Man könnte meinen, es läuft nicht beim FC Chelsea: In der englischen Premier League liegt das Team aktuell nur auf Rang zehn, hat satte acht Punkte Rückstand auf einen internationalen Startplatz. Zu einem Champions-League-Rang fehlen gar zehn Punkte.
Die jüngste 0:4-Klatsche im FA-Cup gegen Manchester City war der Höhepunkt einer Unserie: Seit dem 2:1-Erfolg in der UEFA Champions League gegen den FC Red Bull Salzburg Ende Oktober des Vorjahres setzte es in neun Spielen sechs Niederlagen.
Die Fans fordern bereits des Aus von Coach Graham Potter, der Anfang September das Zepter von Thomas Tuchel übernahm, und wünschen sich den Deutschen zurück.
Boehly, der Multitasker
Obwohl man gegen die "Bullen" siegreich blieb, sollen diese künftig als Vorbild dienen. In den vergangenen Monaten ließ der neue Chelsea-Boss Todd Boehly dahingehend mit einigen bemerkenswerten Aussagen aufhorchen.
Denn kurzfristig mag die genannte Forderung der Fans nur zu verständlich sein, doch Boehly denkt bereits weit in die Zukunft voraus.
Der US-Amerikaner übernahm nach Ausbruch des Ukraine-Konflikts gemeinsam mit der Clearlake-Capital-Gruppe den Klub von Roman Abramowitsch. Boehly ist Miteigentümer, Vorsitzender und - im Zuge der Umstrukturierungen im Klub - auch so etwas wie ein interimistischer Sportdirektor.
"Red Bull macht einen wirklich guten Job mit Salzburg und Leipzig, die beide in der Champions League spielen", lobte Boehly die RB-Klubs bei der "SALT"-Konferenz (einem Treffen weltweit führender Investoren, Unternehmer und politischer Entscheidungsträger) in New York vergangenen September.
Hintergrund der Aussage sind die Veränderungen, die Boehly seit der Übernahme des FC Chelsea angestoßen hat. Boehly zeigt sich angetan von dem, was das Red-Bull-System bis dato erreicht hat und möchte in Zukunft einen ähnlichen Weg gehen. Auch dort gab es nach der Ankunft von Ralf Rangnick tiefgreifende Änderungen.
Für das meiste Aufsehen seit Boehlys Ankunft sorgte jedenfalls die Entlassung von Star-Trainer Thomas Tuchel. Sein Aus wurde medial oftmals mit der Niederlage gegen Dinamo Zagreb in der Champions League begründet. In Wahrheit steckt jedoch weit mehr dahinter.
Denn Tuchels Aus stand höchstwahrscheinlich schon einige Zeit davor fest. Die neuen Chelsea-Eigentümer, angeführt von Boehly und Clearlake-Mitbegründer Behdad Eghbali, arbeiten an einem großen, weit über diese Entscheidung hinausgehenden Plan. Und Tuchel äußerte bereits zuvor öffentlich seine Bedenken, ob er diesen Weg mitzugehen bereit sei.
Ganz pragmatisch-amerikanisch beurteilten Boehly und Eghbali die Lage und kamen zu dem Schluss, dass mit Tuchel auf keinen grünen Zweig mehr zu kommen sei.
"Niemand hat Recht oder Unrecht"
Der Deutsche passte schlichtweg nicht in das Konzept der Neo-Bosse, die dabei aber keinerlei Aversion gegen Tuchel empfanden, wie Boehly erklärt: "Die Realität unserer Entscheidung war, dass wir uns nicht sicher waren, ob Thomas das genauso sieht wie wir. Niemand hat Recht oder Unrecht, wir hatten nur keine gemeinsame Vision für die Zukunft."
An Tuchels Statt wurde der unscheinbare Graham Potter (zuvor Brighton & Hove Albion) geholt. Hauptgrund dafür sind weniger seine sportlichen Erfolge, sondern vielmehr, dass er im Gegensatz zu Tuchel die Anforderungen der künftigen Vision erfüllt.
Potter sträubte sich nicht gegen die neuen Ideen und war bereit, in der neuen Struktur zu arbeiten. Der Neo-Coach machte sich vor allem durch die Weiterentwicklung und sein Vertrauen in junge Spieler einen Namen. Genau danach suchten Boehly und Co.
Potter steht sinnbildlich für das neue Chelsea-Konzept. Womit wir wieder bei der Aussage über das Red-Bull-Imperium angelangt wären.
Boehly zeigte sich mehrmals angetan davon und ist nun drauf und dran, ein ähnliches Konstrukt zu erschaffen. Der Chelsea-Boss arbeitet, ähnlich derer bei Red Bull, an einer vereinsübergreifenden Struktur samt einheitlicher Philosophie. Daraus geht hervor: Neben Chelsea als offenkundiger Spitze einer Pyramide, soll es weitere Schwestern-Vereine sowie ein weit verzweigtes internationales Scouting-Netzwerk geben.
Erster "Vorbote" Fofana
Boehly will jungen Talenten den Weg ebnen und wie Red Bull bereits frühzeitig zugreifen. Denn wenn ein Youngster ins Licht der Öffentlichkeit rückt, ist es aus Boehlys Sicht bereits zu spät - die Preise steigen dann sprunghaft an.
Als "Vorbote" der neuen Philosophie wurde vor Kurzem David Datro Fofana um 12 Millionen Euro vom norwegischen Klub Molde FK verpflichtet. Der junge Ivorer agierte bisweilen noch unter dem Radar der ganz großen Klubs, doch Chelsea erkannte sein Potenzial und schlug zu.
"Sie wollen die besten jungen Talente der Welt verpflichten und haben einen sehr klaren Plan, wie sie ihnen den bestmöglichen Erfolg ermöglichen können."
In norwegischen Medien vergleicht man den Schachzug der Blues passenderweise bereits mit jenem von Red Bull, als man Sadio Mane aus Frankreichs zweiter Liga holte.
"Sie wollen die besten jungen Talente der Welt verpflichten und haben einen sehr klaren Plan, wie sie ihnen den bestmöglichen Erfolg ermöglichen können", äußerte sich Fofanas Agent Atta Aneke gegenüber "The Athletic" nach den Verhandlungen.
Die "Nebenklubs" an Chelseas Seite sollen als Ausbildungsstätten für junge Talente, vorrangig aus Südamerika, aber auch aus Afrika und Asien, dienen.
Aus diesem Grund ist Chelsea nun aktiv auf der Suche nach Partnervereinen: Portimonense und Estoril aus der portugiesischen Primeira Liga galten bereits als mögliche Kandidaten und wurden sorgfältig geprüft, letztlich aber als ungeeignet eingestuft. In Frankreich fassten die Chelsea-Macher den Zweitligisten FC Sochaux ins Auge, mit dem jedoch keine Einigung erzielt werden konnte. Die Suche geht jedoch unverändert weiter und es ist nur eine Frage der Zeit, ehe man sich mit einem Klub einig sein wird.
Speziell Portugal ist als Andockstation für brasilianische Talente bekannt und würde sich hierfür bestens eignen. Die regelmäßigen Millionen-Transfers von Südamerikanern durch Sporting Lissabon, Benfica Lissabon und den FC Porto unterstreichen dies eindrucksvoll.
Massenleihsystem: Ein Auslaufmodell
Bereits zuvor fuhr Chelsea ein klubeigenes Entwicklungskonzept, das aber nur in Ansätzen dem neuen gleichkommt. Die "Blues" betrieben bis vor Kurzem ein "Massenleihsystem".
Jährlich wurde eine zweistellige Anzahl an Talenten an internationale Klubs ausgeliehen. Allen voran an Vitesse Arnheim. Lange Zeit gab es enge Beziehungen zum niederländischen Erstligisten. Nicht weniger als 29 Spieler wurden zwischen 2009 und 2021 von Chelsea dorthin verliehen. Darunter befinden sich Namen wie Nemanja Matic, Mason Mount und Armando Broja, die allesamt ihren Durchbruch schafften.
Doch da waren auch nicht weniger talentierte Kicker wie Matej Delac, Ulises Davila und Gael Kakuta. An sie kann sich heute kaum noch ein hiesiger Fußballfan erinnern, doch sie galten als ebensolche Talente wie Matic oder Mount, fielen aber dem Massenleihsystem zum Opfer.
Schon damals wollte man seine Talente nicht verlieren, deswegen wurden die unzähligen Leihen vorgenommen. Das Problem: Dabei hatte man die Entwicklung der Spieler nicht selbst in der Hand: anderer Verein, andere Philosophie.
Die Spieler mussten sich bei ihren Leihvereinen einem anderen fußballerischen Konzept unterordnen, als es bei Chelsea praktiziert wurde. Als sie dann nach London zurückkehrten, mussten sie sich dort erneut anpassen, was dazu führte, dass Spieler, die anderswo glänzen konnten, bei Chelsea anschließend nicht funktionierten.
So manchem hat das eine große Karriere gekostet, obwohl der Spieler selbst wenig dafür kann, wie etwa das Beispiel Kakuta (heute Amiens, Ligue 2) beweist. Der Franzose wurde regelmäßig zurückbeordert, da er bei seinen Leihklubs, unter anderem in La Liga (Rayo Vallecano) und Ligue 1 (Dijon FCO) aufzeigen konnte. Bei den "Blues" hatten die dortigen Trainer jedoch keine Verwendung für ihn, da er nicht in deren Konzept passte.
Vivell fits very well
Mit dem lange praktizierten Leihsystem ist zukünftig aber ohndies Schluss. Die FIFA verabschiedete eine neue Regelung, die es den Klubs erlaubt, maximal acht Spieler pro Saison zu verleihen, maximal drei an den selben Klub.
Das beförderte Boehlys Begeisterung für das Red-Bull-System noch mehr. Deshalb holte sich der US-Amerikaner auch einen neuen starken Mann ins Boot, der dieses System aus dem Effeff kennt und Boehlys Vision in die Tat umsetzen soll: Christopher Vivell. Der 35-Jährige war zuvor bei RB Salzburg, danach technischer Direktor bei RB Leipzig und hat diese Funktion nun in London inne.
"Wir sind zuversichtlich, dass er seinen beeindruckenden Weg hier bei Chelsea fortsetzen wird. Er wird eine wichtige Rolle dabei spielen, unsere Vision für den Verein voranzutreiben", meinte Boehly schon bei Vivells Vorstellung.
Auch an Salzburg-Mastermind Christoph Freund zeigte Boehly Interesse, wie Freund selbst bestätigte. Doch der Österreicher lehnte ab, weshalb der Chelsea-Boss weiter wilderte und Vivell für sich gewinnen konnte.
Anleihe am amerikanischen System
Doch scheinen die Personalplanungen damit nicht abgeschlossen: Wie englische Medien übereinstimmend berichten, soll noch ein übergeordneter General Manager nach amerikanischem Vorbild eingestellt werden. Es kursieren seit einiger Zeit die Namen von Monchi (FC Sevilla), Paul Mitchell (AS Monaco) und Luis Campos (Paris Saint-Germain).
Ähnlich wie in den US-Sportligen NFL, NHL, NBA und MLB könnte eine zentrale Figur als übergeordnetes Organ über Boehlys Imperium wachen und als Bindeglied zu den Eigentümern fungieren. Hier kann Boehly seine amerikanischen Wurzeln nicht verheimlichen.
Der neue Mann (Frauen wurden als Kandidaten bis dato keine genannt) soll das Chelsea-Konstrukt weiter ausbauen und auf ein breites Fundament stellen. Früher oder später soll sich das System, wie bei Red Bull, selbst speisen - sowohl finanziell, als auch sportlich.
Leihen an "konzernfremde" Klubs sollen künftig die Ausnahme sein, wie Boehly erklärt: "Unser Ziel ist es, sicherzustellen, dass wir unseren jungen Superstars den Weg auf das Spielfeld des FC Chelsea ebnen und ihnen echte Spielzeit geben können."
Fehler vergangener Tage als Fingerzeig
Um so auch die "Ausfallquote" talentierter Spielerhoffnungen zu reduzieren. Denn es sind nicht nur jene, denen am Ende keine große Karriere vergönnt ist. Es gibt auch zahlreiche Beispiele, die zeigen, dass sich die "Blues" im Laufe der Jahre von Spielern getrennt haben, die anderswo aufblühten.
Mit Mohamed Salah verlor man früh einen späteren Superstar. Der Ägypter sah bei Chelsea kein Land, wechselte daraufhin im Jahr 2017 für 15 Millionen Euro zur AS Roma. Ein Jahr später holte ihn der FC Liverpool für aus heutiger Sicht läppische 42 Millionen. Zwischendurch lag Salahs Marktwert bei 150 Millionen, heute sind es noch immer deren 80.
Fikayo Tomori spielt heute beim amtierenden italienischen Meister AC Milan. Der Innenverteidiger verließ die "Blues" vor zwei Jahren mit einem Marktwert von 20 Millionen Euro, da Tuchel keine Verwendung für ihn hatte. Ein halbes Jahr später holte ihn Milan fix für 30 Millionen. In diesen zwei Jahren bei den "Rossoneri" hat Tomori seinen Marktwert fast verdreifacht, wurde zum englischen Nationalspieler und bewog Chelsea sogar dazu, über eine Rückholaktion nachzudenken.
Künftig soll ebendies nicht mehr so leicht passieren. Denn einerseits sollen nur noch Spieler in den Konzern geholt werden, die entweder von grundauf gut ins Konzept passen oder noch jung genug sind, um ihren Spielstil an die Chelsea-Philosophie anzupassen. Andererseits können bereits vorhandene Spieler an Partnerklubs abgegeben werden, sollte tatsächlich ein Überangebot bestehen. So verbleiben sie im Klub-Universum und der bedarfsmäßige Zugriff dadurch aufrecht.
"Was wir wirklich brauchen, ist ein Ort, an dem wir unsere 18-, 19-, 20-Jährigen unterbringen können, um sie weiterzuentwickeln, in Portugal, Belgien oder irgendwo in dieser Richtung", weiß auch Boehly.
Sofern dem US-Amerikaner und Clearlake nicht urplötzlich die Lust an ihrem Projekt vergeht, wird es nur eine Frage der Zeit sein, ehe Chelsea neben Red Bull zum zweiten "Global Player" in Sachen Ausbildung und Talenteförderung im Fußball wird.