Am Donnerstag trifft der SK Sturm Graz auf Serie-A-Klub Atalanta Bergamo (ab 18:45 im LIVE-Ticker>>>).
Die “Bergamaschi” bahnten sich in den letzten Jahren kontinuierlich ihren Weg unter Italiens Top-Klubs. Den vielleicht größten Anteil daran hat ein Mann: Gian Piero Gasperini, der seit Sommer 2016 das Trainerzepter bei Atalanta schwingt.
Unter seiner Ägide war Atalanta nie schlechter als Achter in der Serie A, qualifizierte sich zwischen 2019 und 2021 dreimal in Folge als Dritter für die Champions League. Die Platzierungen vor seiner Amtsübernahme: 12, 15, 11, 17 und 13.
In den Jahren 2019 und 2020 wurde er in Italien dafür zum Trainer des Jahres gewählt.
Gefeierter Held bei Ilsankers Ex-Klub
Bis zu seinem Atalanta-Engagement sorgte Gasperini vor allem als Coach von CFC Genua für Aufsehen. Er führte den Klub 2007 zurück in die Serie A und zwei Jahre später als Vierter sogar sensationell in die Europa League.
Seither gelang dem Ex-Klub von Stefan Ilsanker nie mehr eine bessere Endplatzierung. Im Jahr 2015 wurde man in Gasperinis zweiter Amtszeit noch einmal Sechster. Beim Klub aus der Hafenstadt wird er dafür bis heute verehrt.
In Genua durfte der heute 65-Jährige nach Belieben agieren. Dies vor allem deswegen, weil ihm der Erfolg Recht gab. Ähnlich verhält es sich heute bei Atalanta.
Denn in Italien ist Gasperini ein durchaus streitbarer Charakter, der diesen Freiraum braucht, andernfalls waren seine Engagements bis dato zum Scheitern verurteilt.
Bestes Beispiel: Im Sommer 2011 war er für nur fünf Spiele Trainer von Inter Mailand.
Gasperinis Strenge kam bei den Stars der “Nerazzurri”, wie Wesely Sneijder, Diego Forlan und Dejan Stankovic gar nicht gut an. “Es ist offenkundig, dass der Trainer die Mannschaft nicht mehr im Griff hat”, verlautbarte der damalige Inter-Präsident Massimo Moratti unmittelbar vor Gasperinis Entlassung.
Grau sind bei Gasperini nur die Haare
“Er wird von seinen Fans sehr verehrt und von allen anderen sehr gehasst”, bringt es Paolo Calegari auf den Punkt. Er ist als Redakteur beim vereinsnahen Portal “Atalantini Online” stets auf Tuchfühlung mit den “Bergamaschi”.
Beschäftigt man sich näher mit dem Trainer Gasperini, gibt es, sowohl was seine Persönlichkeit, als auch seine Art von Fußball betrifft, keine Graustufen, sondern nur Schwarz oder Weiß.
“Ein Mensch, der sich nie versteckt und immer sagt, was er denkt”, formuliert es Atalanta-Experte Calegari. Gasperini würde in Österreich wohl als polternder “Grantler” bezeichnet werden, der es einem nicht leicht macht, was aber analog dazu sein Erfolgsgeheimnis ist. Genau dieser Widerspruch ist es, der Gasperini ausmacht.
Einerseits zeichnet ihn sein Wille aus, niemals aufzugeben, gleichzeitig geht er dafür aber auch regelmäßig mit dem Kopf durch die Wand. Das verhilft ihm einerseits dazu, Widerstände und Hürden zu überwinden, bringt ihm aber auch jede Menge Probleme ein.
“Eine seiner negativen Seiten ist bestimmt sein Mangel an Diplomatie."
Eine Tramezzini-Kanonade für aufdringliche Fans
Im Sommer erntete Gasperini harte Vorwürfe von Joakim Maehle, der den Klub in der Übertrittszeit gen VfL Wolfsburg verließ und Gasperini einen “fast diktatorischen Ansatz” bescheinigte.
Im Februar lieferte sich Gasperini ein Verbal-Duell mit Fans, das damit endete, dass Gasperini diese mit seinem Sandwich bewarf. In Italien wird er seither gerne scherzhaft als “Gian Piero Tramezzini” bezeichnet.
Was Maehle mit seinen Vorwürfen meint? Gasperini hat einen Hang zur Launenhaftigkeit, reagiert auf Meinungen, die seiner eigene zuwiderlaufen gerne empfindlich und widerstreitend.
Der 65-Jährige weiß genau, was er will. Diskussionen zu seinen Standpunkten sind nicht sein Ding. “Eine seiner negativen Seiten ist bestimmt sein Mangel an Diplomatie”, unterstreicht Calegari.
Für Gasperini zählt zuallererst der Erfolg. Für seine Spieler gibt er klare Richtlinien vor. “Er liebt Disziplin, ist im Training sehr streng und verlangt von seinen Spielern absoluten Respekt”, erklärt der Atalanta-Experte.
“Wenn du dich daran hältst, wirst du großartige Ergebnisse erzielen”, ergänzt sein Journalisten-Kollege Alberto Giambruno, der als Reporter bei “Calcio Atalanta” ebenso hautnah am Klub dran ist.
Gasperini: "Wollen beste Version unserer Selbst sein"
Das kommt aber, ähnlich wie einst bei Inter, nicht bei jedem Spieler gut an, wie das Beispiel Maehle zeigt. Auch mit Ex-Kapitän Papu Gomez überwarf sich Gasperini. “Wenn du dich nicht in seine Muster einfügen kannst und keine Hingabe und Aufopferung zeigst, wirst du wahrscheinlich keine zweite Chance bekommen”, erläutert Giambruno.
In Bergamo folgt ihm aber das Gros der Spieler seit Jahren. “Wir wollen die beste Version unserer Selbst sein, was auch immer sich uns in den Weg stellt”, meinte Gasperini jüngst auf dem offiziellen Youtube-Kanal der Serie A. Durch diese Einstellung “konnten seine Spieler nicht nur sportlich, sondern auch charakterlich geschult werden”, befindet Alberto Giambruno.
Und dies gelingt. Es gibt eine Reihe von Akteuren, die unter Gasperini zu Nationalspielern ihres jeweiligen Landes wurden. Bei der Europameisterschaft 2021 standen acht Atalanta-Profis aus sieben verschiedenen Ländern im Achtelfinale. Damit war Atalanta in genauso vielen Nationalmannschaften vertreten wie die beiden Champions-League-Finalisten aus jenem Jahr, der FC Chelsea und Manchester City.
Gasperini hat den “Bergamaschi” eine fußballerische Identität verliehen. “Er ist mehr als ein Trainer. Ich würde ihn als Lehrer bezeichnen. Er versucht immer, seine Ideen und sein Spiel durchzusetzen”, sagt “Calcio Atalanta”-Redakteur Giambruno.
"Der Fußball entwickelt sich ständig weiter. Auf diese Entwicklung muss man vorbereitet sein. Das gilt auch für mich: Es ist immer wichtig zu sehen, wie weit ich gehen kann.”
"Totaler Fußball" - die Bergamo-Edition
Gasperini bezeichnet sich selbst als großer Anhänger des von den Niederländern, angeführt von Johan Cruyff, geprägten “Totalen Fußballs”. Dies spiegelt sich auch im Spiel seiner Mannschaften wider.
Eine seiner Haupttugenden ist es, sein Team vor allem über die Flügel kommen zu lassen, wobei die Außenverteidiger dabei stets den Weg nach vorne suchen. Auch die Innenverteidiger, wie Jungstar Giorgio Scalvini, rücken immer wieder mit auf. In der Vorsaison sammelten diese starke 17 Torbeteiligungen.
Eines von Gasperinis Grundprinzipien ist “mehr Tore, mehr Erfolgswahrscheinlichkeit.” Ein Blick auf die Zahlen bestätigt dies. Atalanta galt in den letzten Jahren als Tormaschine der Serie A.
Zwischen 2018 und 2021 erzielte das Team aus Bergamo nicht weniger als 265 Liga-Tore. Zählt man den Cup und die internationalen Bewerbe hinzu, sind es sogar 332.
Das ging aber oft zulasten der Defensive. Die Bereitschaft, auch mit den Verteidigern treffen zu wollen, erschafft für den Gegner die Möglichkeit, bei einem Gegenangriff ein Tor zu erzielen. “Und das ist mehr als ein paar Mal passiert, und zwar auf vermeidbare Weise”, erklärt Alberto Giambruno.
Seit Gasperinis Amtsantritt kassierte Atalanta erst einmal weniger als 40 Gegentore. Das war in der Saison 2017/18 und selbst da waren es 39. Damit hat Atalanta unter den Top-5-Teams der Serie A in den letzten fünf Jahren den höchsten Gegentor-Schnitt.
Lob von Mourinho: "Taktisch größter Widersacher"
“Er versucht immer hartnäckig, seine Spiele zu gewinnen”, erklärt Paolo Calegari. Steht es kurz vor Ende unentschieden, schickt Gasperini gerne einen weiteren Angreifer aufs Feld.
Das führt unweigerlich zu mehr Räumen für den Gegner. “Deshalb verliert er manchmal Spiele”, so Calegari, weil “er sich nicht mit einem Unentschieden zufrieden gibt.”
Auch für sein taktisches Wissen wird Gasperini oft gelobt. Nicht nur von den Medien, sondern auch von Trainerkollegen. Jose Mourinho bezeichnete ihn einst als seinen “taktisch größten Widersacher.”
Gasperini sagte vor geraumer Zeit gegenüber der “Repubblica” über sich selbst als Trainer: “Der Fußball entwickelt sich ständig weiter. Vielleicht ist etwas von vor drei, vier Jahren schon überholt. Auf diese Entwicklung muss man vorbereitet sein, man muss sie erkennen und sich anpassen. Das gilt auch für mich: Es ist immer wichtig zu sehen, wie weit ich gehen kann.”
Gasperini, der Spieler-Entwickler
“Er ist sehr stark darin, Spieler aus dem Nichts zu erschaffen oder ihre Rollen dramatisch zu verändern. Das hat er schon unzählige Male getan”, wie Paolo Calegari schildert.
Soll heißen: Gasperini formt vormalige “No-Names” und gescheiterte Spieler zu Stars. Ein Beispiel hierfür ist etwa Robin Gosens. Den Deutschen, dem kaum mehr jemand eine große Karriere zutraute, holte der 65-Jährige einst von Heracles Almelo und machte aus dem zentralen Mittelfeldspieler einen offensiven Außenverteidiger. So wurde Gosens zum deutschen Nationalspieler und wechselte später zu Inter Mailand.
Bei Ademola Lookman verhielt es sich ähnlich. Der vormalige Flügelspieler kam bei Leipzig nicht zurecht, auch Leihen in die Premier League halfen nicht. Gasperini machte aus ihm eine hängende Spitze, mittlerweile gilt Lookman als einer der Besten auf seiner Position in der Serie A.
Auch ist er sich nicht zu schade, unbekannte Namen ins kalte Wasser zu werfen. Als Atalanta im März 2022 eine lange Verletztenliste hatte, nahm Gasperini den U19-Spieler Moustapha Cisse mit nach Bologna und in seinem ersten Profispiel überhaupt traf der junge Mann aus Guinea zum 1:0-Sieg. Cisse kannten bis dahin selbst eingefleischte Atalanta-Fans nicht. Er kam als Flüchtling ins Land und wurde erst wenige Wochen zuvor bei einem Benefizspiel entdeckt.
"...dann ist es Zeit für eine Veränderung"
Die Kombination Gasperini und Atalanta, sie funktioniert. Das tut sie vorwiegend deswegen, weil man den “Grantler” dort so sein lässt, wie er ist. Das führt manchmal zu Problemen, aber noch viel öfter zum Erfolg.
Dafür ist der 65-Jährige auch überaus dankbar. “Ich habe großen Respekt vor dem Klub, und die Menschen hier bringen mir sehr viel Wertschätzung entgegen”, sagte er vor Kurzem.
Auf ihn verzichten wird man in Bergamo aus freien Stücken so schnell nicht müssen, wie er klarstellt: “Ich bin hier an einem wunderbaren Ort. Es gibt nichts, worüber ich mich beklagen könnte. Das lässt mich immer weiter machen und ich werde nicht müde.”
Ein Sesselkleber ist er deswegen aber nicht. Jener Gasperini, der so nach Erfolg giert, tut dies nicht zuletzt deswegen, um den Fans etwas zurückzugeben. Der Mann hat auch eine durchwegs weiche Seite, wie folgendes Zitat zeigt:
“Wenn ich den Menschen nicht mehr diese Freude und die Emotionen geben kann, die sie erwarten, ist es an der Zeit für eine Veränderung.”
Setzt er seinen bisherigen Weg weiter so erfolgreich fort, wird er sich mit Veränderungen höchstens hinsichtlich seines Kaders beschäftigen müssen. Nämlich dann, wenn wieder der eine oder andere Atalanta-Profi zu einem größeren Klub wechselt.