24 Vereins-Trainer betreuten Paul Scharner während seiner Profi-Karriere - nach Joachim Löw 2014 könnte zum zweiten Mal in Folge einer von ihnen Weltmeister werden.
Während die Erinnerungen des Niederösterreichers an den DFB-Teamchef tendenziell eher ambivalenter Natur sind, denkt er an die gemeinsamen Zeiten mit Roberto Martinez bei Wigan umso lieber zurück.
Gleich zwei Mal trainierte Scharner beim Premier-League-Verein unter der Anleitung des nunmehrigen Teamchefs von Belgien - erstmals in der Saison 2009/10 und danach wieder im Frühjahr 2013, als man gemeinsam den Triumph im FA-Cup bejubeln durfte, aber auch den Abstieg beweinen musste.
"Ein sehr akribischer Arbeiter", lobt der frühere ÖFB-Teamspieler den Spanier im Gespräch mit LAOLA1.
Spanisch angehaucht
"Er hatte nicht die große Spielerkarriere, hat jedoch durch Horizonterweiterung sein Trainer-Dasein entwickelt. Er hat in England und Schottland gespielt und sich dann hochgearbeitet. Erst über Swansea zu Wigan in die Premier League, danach zu Everton. Er konnte wirklich viel Erfahrung sammeln und das merkt man auch", verdeutlicht Scharner.
Martinez ist erst 44 Jahre alt, jedoch schon über ein Jahrzehnt als Trainer im bezahlten Fußball tätig. Als er Scharner bei Wigan erstmals trainierte, war er gerade erst 36 Jahre alt.
Schon damals sei seine Handschrift erkennbar gewesen, aber auch seine Herkunft: "Er legt sehr viel Wert auf Taktik. Er ist ein Verfechter der Dreierkette, bei meinem zweiten Engagement bei Wigan haben wir das oft gespielt. Und er schaut natürlich auf Ballbesitz. Da ist er Spanisch angehaucht, auch wenn er schon länger in England arbeitet. Ballbesitz ist bei ihm die Grundüberlegung."
Der Spanier, der alle Belgier eint
Dieser Tage gilt Martinez als der Spanier, der alle Belgier eint. In Zeiten des Erfolgs ist es vermutlich auch leichter, Einigkeit an den Tag zu legen. Das Thema einer etwaigen Zweiteilung in der Mannschaft in Flamen und Wallonen ist derzeit kaum präsent.
"Martinez ist mehr oder weniger ein Visionär und wollte in Wigan etwas Großes aufbauen. Mit Vereins-Boss Dave Whelan hatte er einen Förderer, dem er auch einige Versprechen bezüglich Jugendförderung und Entwicklung eigener Talente abringen konnte, denn das hat es in Wigan ja gar nicht gegeben, bevor Martinez gekommen ist."
Die Frage Flämisch oder Französisch beantwortete Martinez mit der für ihn ohnehin einzig umsetzbaren Antwort: Englisch.
Und auch ansonsten macht die Herkunft für ihn keinen Unterschied, wie er unlängst in der "Welt" beteuerte: "Vielleicht liegt es auch daran, dass ich neutral bin. Aber ich habe nie einen Unterschied festgestellt. Wenn sie zusammen sind, dann sind die Jungs in allererster Linie Fußballer."
Wenn gesellschaftliche Risse drohen, ist ein Einfluss von außen, wie ihn Martinez in Belgien darstellt, womöglich generell keine schlechte Idee. Dies findet auch Scharner:
"Am Anfang gab es natürlich einen Aufschrei, ganz klar. Aber ich glaube, dass es speziell im belgischen Fall, wo verschiedene Kulturen aufeinandertreffen, ganz gut ist, wenn da nicht unbedingt einer dabei ist, der mittendrin steht, sondern von außen kommt. Außerdem kommt das Konzeptionelle und planmäßige Arbeiten, das Martinez gerne macht, ganz gut an. Außerdem hat er geschaut, dass er die Positionen in der Mannschaft neu definiert. Da hat er auch Umstellungen nicht gescheut."
Martinez in Wigan als Visionär
Das große Ganze und nicht nur das Tagesgeschäft im Blick zu haben, hat den Coach schon in Wigan ausgezeichnet. "Martinez ist mehr oder weniger ein Visionär und wollte in Wigan etwas Großes aufbauen", erzählt Scharner.
"Mit Vereins-Boss Dave Whelan hatte er einen Förderer, dem er auch einige Versprechen bezüglich Jugendförderung und Entwicklung eigener Talente abringen konnte, denn das hat es in Wigan ja gar nicht gegeben, bevor Martinez gekommen ist. Mit dem Abstieg wurde das leider abgebrochen und Martinez ist zu Everton gewechselt."
Das Verhältnis zu Martinez sei für Scharner auch ausschlaggebend gewesen, warum er 2013 im Frühjahr leihweise vom Hamburger SV auf die Insel zurückkehrte.
"Graeme Jones, der auch jetzt in Belgien der Co-Trainer von Martinez ist, hat mich angerufen und die Vorgespräche mit mir geführt. Er musste abchecken, ob ich wirklich Innenverteidiger spielen will", lacht der 40-fache A-Teamspieler, "in Hamburger Zeiten hatte ich mich mittlerweile aber eh schon als Innenverteidiger deklariert."
Martinez und der Innenverteidiger Paul Scharner
Ein Thema, das der 38-Jährige nicht von ungefähr anspricht. Ob Scharner nun ein Innenverteidiger oder ein defensiver Mittelfeldspieler ist, sorgte damals durchaus für Diskussionen, auch im Nationalteam. Martinez war stets ein Beförworter der Nominierung in der Abwehrzentrale und verkündete noch im Mai 2013: "Wenn er sich total darauf fokussiert, kann er einer der besten Innenverteidiger Europas sein."
"Paul ist inzwischen ein reifer Spieler, der den starken Wunsch hat, seinem Team zu helfen, dass die Null steht und weniger mit offensiven Vorstößen, wie er es früher immer getan hat. In der jetzigen Phase seiner Karriere ist er jemand, der sich für jene Position entschieden hat, die ich immer als seine beste Position angesehen habe. Selbst als Innenverteidiger war er immer der Meinung, dass er das Team in der Offensive unterstützen und versuchen muss, ein Tor zu erzielen. Alles, was ich von ihm will, ist weiter Spaß beim Fußball zu haben und seine Position als Innenverteidiger zu meistern."
So drückt man höflich aus, dass es genügt, sich in erster Linie aufs Verteidigen zu konzentrieren. Dass es 2009/10 in der ersten Saison der Zusammenarbeit immer wieder Diskussionen über die Position gab, leugnet Scharner gar nicht, nimmt dies jedoch mit Humor und erzählt lachend von den Freiheiten unter Martinez:
"Ich war so eine Art Freigeist für ihn. Ich habe in meiner ersten Zeit unter ihm immer Innenverteidiger trainiert und nie im Mittelfeld, aber dann hat er mich fast immer im Mittelfeld spielen lassen - wahrscheinlich, damit ich immer für eine Überraschung gut bin und ja nichts Einstudiertes mache."
England durchbricht Barrieren
Viel zu lachen hatte man gemeinsam mit dem Triumph im FA-Cup - im Finale konnte man Manchester City 1:0 niederringen. Freud und Leid wechselten sich vor fünf Jahren jedoch in rasantem Tempo ab:
"In England ist es wirklich schon chronisch geworden, im Prinzip hat man gesagt: 'Ja, die Erwartungshaltung ist groß, aber spätestens im Viertelfinale sind wir eh ausgeschieden.' Jetzt steht man im Semifinale, der Torhüter funktioniert und die psychologische Barriere im Elfmeterschießen ist auch weg. Also haben sie jetzt drei Barrieren auf einmal durchbrochen."
"Als ich unterschrieben habe, war für mich ganz wichtig, dass Wigan noch im FA-Cup mit dabei war. Für einen Klub, der immer gegen den Abstieg spielt, kann so eine Zusatzbelastung jedoch ausschlaggebend sein, ob er absteigt oder nicht. Das ist dann leider auch so gekommen. Es war ein bisschen unglücklich, dass das FA-Cup-Finale nicht am Ende der Saison nach der Meisterschaft war, sondern mittendrinnen. Das war eine ungewohnte Situation und man weiß eh, was dabei rausgekommen ist."
Der Abstieg war das Ende der Legionärs-Zeit von Scharner in England, das genau wie sein Ex-Coach noch vom WM-Titel träumen darf. Dass die Erwartungshaltung im Mutterland des Fußballs vor Turnierbeginn diesmal relativ gering war, ist für Scharner ein Vorteil:
"Ich bin der Meinung, dass Teamchef Gareth Southgate diese Weltmeisterschaft hernimmt, um wieder den Glauben im Volk zu wecken. In England ist es wirklich schon chronisch geworden, im Prinzip hat man gesagt: 'Ja, die Erwartungshaltung ist groß, aber spätestens im Viertelfinale sind wir eh ausgeschieden.' Jetzt steht man im Semifinale, der Torhüter funktioniert und die psychologische Barriere im Elfmeterschießen ist auch weg. Also haben sie jetzt drei Barrieren auf einmal durchbrochen."
Titel im Vorbeigehen auf dem Weg zur WM 2022?
Der totale Schnitt im Kader habe gut getan, zudem würden die Erfolge der Nachwuchs-Nationalteams für die geleistete Arbeit sprechen. Dan Ashworth, einst Scharners Sportdirektor bei West Bromwich, ist in der FA für die Talenteförderung zuständig.
"Bei ihm auf der Tafel steht ganz groß das Ziel Weltmeister 2022. Es wäre für mich eine riesengroße Überraschung, wenn sie es dieses Mal schon machen würden. Denn ich weiß, was Gedankenkraft und Zielsetzung bedeutet und ich glaube nicht, dass sie sich diesmal das Finale als Ziel gesetzt haben. Für Southgate ist diese WM mehr eine Testphase. 2022 wäre es für mich keine Überraschung mehr. Aber gut, vielleicht nutzen sie die Gunst der Stunde und nehmen diesmal den Titel im Vorbeigehen mit - auf dem Weg zu 2022", lacht Scharner.
Der Niederösterreicher ist jedoch skeptisch, dass der WM-Erfolg wie von Southgate gewünscht ein Forcieren von jungen englischen Spielern in der Premier League nach sich zieht:
"Ich denke, der Erfolg liegt mehr an der FA als an der Premier League. Die FA hat vor fünf, sechs Jaren auf das Akademie-System umgestellt und kontroliert wirklich permanent, ob die Qualität in den Akademien hoch ist. Meiner Meinung nach ist es aber für die englischen Talente weiterhin schwierig, gleich in der Premier League Fuß zu fassen, wenn man die Historie anschaut. Man denke nur daran, wie viele Leihgeschäfte sogar ein Harry Kane hatte (Leyton Orient, Millwall, Norwich, Leicester), bevor er bei Tottenham eingeschlagen hat. Es kommen schon immer wieder mal Talente wie Marcus Rashford raus, aber so viele sind es nicht. Es ist immer noch eher unüblich, dass man mit 18 in der Premier League spielt."
Frankreich kompletter
Während Scharner mit England seiner früheren Wahlheimat den WM-Titel diesmal noch nicht wirklich zutraut, setzt er auch nicht auf seinen früheren Coach. Geht es nach ihm, bleibt Martinez mit Belgien ein Geheimfavorit:
"Ich glaube, dass Frankreich kompletter ist. Es wird eine sehr knappe Partie, aber letztendlich setzt sich Frankreich durch."