", was sie da gemacht haben, auf der anderen Seite aber natürlich sehr lukrativ. Das hat vielleicht nicht jedem gefallen, aber es hat lange gehalten.
LAOLA1: Was hat sich seither verändert?
Tippmann: Lotito war einer der ersten Präsidenten, die gegen die eigene Kurve vorgegangen sind. Die Sache mit den Markenrechten wurde relativ zügig aufgelöst und es wurde von richterlicher Seite massiv gegen die "Irriducibili" vorgegangen. Im Zuge der Verschärfung der Gesetzgebung ab 2007 sind ja viele Kurven und Gruppen zurechtgestutzt worden, etwa durch flächendeckende Stadionverbote oder lückenlosere Überwachung der Exponenten solcher Kurven. Lazio hat sich, zumindest was das Offizielle angeht, ganz gut gegen die eigene Kurve durchgesetzt – mit allen Verwerfungen, die so etwas mit sich bringt. Es wurden dann auch eineinhalb Jahre gestreikt, die Kurve blieb komplett leer, Proteste gegen Lotito gibt es immer wieder. Unter der Oberfläche gärt es.
LAOLA1: Die Zuschauerzahlen sind gegenüber der Vor-Lotito-Zeit fast um die Hälfte gesunken. Welche Rolle spielt da auch das bekanntlich rassistische, antisemitische und faschistische Gedankengut?
Tippmann: Der Zuschauerrückgang deckt sich im gesamten italienischen Spielbetrieb. Gegenüber vor 15 Jahren liegt man hier wirklich fast bei der Hälfte der Zuschauerzahlen. Was die Stadion-Auslastung betrifft, ist die Serie A im Vergleich mit den europäischen Ligen sehr weit unten angesiedelt. Das ist nicht nur ein römisches Problem. Gleiches gilt für rechtsextreme Ideologien und Faschismus. Rom ist eine relativ schwarze Stadt, was das angeht. Das bildet sich auch deutlich in beiden Fanszenen ab. Es war schon so, dass Lazio über viele Jahre dieses Gedankengut zur Provokation und Darstellung ausgenutzt sowie mit entsprechender Symbolik und Gesängen geriert hat. Das ist tatsächlich zurückgedrängt worden, nicht nur in Rom, sondern auch in vielen anderen Stadien. Politische Ausdrücke sind weniger geworden, sie sind nicht verschwunden, aber deutlich weniger geworden als vor 15 Jahren, als die Stadien noch voll waren. Damals hingen regelmäßig Hakenkreuze oder entsprechende Spruchbänder. Damals waren die Stadien noch voll, heute sind die Stadien nur noch halb so voll. Lazios Kurve hat sich relativ zügig nach der Gründung weit rechts positioniert. Und auch wenn das heute nicht mehr so sichtbar ist, hat Rom eine große rechte Szene und viele Jugendliche, die auch unabhängig vom Fußball solchen Ideologien weiterhin nachgehen. Das bildet sich in der Lazio-Kurve weiterhin ab.
Die Anne-Frank-Aufkleber sorgten für einen veritablen Medienrummel, zumindest gibt es nun eine gewisse Empörung im Land. Diese ist vielleicht nicht sehr kohärent, aber ein Schritt in die richtige Richtung, nämlich dass man es als diskutabel erkennt, was da passiert.
LAOLA1: Wenn es in Österreich oder Deutschland rechtsextreme Provokationen seitens einiger Anhänger gibt, ist die Empörung groß. Hat sich diesbezüglich in Italien etwas geändert?
Tippmann: Bis zur Erfindung des Pay-TVs in Italien wurde gegen überhaupt nichts vorgegangen, was in italienischen Kurven von sich gegeben wurde. Das hat vor der Direktübertragung schlichtweg niemanden interessiert. Man hat sich vielleicht daran gewöhnt oder das Problem nicht gesehen oder hatte ohnehin eine neo-faschistische Regierungsbeteiligung. Das darf man nicht vergessen. Wir reden nicht über Phänomene, die die Kurven ausklügeln. Faschismus existiert nicht nur in Kurven. Neo-faschistische Tendenzen gab es in der Regierung, es gibt Nationalspieler, die sich problemlos in Interviews als Faschisten bezeichnen. Generell ist die Hemmschwelle, dieses Gedankengut zu äußern bzw. sich als Faschist zu bezeichnen, in Italien ungleich niedriger als in Deutschland oder Österreich. Man kriegt ja etwa in jedem Touristen-Ort einen Mussolini-Wein. Paolo Di Canio arbeitet weiterhin als Experte für "Sky Italia" und der hat ein Duce-Tattoo auf dem Arm. Vieles von dem, was wir in den Kurven sehen und über das wir uns zu Recht erzürnen oder wundern, ist in Italien Alltag.
LAOLA1: Ein Spiegel der Gesellschaft also?
Tippmann: Genau. Die Kurven sind höchstens Katalysatoren für gesellschaftliche Phänomene, sind aber keine Inseln. Den nicht vorhandenen Kampf gegen solche Ausdrucksformen gibt es woanders auch. In den letzten 15 Jahren hat sich aber viel getan, die Hakenkreuze sind verschwunden, entsprechende Spruchbänder kenne ich aus den vergangenen Jahren so nicht mehr. Die vorher erwähnten Aufkleber sorgten für einen veritablen Medienrummel, zumindest gibt es nun eine gewisse Empörung im Land. Diese ist vielleicht nicht sehr kohärent, aber ein Schritt in die richtige Richtung, nämlich dass man es als diskutabel erkennt, was da passiert.
Kai Tippmanns Ansichten über den Absturz der Serie A sowie den nicht existenten Red-Bull-Hass in Italien gibt es hier bei "LAOLA1 on Air - Der Sport-Podcast" zu hören: