In der Serie "Das Tor zur Welt" nehmen wir internationale Fußball-Klubs und ihre Geschichten genau unter die Lupe. Wir beleuchten die Hintergründe, die in der schnellen, täglichen Berichterstattung gerne untergehen.
Vom FC Girona über Europas größten Fußballklub IF Brommapojkarna, den Fan-Verein CS Lebowski bis hin zum X-Hype um den FC Brinje haben wir schon einige Klubs portraitiert. Hier kannst du alle nachlesen >>>
In dieser Ausgabe geht es um den deutschen Kult-Klub FC St. Pauli - der Hamburger Hafen wird gerne als Tor zur Welt bezeichnet, also sollte es vor dem Hamburger Derby in unserer gleichnamigen Serie um jenen Verein gehen, der unweit davon mehr als einen Stadtteil bewegt.
Kein Mensch ist illegal. Kein Fußball den Faschisten.
Diese Botschaften zieren das Stadion am Millerntor mehr als nur prominent.
Klare Ansagen. Klare Haltung. Klare Positionierung. Keine Kompromisse.
Wenn es um seine Grundwerte geht, lässt der FC St. Pauli wenig Raum für Missverständnisse - und das seit Jahrzehnten.
Gesellschaftliche Verantwortung folgt bei diesem Verein keinem Marketing- oder Mainstream-Gedanken, sondern gehört zur DNA.
Diesen Grundkonsens muss man unterschreiben können, wenn man sich auch nur im weitesten Sinne als Teil der Pauli-Welt sehen möchte.
Und dies tun bekanntlich nicht gerade wenige Menschen. Der Hamburger Stadtteilverein ist schon lange kein lokales Phänomen mehr, sondern verfügt weltweit über Millionen von Sympathisanten, auch wenn man bei vielen mutmaßlich als klassischer Zweit- oder Drittverein dient.
Bekanntlich gilt dies ja sogar für Uli Hoeneß. Aber dazu ein wenig später mehr.
Die Kraft einer Aufstiegs-Saison
Auch der Schreiberling dieses Textes bemüht sich erst gar nicht, eine gewisse Sympathie zu leugnen. So viel Transparenz muss sein, auch wenn die Beschäftigung mit dem Klub über die Jahre eine sehr unregelmäßige wurde.
Im Herbst 2000 führte mich ein Praktikum aus der österreichischen Heimat nach Hamburg, was sich als recht praktisches Timing erwies, schließlich gelang dem FC St. Pauli in der Saison 2000/01 mit dem Österreicher Heinz Weber als Tormann der Aufstieg in die deutsche Bundesliga.
Die Kraft, die dieser Verein in Zeiten der Euphorie entwickeln kann, aus nächster Nähe mitzuerleben, war durchaus faszinierend.
Vor allem bei Besuchen am Millerntor, das damals noch eine ziemliche Bruchbude war, wenngleich eine charmante. Und irgendwie schien bei manchen Besuchern nicht nur Love in the Air gewesen zu sein, sondern auch die eine oder andere Substanz. Aber wer weiß das schon so genau…
Auch in diesem Text wird sich das eine oder andere Pauli-Klischee nicht vermeiden lassen, also bringen wir eines der bekanntesten gleich hinter uns, denn es war so etwas wie die allererste Lektion, die ich damals erfuhr:
In diesem Stadion sitzt der Rechtsanwalt neben der Prostituierten, der Schlipsträger neben dem Arbeiter - bei einem Tor liegen sich alle in den Armen, wird gemeinsam gejubelt. Soll übersetzt heißen: Bei uns sind alle gleich, ganz gleich welchem Milieu man angehört.
Oder wie es der Verein in seinen Leitlinien formuliert: Es gibt keine "besseren" oder "schlechteren" Fans.
Erster gegen Zweiter im Derby
Springen wir in die Gegenwart. Fußball-Europa blickt in dieser Woche nach Hamburg, schließlich geht die Auslosung der EM-Gruppen am Samstag in der "Elphi" über die Bühne.
Am Tag zuvor findet indes ein fußballerisches Ereignis statt, das zumindest die Hansestadt noch weit mehr emotionalisiert (und nein, das ist kein Seitenhieb auf den bemitleidenswerten Zustand der deutschen Nationalmannschaft).
Das Derby FC St. Pauli gegen Hamburger SV (Freitag, 18:30 Uhr im LIVE-Ticker).
Bei diesem Anlass braucht es schon unter normalen Umständen nicht die traditionellen Klänge des AC/DC-Klassikers "Hells Bells", um für eine Mischung aus Gänsehaut und massiv erhöhtem Ruhepuls zu sorgen.
Diesmal sind die Umstände alles andere als normal.
Erster gegen Zweiter. Tabellenführer St. Pauli gegen Verfolger HSV. Zwei erbitterte Erzrivalen, die von der Rückkehr ins Oberhaus träumen, im direkten Duell.
"Mehr geht nicht", findet Fabian Hürzeler.
Fabian Hürzeler? Fabian Hürzeler!
Das ist der Trainer des FC St. Pauli. Wer mit diesem Namen bislang nicht in Berührung gekommen ist, sollte ihn schnell wenigstens im Hinterkopf abspeichern, denn dass der gute Herr im Fußball-Business recht bald von noch größerer Relevanz sein wird, ist keine allzu mutige Prognose.
Vielleicht ist er noch nicht der neue "König von St. Pauli", aber zumindest schon der Trainer-Prinz.
Hürzeler: Mit vielen Österreichern im Bayern-Nachwuchs
Die Vorstellung im Eilverfahren: 30 Jahre junger Deutsch-Schweizer. Der Papa ist Schweizer, die Mama Deutsche, der Geburtsort ist Houston, da sein Vater dort als Zahnarzt arbeitete – daher besitzt er wegen des Geburtsortsprinzips auch die US-Staatsbürgerschaft.
Noch im frühen Kindesalter ging es für die Familie erst nach Freiburg, dann nach München und dort – übrigens entdeckt von Hermann Hummels (dem Vater von Mats) - in den Nachwuchs des FC Bayern München, an dem sein Herz nach wie vor hängt.
Zur großen Fußballer-Karriere reichte es nicht, auch wenn er es bis zur U19 in Junioren-Auswahlen des DFB und bei den Bayern bis zur zweiten Mannschaft schaffte.
Im Bayern-Nachwuchs kickte er an der Seite von zahlreichen Österreichern wie Alessandro Schöpf (56 gemeinsame Spiele), Ylli Sallahi (40), Kevin Friesenbichler (36), Christian Derflinger (35), Dominik Burusic (28), Oliver Markoutz (19), Dominik Traunmüller (7), Toni Vastic (6) und Christoph Knasmüllner (2).
Als er im Alter von 12 zu den Bayern gekommen ist, sei er einer der Schlechtesten im Team gewesen, wie er im Interview mit "11Freunde" bekundete. Insofern hat er es recht weit gebracht, gleichzeitig habe er sich gut einschätzen können:
"Emre Can hat mit mir bei den Bayern gespielt, und was der an Athletik mitbrachte, das habe ich heute noch nicht. Der konnte laufen, war robust, hatte das Zeug zum Bundesliga-Spieler. Mit ihm konnte ich nur mithalten, wenn wir im Eckchen Vier-gegen-Zwei gespielt haben."
Eine spektakuläre Ausbeute
Zur Erkenntnis, dass er das Zeug zum Bundesliga-Trainer hat, könnte Hürzeler dafür recht zeitig gelangt sein.
Nach weiteren Spieler-Stationen in den zweiten Mannschaften von Hoffenheim und 1860 München übernahm er 2016 als Spielertrainer den FC Pipinsried, den er auf Anhieb in die Regionalliga Bayern führte. Dies kombinierte er im Laufe der Jahre mit Co-Trainer-Funktionen im DFB-Nachwuchs.
Im Sommer 2020 heuerte er beim FC St. Pauli als Assistent von Timo Schultz an, im Dezember 2022 trat er die Nachfolge des beliebten Coaches an.
Und, wie soll man sagen? Was seither folgte, ist selbst dann als spektakulär einzuordnen, wenn man sich um bewusste Untertreibung bemüht.
"Zwangsläufig kommen solche Vergleiche. Aber von einem Nagelsmann bin ich noch meilenweit entfernt. Und jemanden kopieren, das geht nie gut."
Hürzeler übernahm den Kiezklub punktegleich mit dem ersten Abstiegsrang auf dem 15. Platz.
Zehn Siege in den ersten zehn Liga-Spielen lassen sich als Beweis dafür einordnen, dass es den Trainereffekt manchmal doch gibt, und sind auch neuer Zweitliga-Rekord.
Es folgte im April eine "hartnäckige" Krise, weil zwei Spiele aufeinander verloren gingen (darunter das Hamburger Derby). Es sollten die einzigen beiden Niederlagen seiner bisherigen Amtszeit bleiben. Seither folgten ausnahmslos Siege oder Unentschieden.
Der bisherige Punkteschnitt als Pauli-Coach? 2,33.
Dass es bezüglich des aufgehenden Trainer-Sterns vor Nagelsmann-Vergleichen nur so wimmelt, wird niemanden überraschen.
Auch Hürzeler nicht, der im "Blick" wiefolgt zitiert wird: "Zwangsläufig kommen solche Vergleiche. Aber von einem Nagelsmann bin ich noch meilenweit entfernt. Und jemanden kopieren, das geht nie gut."
Ein ÖFB-Legionär und ein Ex-LASK-Stürmer
Also geht der Jungstar, der aus gutem Grund nicht gerne als Laptop-Trainer bezeichnet wird ("Jeder Trainer hat einen Laptop"), seinen eigenen Weg und formte aus dem FC St. Pauli eine defensiv schwer zu bezwingende Mannschaft (elf Gegentore sind Liga-Bestwert), die für guten Fußball steht. Es gibt routinierte Anhänger, die von der spielstärksten Pauli-Mannschaft seit Jahrzehnten sprechen.
Und dies mit einem Kader, der in seiner Amtszeit zwar mit weitestgehend gelungenen Transfers verstärkt wurde, den man allerdings dennoch im Bereich leistbare No-Name-Truppe einordnen darf.
Der Marktwert des Kaders beträgt laut "transfermarkt" 23,8 Millionen Euro, der durchschnittliche Marktwert eines Pauli-Spielers 952.000 Euro – damit liegt man im Österreich-Vergleich ungefähr im Bereich hinter Rapid (30,5 Mio. bzw. 1,02 Mio Im Schnitt) und vom LASK (28,2 Mio bzw. 911.000 im Schnitt).
Aus seiner Zeit beim LASK kennt man auch den sechsfachen Saison-Torschützen Johannes Eggestein, der sich hinter Marcel Hartel (sieben Liga-Tore) in der internen Schützenliste auf Rang zwei einreiht.
Ansonsten handelt es sich um eine Multi-Kulti-Truppe, die vom australischen Nationalspieler Jackson Irvine bis zu Karol Mets, zuletzt Kapitän von Estland gegen Österreich, reicht.
Aus heimischer Sicht bekanntester Name ist Innenverteidiger David Nemeth. Der Burgenländer hält in dieser Spielzeit nach langer Leidenszeit wegen einer Schambeinentzündung bislang bei drei Liga-Spielen.
Der 22-Jährige schloss sich dem Verein im Sommer 2022 an und ist nach Weber, Michael Gregoritsch, Dejan Stojanovic und Guido Burgstaller der fünfte Pauli-Legionär in Rot-Weiß-Rot.
Der Weltpokalsiegerbesieger
Ob Nemeth (Vertrag bis 2026) ab der kommenden Saison einem deutschen Bundesligisten FC St. Pauli angehören wird, wird sich weisen. Dass die Aufstiegs-Träume rund ums weltberühmte Amüsierviertel an der Reeperbahn sehr präsent sind, ist nur allzu logisch.
Letztmals wurde 2010/11 die Totenkopf-Flagge in der deutschen Bundesliga gehisst, nach nur einer Saison ging es zurück in die Zweitklassigkeit.
Der eingangs erwähnte Aufstiegshype 2000/01 endete in noch viel größerer Tristesse. 2002 folgte der prompte Abstieg, 2003 der nächste – binnen zwei Jahren folgte der Absturz aus der Beletage des deutschen Fußballs in die Bedeutungslosigkeit der drittklassigen Regionalliga Nord.
Und wenn das wenigstens die einzige Sorge gewesen wäre…
Auftritts-Applaus für Uli Hoeneß.
Als klassischer Anti-Establishment-Verein genoss der Macher des FC Bayern unter Pauli-Fans lange Zeit nicht die allerhöchsten Sympathiewerte, um es höflich auszudrücken.
In der Bundesliga-Saison 2001/02 lief wenig bis gar nichts zusammen, aber der 2:1-Heimsieg gegen den FC Bayern am 6. Februar 2002 hat einen Fixplatz in der Historie des notorischen Underdogs.
Der "Weltpokalsiegerbesieger" war geboren.
So schön dieser gelungene Marketing-Gag war, er verhinderte nicht jene finanzielle Notlage, in welche der Verein im Zuge des Absturzes in die Drittklassigkeit geriet.
Als das Bier im Gesicht von Hoeneß landete
Am 12. Juli 2003 war es Hoeneß, der den FC Bayern zum legendären "Retterspiel" vor 20.000 Zuschauern am Millerntor antreten ließ und somit half, 200.000 Euro in die leeren Vereinskassen zu spülen.
Dabei schlüpfte auch Hoeneß in eines jener kultigen "Retter"-Shirts, die weit mehr als nur ein Marketing-Gag waren. Die Legende besagt, dass schon bald in Europa keine braunen T-Shirts mehr aufzutreiben waren.
Hoeneß macht auch 20 Jahre später kein Geheimnis daraus, dass er zu den vielen Sympathisanten gehört.
"Ich ertappe mich beim Mitfiebern für St. Pauli, weil ich will, dass die wieder nach oben kommen. Mir gefällt es, wenn jemand für schwarz oder weiß steht, nicht für grau, sich klar positioniert. Das trifft auf den FC St. Pauli ebenso zu wie auf den FC Bayern", erklärte Hoeneß Anfang dieses Jahres im Podcast "Don’t call it a Kultclub".
Dabei erinnerte sich Hoeneß auch an jene Zeiten, in denen er am Millerntor keinen Beliebtheitspreis gewonnen hätte, etwa in den 90ern: "Es flog Kleingeld in Richtung unserer Bank, und da der Weg in die Kabinen damals noch durch eine Gaststätte führte, wurde mir einmal ein halber Liter Bier ins Gesicht geschüttet."
Der Spagat zwischen Totenkopf-Romantik und Kommerz
Vielleicht sind es auch die Einnahmen aus den "Retter"-Shirts, die verdeutlichen, dass selbst der FC St. Pauli sich am Weg in die Fußball-Moderne nicht allen Entwicklungen verschließen konnte. Ganz im Gegenteil.
Auch am Millerntor steht inzwischen eine Arena. Der Spagat zwischen kultiger Totenkopf-Romantik und branchenüblichem Kommerz ist nicht immer einfach.
Und bei aller positiver Fankultur, bei allen Werten, bei aller Haltung sollte nicht das Missverständnis aufkommen, dass Hoeneß in der Vereinsgeschichte der einzige Kontrahent war, den man nicht sonderlich lieb hatte.
Die überwiegend links zu verortende Fanbasis scheut praktisch keine Konflikte mit politisch überwiegend anders orientierten Fanszenen.
Und stadtintern sorgt der HSV verlässlich für erhöhten Blutdruck. Wer einmal ein Hamburger Derby miterlebt hat, weiß, dass selbiges auch mal an den Rand eines Abbruchs geraten kann.
Am 10. März 2019 durfte ich beim ersten Derby am Millerntor nach einem knappen Jahrzehnt Pause zugegen sein. Die beidseitigen Pyro-Festspiele gingen gerade aus deutschem Blickwinkel nicht als Laternenfest durch.
In den vergangenen Jahren wurde das Hamburger Derby regelmäßiger ausgetragen, da dem einstigen Bundesliga-Dino HSV die Rückkehr nicht und nicht gelingen möchte. Die erhöhte Gewohnheit mindert die Brisanz jedoch nicht wirklich.
Gerade diesmal. Erster gegen Zweiter. Mehr geht nicht. Oder doch?
Natürlich ginge mehr. Zum Beispiel wenn tatsächlich beide aufsteigen und ihre Rivalität in der kommenden Saison vor Bundesliga-Publikum präsentieren könnten.