Schauplatz Augsburg - genauer gesagt, die WWK Arena des hiesigen FC am frühen Abend des vergangenen Sonntags.
Edin Terzic galoppiert an der Seitenlinie und schwingt seine Jubelfaust in den Himmel. Rund 84 Minuten zuvor bat der Trainer von Borussia Dortmund um Unterstützung von oben, ließ ein kurzes Stoßgebet von seinen Lippen.
Terzic ersuchte um himmlischen Beistand vor der druckvollen Auswärtsaufgabe beim bayrischen Tabellenvierzehnten der deutschen Bundesliga – er wurde erhört.
Sturmtank Sebastien Haller schnürt in besagter Spielminute seinen Doppelpack und erhöht auf das so wichtige 2:0. Kurz vor Spielende war die Aussicht am anderen Tabellenende nämlich eine, die einem Traum glich:
Der FC Bayern München patzte auf den letzten Metern der Saison im Top-Spiel gegen RB Leipzig (1:3) und gab damit den Ball direkt an den BVB weiter, der mit einem Sieg am vorletzten Spieltag die Tabellenspitze zurückerobern konnte.
Auf Klopps Spuren
Gesagt getan. Dortmund legte durch Julian Brandt einen weiteren Treffer nach (90.+3) und beseitigte den letzten Millimeter Restzweifel.
In Augsburg ließ sich die Terzic-Truppe kaum Druck anmerken - im Gegenteil. Während in München lange und enttäuschte Gesichter zurückblieben, durften Terzic und Co. ein strahlendes Lächeln aufsetzen und mit breiter Brust gen finaler Runde blicken.
Die Jubelfaust von Terzic erinnert dabei an fast schon ikonische Szenen, die der letzte Meistermacher von Dortmund lieferte.
Elf Jahre ist es mittlerweile her, dass Jürgen Klopp zuletzt die Dominanz der Bayern brach und dem BVB in den Jahren 2011 und 2012 den deutschen Meistertitel bescherte.
Auf Klopps Spuren könnte Edin Terzic nun eine ähnliche Erfolgsgeschichte schreiben, die der nunmehrige Liverpool-Coach hinterließ.
Was wurde aus: Dortmunds Meisterkader 2011/12
Scout und Trainer in Dortmund
Um das große Ganze besser zu verstehen, ist es durchaus wert, das Rad der Zeit zu den Anfängen der Trainerkarriere von Terzic zu drehen:
Der in Menden (Nordrhein-Westfalen) als Sohn bosnisch-kroatischer Eltern geborene Terzic gilt schon seit langem als bekennender BVB-Fan und startete noch während seiner aktiven Fußballerkarriere, die mit Einsätzen in der deutschen Oberliga und Regionalliga ihre Höhen erreichte, seine Trainer-Laufbahn bei Dortmund.
Im Jahr 2010 heuerte er zunächst als Scout sowie als Co-Trainer der U19-Mannschaft beim BVB an, um in weiterer Folge bei der zweiten Mannschaft sowie der U17 weitere Erfahrungen zu sammeln.
Als hauptverantwortlicher Cheftrainer sollte Terzic im Sommer 2013 dann die U16 übernehmen. Es kam jedoch anders.
Ex-Rapidler Kavlak wird Terzics Freund
Im Zuge seiner Tätigkeit als Scout lernte er Trainer Slaven Bilic kennen, der ihn als Co-Trainer in die Türkei zu Besiktas Istanbul lotste. Dort wiederum machte der damals noch aktive Ex-ÖFB-Teamspieler Veli Kavlak Bekanntschaft mit Terzic.
"Wenn ich mich nicht täusche, war die erste Begegnung während des Trainingslagers in Österreich. Er ist etwas später dazugestoßen", erinnert sich Kavlak im Gespräch mit LAOLA1 zurück.
Der nunmehrige U15-Trainer von Rapid Wien wurde schnell zu einer Bezugsperson für Terzic, auch weil sie sich auf Deutsch unterhalten konnten. "Ich habe ihn auch bei der Wohnungssuche und bei der Kommunikation mit dem Immobilienmakler unterstützt. Daraus ist dann eine Freundschaft entstanden."
Kavlak lernt Terzic als "sehr wortgewandten" Trainer und "witzigen Kerl" kennen, der immer "einen Spruch parat hatte". "Das hat mir sehr gefallen. Es waren humorvolle Zeiten mit ihm", betont der heute 34-Jährige. "Dabei lieferte er aber auch Sätze, die einen zum Nachdenken angeregt haben."
Darüber hinaus beschreibt Kavlak seinen Freund Terzic als detailorientierten und fast schon "besessenen Arbeiter", der den Zugang zu seinen Spielern sucht, um die Entwicklung voranzutreiben.
Terzic sorgt bei Besiktas für Fortschritt
Kavlak erzählt: "Wir haben oftmals nach den Spielen miteinander über einzelne Szenen gesprochen. Er hat uns Spielern auch immer wieder individuelle Videos mit Spielszenen geschickt. Dabei gab er mir immer wieder Verbesserungsvorschläge."
Durch diese Maßnahmen konnte Terzic das Trainingsniveau bei Besiktas deutlich anheben und einen wesentlichen Input zum Fortschritt des Klubs liefern. Denn laut Kavlak hatte es das "zuvor nicht gegeben".
Dabei war sich Terzic offenbar auch nicht zu schade, aktiv am Trainingsplatz teilzunehmen. "Er hat auch oft mit der Mannschaft mittrainiert. Da waren ein paar coole Momente dabei. Er war sehr laufstark", unterstreicht der ehemalige Rapid-Kicker grinsend.
In der rund zweijährigen Amtsperiode von Terzic blieb Besiktas allerdings ein Titel verwehrt. Ein Umstand, dem Kavlak ein wenig nachtrauert: "Wir sind leider nicht Meister geworden, das wäre wohl wortwörtlich die Krönung gewesen". Aber: "Ansonsten war es wirklich eine schöne Zeit."
Rückkehr nach Dortmund
Zwei Jahre nach dem Abenteuer Istanbul verschlug es das Trainer-Tandem Bilic/Terzic weiter zu West Ham United. Große Erfolge blieben jedoch aus, sodass Bilic und sein Gefolge nach etwas mehr als zwei durchwachsenen Jahren beim Premier-League-Klub gehen mussten. Die letzten drei Monate davon hatte Terzic derweil mit Marko Arnautovic einen weiteren Österreicher unter seinen Fittichen.
Den Rest der Saison 2017/18 blieb er folglich vereinslos, bis ihn die Lockrufe seines Herzensvereins ereilten.
Zurück an alter Wirkungsstätte assistierte Terzic Cheftrainer Lucien Favre, bis er nach dessen Entlassung im Dezember 2020 zunächst interimsweise und in der Folge als Cheftrainer der "schwarz-gelben" Borussia angestellt wurde.
Tabellenplatz drei und der Triumph im DFB-Pokalfinale gegen Leipzig (4:1) konnten sich sehen lassen.
Der einzige Wermutstropfen: Das Endspiel im Pokal musste aufgrund der Corona-Situation ohne Fans über die Bühne gehen. "Er fand es so schade, dass keine Fans anwesend sein konnten, als er den DFB-Pokal geholt hat. Da durfte er nicht mit den BVB-Anhängern feiern", erklärt Kavlak.
Da bereits beschlossen wurde, dass Ex-Salzburg-Trainer Marco Rose in der neuen Saison übernehmen soll, musste sich der Dortmund-Liebhaber für gewisse Zeit in den Hintergrund begeben. Terzic wurde zum Technischen Direktor ernannt.
In selbiger Saison 2021/22 kam es auch zu einem erfeulichen Wiedersehen zwischen Kavlak und Terzic, als Dortmund und Besiktas in der Gruppenphase der Champions League aufeinandertrafen.
BVB macht Terzic zum Cheftrainer
Die Dortmunder Liaison mit Rose hielt jedoch nicht lange. So musste der aktuelle RB-Leipzig-Coach am Saisonende seinen Posten räumen.
Zur Freude aller BVB-Anhänger durfte Terzic wieder auf der Trainerbank Platz nehmen.
Sportdirektor Sebastian Kehl sah den Fan-Liebling als idealen Klub-Repräsentanten: "Er hat eine riesige Identifikation mit der Stadt, der Region und den Menschen."
"Lasst uns so hungrig sein wie noch nie. Lasst uns so hart arbeiten wie noch nie. Lasst uns so positiv sein wie noch nie. Aber am allerwichtigsten: Lasst uns so laut sein wie noch nie. Dann haben wie die große Chance, eines Tages zu feiern wie noch nie", richtete der Dortmunder Übungsleiter bei seinem Amtsantritt eine motivierende Botschaft an die "schwarz-gelbe" Masse.
Kader-Gehader in Hinrunde
Der Saisonauftakt verlief zunächst nach Plan. Der BVB siegte am ersten Spieltag 1:0 gegen Bayer Leverkusen - Veli Kavlak fieberte dabei auf der Tribüne mit.
In weiterer Folge offenbarte die Hinrunde aber einige Kaderbaustellen. Die bittere Krebs-Diagnose von Neuzugang Sebastien Haller zu Saisonbeginn bereitete ungeahnte Stürmernot.
Ersatzmann Anthony Modeste lieferte nicht wie erhofft. Auch Donyell Malen und Ex-Salzburg-Star Karim Adeyemi funktionierten nicht als Neuner. Von Sturmjuwel Youssoufa Moukoko war unterdessen nicht zu erwarten, dass er die hohen Erwartungen im Sturmzentrum schultern kann.
Auch die neuformierte Defensivzentrale um Niklas Süle und Nico Schlotterbeck benötigte Anlaufzeit. Zudem konnte Routinier Mats Hummels anfänglich wenig an seine Glanzzeiten anknüpfen.
Die Auswirkungen: Dortmund belegte nach der Hinrunde nur Platz sechs in der Liga-Tabelle, während sich die Bayern mit fünf Punkten Abstand in trügerischer Sicherheit wogen.
In der Winterpause drehte Terzic an den Stellschrauben - mit Erfolg. Seine Mannschaft lieferte mit acht Siegen in Folge einen brillanten Start in die Rückrunde.
Haller-Wunder und Bayern-Dämpfer
Hinzu kam die fast wundersame Rückkehr von Torjäger Haller, der 176 Tage nach seiner Hodenkrebs-Diagnose wieder auf dem Rasen stand und dem Team sichtlich Auftrieb verlieh.
Das zwischenzeitliche Aus im Achtelfinale der Champions League gegen den FC Chelsea (1:0/0:2) Anfang März konnte trotz des temporären Höhenflugs aber nicht verhindert werden und ließ Terzic "wahnsinnig enttäuscht" zurück, wie er im Nachgang zum Ausdruck brachte.
In der Liga folgte rund einen Monat später der nächste Dämpfer im Top-Spiel gegen den FC Bayern (2:4). Fader Beigeschmack: Ex-Dortmund-Trainer Thomas Tuchel gewann bei seinem Debüt als neuer Bayern-Coach.
Terzic in der Analyse: "Wir wollten mutig sein. Das funktionierte in der Anfangsphase, und dann in vielen Phasen eben nicht mehr. Das ist zu wenig gegen die Bayern."
"Manch ein Trainer wäre dabei durchgedreht"
Das Momentum konnten die Münchner indes nicht konservieren, zahlreiche Störfeuer beim Titelrivalen spielten Dortmund in die Karten, wenngleich das mehr als enttäuschende Auftreten im Viertelfinale des DFB-Pokals gegen Leipzig (0:2) verkraftet werden musste.
In der Liga blieb man jedoch oben auf, es spitzte sich zunehmend auf ein Meisterschaftsduell zu, in welchem sich Dortmund und der Ligakrösus aus Bayern durch folgenschwere Patzer gegenseitig die Tabellenführung bescherten.
In Erinnerung bleibt vor allem das umstrittene 1:1-Remis beim VfL Bochum. Zwei Elfmetersituationen wurden von Schiedsrichter Sascha Stegemann ignoriert. Ein unglücklicher Fehler drohte nun über das BVB-Schicksal zu entscheiden.
Terzic sei, Kavlak zufolge, ein "emotionaler Typ", trotz der klaren Missinterpretationen der Offiziellen behielt er aber die Contenance.
Der ehemalige ÖFB-Teamspieler spricht diesbezüglich seine Bewunderung aus: "Wenn man dann beim Interview so ruhig und sachlich bleiben kann, ist das bemerkennswert. Manch ein Trainer wäre dabei durchgedreht. Schlussendlich geht es dabei um die Meisterschaft."
Letztlich waren es aber die Münchner, die sich mit der Heimniederlage gegen Leipzig auf den finalen Metern der Saison den wohl entscheidenden Lapsus leisteten.
Kavlak betet für Dortmund
"Wir sind auf Platz eins, das hätte uns niemand mehr zugetraut, nicht vor der Saison nach den ganzen Transfers – geschweige denn im November, als die Länderspielpause anstand. Jetzt sind wir aber hier", sagte Terzic kürzlich voller Stolz.
"Sie haben es nun in der eigenen Hand. Sie spielen vor dem eigenen Publikum, 80.000 Fans werden da sein. Was gibt es Schöneres? Ich hoffe, sie bringen es durch. Ich bete dafür", meint Kavlak lachend im Gespräch mit LAOLA1.
Der Kontakt zwischen dem Jugend-Co-Trainer und Terzic ist bis zum heutigen Tag nie abgerissen. "Ich verfolge jede Partie und schreibe ihm vor jedem Spiel, ich wünsche ihm Glück und nur das Beste. Aber er ist Trainer von Borussia Dortmund, er hat genug Arbeit. Ich kann mir vorstellen, dass es nicht einfach ist, bei so einem großen Klub in der Verantwortung zu stehen und den ganzen Druck aushalten zu müssen."
Titelshowdown: Alles auf Sieg
Wenn es nach dem BVB-Trainer geht, soll ein möglicher Sieg am kommenden Samstag gegen Mainz 05 (ab 15:30 Uhr im LIVE-Ticker>>>) besonders von einem Spieler geprägt werden: Wunder-Rückkehrer Haller.
"Wir hoffen, dass er der Held der Saison wird. Wir sind unglaublich stolz. Der Mensch Sebastien Haller, mit diesem Willen und dieser positiven Energie hat uns so gefehlt. Wir haben gelitten mit ihm und ohne ihn".
Ein Unentschieden gegen die Mannen um ÖFB-Teamspieler Karim Onisiwo reicht Dortmund aufgrund der niedrigeren Torbilanz indes nicht. Für Terzic und seine Truppe zählt somit nur ein Sieg, um einmal mehr ein deutsches Fußball-Märchen gebührend zu vollenden.
Dabei verlässt sich der Mann, der einst selbst in der Fan-Kurve sein Team anpeitschte, auf die gesamte Dortmunder Umgebung, schließlich waren "die Jungs und Mädels auf der Tribüne, in der Stadt, in der Region, in der ganzen Saison in all den schwierigen Situationen in der Saison für uns da."
Terzic will all diesen Menschen nun etwas zurückgeben und "endlich, endlich die Meisterschale wieder nach Dortmund holen".