"Wenn du in der Türkei den Namen SK Sturm Graz sagst, weiß jeder Bescheid. Es ist mit Sicherheit der bekannteste österreichische Verein in der Türkei", sagt Fatih Demireli im Gespräch mit LAOLA1.
Das hat einen konkreten Grund, wenngleich keinen übertrieben schmeichelhaften.
Der Chefredakteur des Sportmagazins "Sokrates" und Experte des türkischen Fußballs ist beileibe nicht der einzige, dem beim Namen Sturm sofort ein Spiel in den Sinn kommt - und zwar das 2:2 zwischen den Grazern und Galatasaray Istanbul am 7. November 2000 im Ali Sami Yen Stadion.
"Die letzten Minuten dieses Spiels kennt in der Türkei inzwischen jedes Kind auswendig", grinst Demireli.
Äquivalent zur "Schande von Gijon"
In Österreich, speziell natürlich in der steirischen Landeshauptstadt, ist dieses Match natürlich noch in Erinnerung, aber freilich nicht derart in aller Munde wie in der Türkei.
Dort hat es sich über die Jahre zu einer Art Äquivalent zur "Schande von Gijon" entwickelt, mit der wiederum hierzulande wohl jeder Fußball-Fan aufwächst.
Zur Erinnerung kurz der Hintergrund: Besagtes 2:2 ging am letzten Spieltag der Champions-League-Gruppenphase über die Bühne. Dieses Ergebnis sicherte beiden Teams das Weiterkommen, den Steirern sogar als Gruppensieger - die Kontrahenten Glasgow Rangers und AS Monaco hatten das Nachsehen.
Nachdem Sturm in der 80. Minute zum zweiten Mal der Ausgleich gelungen war, waren - Vorsichtig formuliert - beide Teams nicht mehr allzu bemüht, auf Sieg zu spielen und damit den Gegner aus dem Wettbewerb zu bugsieren.
Der Präsident und die Leinwand
Eine Herangehensweise, die vor allem Galatasarays Erzrivale Fenerbahce, am Donnerstag im Hinspiel der 3. Runde der Qualifikation zur UEFA Europa League in Liebenau (ab 19 Uhr im LAOLA1-LIVE-Ticker) zu Gast, ein Dorn im Auge war und ist. Bis heute hält man die Erinnerung daran am Leben.
"Aziz Yildirim, der Präsident von Fenerbahce, hat sogar, nachdem 2011 der Manipulations-Skandal um Fener aufkam, die letzten Minuten von Sturm gegen Galatasaray auf einer Leinwand abspielen lassen. So nach dem Motto: 'Schaut euch mal an, was Gala gemacht hat!' Auch wenn das natürlich kein Manipulations-Vorwurf ist, es ist eher als Folklore zu verstehen."
Auch TV-Experten würden immer wieder in ähnlichen Situationen an dieses Spiel erinnern, in den sozialen Netzwerken sei Sturm im selben Zusammenhang ebenso immer wieder ein Thema in der Türkei.
"Als die Auslosung Sturm als möglichen Gegner von Fener ergab, war man sich erstens komplett sicher, dass Sturm trotz der Niederlage im Heimspiel gegen Podgorica noch weiterkommt und zweitens wurde gleich wieder dieses Thema aufgewärmt", erzählt Demireli.
Ein "Rotes Tuch" sei Sturm gerade bei Fenerbahce-Anhängern deswegen jedoch nicht, richtet sich der Groll doch eher gegen den verhassten Lokalrivalen: "Aber ich kann mir vorstellen, dass es im Rückspiel das eine oder andere Spruchband geben wird. Ich glaube jedoch nicht, dass es als Extramotivation dient, dafür hat Fener selbst zu viele Motivationsfaktoren."
Foda und Co. siegten im Prämienpoker
Um auch hierzulande die Erinnerung an den "Showdown" zwischen Galatasaray und Sturm ein wenig aufzufrischen, hat LAOLA1 ein wenig in den Archiven gesucht und dabei einige Schmankerl aus der damaligen Berichterstattung ausgegraben - mit dem Abstand von gut eineinhalb Jahrzehnten und dem Wissen von heute lässt sich tendenziell auch erahnen, warum die damalige Vereins-Politik zum Scheitern verurteilt war.
So berichtete die "Krone", dass die Sturm-Kicker, damals in der Bundesliga auf dem enttäuschenden sechsten Platz, schon vor der Reise nach Istanbul einen Sieg feierten. Und zwar im Prämienpoker gegen Präsident Hannes Kartnig. "Ausgesaugt habens mich, die Hundianer!", fauchte der steirische Zampano und meinte damit die Spielervertreter Franco Foda, Ivica Vastic, Tomislav Kocijan, Markus Schopp und Günther Neukirchner.
"15 Millionen für den Kader waren ausgemacht, zwei wurden von Kartnig wegen der schlechten Ergebnisse in der Meisterschaft "eingefroren". Eine gab er wieder frei - die zweite wird bei drei Varianten fällig. Eine heißt Aufstieg. Danach wird, so Kartnig, zurecht der nächste "Patzn" für die Spieler fällig: In der Zwischenrunde rechnet er mit neuen siebzig Millionen Einnahmen." (Krone, 5.11.2000)
"Als der Muezzin längst wieder rief..."
In Istanbul angekommen waren die Grazer erst einmal vom Medienandrang überrascht. Die "Kleine Zeitung" titelte: "Türken-Belagerung im Hotel von Sturm". Auch für Galatasaray - damals regierender UEFA-Cup- und UEFA-Supercup-Sieger - ging es damals um den ersten CL-Aufstieg in der Vereinsgeschichte.
"Knapp nach 15 Uhr kam Ivica Osim mit Manager Heinz Schilcher und Präsident Hannes Kartnig im Schlepptau. Osim blieb kurz stehen, atmete tief durch und dann sagte er den Türken viel, ohne ihnen etwas zu verraten. Typisch Osim - er verstreute Komplimente an Galatasaray und den türkischen Fußball insgesamt. [...] Etwas später, als die türkischen Journalisten abgewimmelt waren, rückte Osim endlich auch mit Fakten heraus. "Ja, ich habe mit Prilasnig ein langes Gespräch geführt - er wird gegen den brasilianischen Stürmer Jardel spielen." Osim ist überzeugt, dass "Gili" diese Aufgabe lösen kann." [...] Und endlich ist Osim auch bereit, diesem Spiel fast etwas "Schicksalhaftes" abzugewinnen: "Es kann ein Spiel für die Geschichte werden, aber nur für die Sturm-Geschichte."" (Kleine Zeitung, 7.11.2000)
Was vor der Partie kaum einer für möglich hielt, sollte passieren. Sturm punktete mit dem 2:2 nach dem 0:0 bei Spartak Moskau 1998 zum zweiten Mal auswärts in der Königsklasse und war Gruppensieger. Im Blick ins Zeitungs-Archiv unschwer zu erkennen: Es wurde von den steirischen Leitmedien damals kaum ein Klischee im Bezug auf den Gegner und dessen Heimat ausgelassen.
"Als der Muezzin längst wieder rief, hatte Sturm-Boss Hannes Kartnig in Istanbuls "Kempinsky-Hotel", wo die Nacht bis zu 80.000 S kostet, nonstop Autogrammstunde: Alles bei der unerhofften Sieges-Fete von der Bar Angeschleppte war zu signieren. Aber der schwarze Hannes lachte dazu wie der Mond: Nur ein Butterbrot im Vergleich zu den Millionen, die die Zukunft bringt. Und so war allerorten Friede, Freude, Eierkuchen." (Krone, 9.11.2000)
"Mit 70 Millionen Schilling rechnet "Mister president" für die erreichte Zwischenrunde. Kartnig wird im Frühjahr mit dem Bau des neuen Trainingszentrums in Messendorf beginnen. Er dachte aber auch in der Stunde des größten Erfolges der Klubgeschichte daran, irgendwann einmal doch aufzuhören ("Ich übergebe einen gesunden Verein, mein Nachfolger wird Rücklagen bekommen"). Und ließ dann sogar einige Bierchen springen - nicht der Alltag bei Sturm und einem in manchen Dingen als ziemlich geizig verschrienen Präsidenten." (Kleine Zeitung, 9.11.2000)
Telegramme von Klestil über Jara bis zu "Rapidler" Häupl
Auch die heimische Politik ließ sich das Grazer Schicksalsspiel nicht entgehen, die "Krone" outete Wiens Bürgermeister sogar exklusiv als Rapid-Anhänger.
"Sturms Sensation ließ praktisch niemand kalt! Auch den Bundespräsidenten nicht - Dr. Klestils Glückwunschtelegramm ("Ich hab mir den Abend extra frei genommen, um das Match im TV miterleben zu können - Gratulation, die Mannschaft hat österreichische Fußball-Geschichte gechrieben") ist fast gleichzeitig mit jenem von Michael Häupl, Wiens Bürgermeister, im Sturm-Büro eingelangt. Häupl, ein Erz-Rapidler: "Gratulation aus Wien - großartig, was Sturm für Österreichs Fußball geleistet hat." Als viele der Spieler am gestrigen Vormittag noch rasch einen Bummel durch Istanbuls Basare unternahmen, sortierten die Büro-Mitglieder in Graz weitere Faxe. Meister Tirol, mit den persönlichen Unterschriften von Präsident Kerscher plus Trainer Kurt Jara, schickte sogar zwei Telegramme, die Salzburger, natürlich auch ÖFB-General Gigi Ludwig sandten ihre Glückwünsche; Teamchef Otto Baric, obwohl selbst in Istanbul dabei - und aus Trondheim, wo er bei Rosenborg - Bayern als UEFA-Delegierter vertreten war, gratulierte DDr. Kapl." (Krone, 9.11.2000)
In Graz ließ sich Sturm nach der Rückkehr aus der Türkei bei steirischer Novemberkälte von rund 5.000 Fans am Flughafen Thalerhof feiern.
"Selbst das in Strömen aus den Zapfhähnen fließende kalte Freibier des Hauptsponsors der Kicker kann die Hitze des Eifers nicht mildern. Aus den Lautsprechertürmen auf der - innerhalb weniger Stunden von der Antenne Steiermark errichteten - Bühne bläst Opus' Gassenhauer "Life is Live." Live dabei sein wollte gestern jeder, der auch nur ein bisschen Herz für den steirischen Fußball hat. Den Moment miterleben, in dem die Mannschaft von Sturm Graz nach ihrem Triumph in der Champions League erstmals heimischen Boden berührt. Um 17.48 Uhr rauscht nach einer lupenreinen Landung die AUA-Maschine in einiger Entfernung auf der Landebahn an den Fans vorbei. Rund 5000 sind es geworden, die sich hinter den Absperrungen drängen. [...] Wie bei einem Pop-Konzert einer Boy-Group hängen Mädchen und Burschen an den Absperrungen und schreien, ja kreischen nach Ivica, Markus und Hannes. [...] Als einer der Letzten verlässt Trainer Ivan Osim die "Krems". In seiner stillen Art schafft er ein Kunststück. Er verdrückt sich heimlich ins Flughafengebäude, während sich die Mannschaft zur Bühne drängt. Dort wird bereits gefeiert. Die Stoakogler spielen "Steirermen are very good", die Gruppe "Vollgas" das Sturm-Lied, die Musikkapelle aus Kraubath marschiert nach ihrem Ständchen geordnet von dannen. Der Jubel der Fans ist so groß, dass man die kurzen Reden kaum hört. Und so verleihen Klasnic und Hirschmann der Mannschaft scheinbar wortlos den riesigen Kristallglas-Pokal. Dieser trägt die Aufschrift: "Für den Eintritt in den Fußball-Olymp." (Kleine Zeitung, 9.11.2000)
Kartnig fleht um "den Franzl"
Sturm war also unter den besten 16 Klubs Europas. Und der Präsident träumte vor der Auslosung nur von einem Team.
"Kartnigs Wünsche für die morgige Auslosung? "Den Franzl, den Kaiser, die Bayern halt. Das wäre was, mit dem könnte ich ein herrliches Bankett machen." Aber Kartnig verspricht, in Graz zu bleiben. "Droht" dafür allerdings, dass die Kartenpreise "ein bisserl teurer" werden." (Kleine, 9.11.2000)
Werden sollten es dann Manchester United, FC Valencia (später Finalgegner der Bayern) und Panathinaikos. Sturm siegte gegen die Griechen zweimal und beendete die Gruppe als Dritter. Durch den Gruppensieg in Istanbul waren die Grazer aber schon davor international in aller Munde.
"Galatasaray steht zusammen mit der Dorfmannschaft in der zweiten Runde." ("Yeni Binyil", Türkei)
"Super, wenn Außenseiter so gut mithalten können. Und jetzt brennt das Ösi-Land, oder was?" - ("Premiere World"-Kommentator Toni Schumacher)
"Ein historischer Tag für den gesamten österreichischen Fußball." - ("La Gazzetta dello Sport", Italien)
"Beide Mannschaften beendeten das Spiel lachend. Nachher brachten Galatasaray-Fans den Sturmspielern Bier in die Umkleidekabine." ("Sabah", Türkei)