In der Serie "Das Tor zur Welt" nehmen wir internationale Fußball-Klubs und ihre Geschichten genau unter die Lupe. Wir beleuchten die Hintergründe, die in der schnellen, täglichen Berichterstattung gerne untergehen.
Von Aston Villa und Benfica Lissabon über Europas größten Fußballklub IF Brommapojkarna, den Fan-Verein CS Lebowski bis hin zum deutschen Kultverein FC St. Pauli haben wir schon einige Klubs portraitiert. Hier kannst du alle nachlesen >>>
Diesmal beleuchten wir Stade Brest, Champions-League-Gegner von Sturm und Salzburg, für euch. Ein Klub, der als Abstiegskandidat gehandelt wurde und zu einem unglaublichen Höhenflug ansetzte, der aber dennoch im Abstiegskampf enden könnte. Denn der Erfolg steht aus mehreren Gründen auf tönernen Beinen.
Stade Brest, der Klub aus der westlichsten Stadt Frankreichs, spielt heuer tatsächlich in der Königsklasse. Gegen Sturm Graz hatte man das bessere Ende für sich, gewann knapp mit 2:1, wenngleich für die "Blackies" sicher mehr drin war.
Nun misst sich das Sensationsteam der vergangenen Ligue-1-Spielzeit mit Salzburg (ab 18:45 Uhr im LIVE-Ticker>>>). In der Vorsaison holte der Klub, eigentlich als Abstiegskandidat gehandelt, völlig überraschend Rang drei.
Um gleich zu Beginn einen sportlich greifbaren Vergleich zu schaffen: Das ist, bei allem Respekt, ein bisschen so, als würde Blau-Weiß Linz in Österreich souverän in die Europa League einziehen.
Ein Meilenstein auf dem Weg der Trophäenlosigkeit
Für Stade Brest war die Partie gegen die "Blackies" ein Meilenstein in der Vereins-Historie, denn noch nie nahm der Klub an einem Europacup-Bewerb teil. Nicht einmal in der Quali stand man jemals.
Generell sucht man Trophäen bei "Les Ti'zefs" vergeblich, kein einziger Titel (abgesehen von einer nationalen Amateurmeisterschaft 1958) ziert die Vita des Vereins aus der Bretagne.
Der größte Erfolg der Klub-Geschichte war bis zur vergangenen Saison ein achter Platz in der ersten Liga im Jahr 1987. Überhaupt hat der 1903 gegründete Klub erst 18 Saisons in der ersten Liga gespielt.
LAOLA1 beleuchtet die wechselvolle jüngere Geschichte des französischen Überraschungsteams, seinen sensationellen Sprung unter die Top drei der Ligue 1 und wagt mit Experten von vor Ort einen Blick in die Zukunft.
Es war einmal ein Konkurs
Wir springen ins Jahr 1991: Damals firmierte der Klub noch unter dem Namen "Brest Armorique FC" und spielte in der ersten Liga. Am Ende der Saison im Mai erreichte man mit einer jungen, hungrigen Mannschaft (nur zwei Spieler waren über 30) Rang elf.
Absteigen musste man dennoch, Brest wurde in die zweite Liga zwangsrelegiert, denn im Hintergrund hatte man einen 150 Millionen Francs hohen Schuldenberg angehäuft (inflationsbereinigt heute rund 50 Millionen Euro).
Noch ein halbes Jahr schleppte man sich dahin, ehe der Klub im Dezember 1991 zusammenkrachte. Die ausgelagerte Profiabteilung wurde aufgelöst und ging in Konkurs. Die Amateurmannschaft spielte damals in Liga drei, was den Klub vor dem totalen Absturz rettete.
Nach wechselhaften Jahren in den Amateurligen schaffte Brest 2004 wieder den Sprung in die Ligue 2. Daran maßgeblich beteiligt war ein junger Flügelflitzer, der nebenher als Bauarbeiter jobbte, um seinen Traum vom Profi weiterverfolgen zu können: Franck Ribery.
Er war der erste große Brest-Transfer der "Neuzeit" und wechselte im Anschluss zu Erstligist FC Metz.
Die Ligue 2 blieb danach das Standard-Gefilde der "Ti'zefs", zwischen 2010 und 2013 spielte man zwischenzeitlich im Oberhaus, hielt zweimal knapp die Klasse, beim dritten Mal stieg der Klub als klarer Letzter ab.
So richtig aufwärts sollte es erst ab 2016 gehen, verantwortlich dafür ist ein Gemüsehändler namens Denis Le Saint.
Ein Ausnahme im Konzert der Großen
Der heute 60-Jährige wurde damals zum neuen Klubpräsidenten gewählt und ist mit dem gemeinsam mit Bruder Gerard geführten Familienunternehmen "Le Saint Fruit et Légumes" Marktführer für Obst und Gemüse in Frankreich. Er kommt selbst aus der Region und besitzt 51 Prozent der Anteile am Klub. Bemerkenswert nicht nur in Frankreich, sondern generell in den Top-5-Ligen, wo Klubs vorwiegend von (ausländischen) Oligarchen und Milliardären als Klubbesitzer dominiert werden.
Le Saint gilt als sehr pragmatisch und vernünftig, erklärt David Guezennec im Gespräch mit LAOLA1: "Er gibt kein Geld aus, das er nicht hat." Guezennec schreibt für die renommierte bretonische Zeitung "Quest France", verfolgt Stade Brest seit langer Zeit und kennt den Klub dementsprechend gut.
Le Saint sei aufgrund seiner unternehmerischen Erfahrung sehr gut darin, "die richtigen Leute für die richtigen Positionen zu finden". Der Präsident war es auch, der 2018 Sportdirektor Gregory Lorenzi installierte, der als Spieler selbst jahrelang für den Klub aktiv war und als Mastermind hinter der klugen Transferstrategie der "Ti'zefs" gilt. "Seine Verpflichtung war ein Schlüsselfaktor für den Erfolg", sagt Guezennec.
Über 20 Millionen Transfer-Plus
Lorenzis Erfolgsmodell ist aufwendig und mit jeder Menge (Scouting-) Arbeit verbunden, das Prinzip dahinter aber ist simpel: Lorenzi schafft es immer wieder, Spieler kostengünstig zu holen und sie gewinnbringend zu verkaufen.
"Lorenzi ist einer der besten Sportdirektoren in Frankreich"
In seiner Amtszeit nahm er durch Spielerverkäufe bisher über 65 Millionen Euro ein, gab deren 49 aus. Unter dem Strich steht somit ein Plus von über 16 Millionen. Rechnet man die jüngste Transferperiode heraus, in der man sich für die Champions League verstärkte und sich dies ob der Einnahmen durch die Qualifikation für selbige auch leisten konnte, ist die Bilanz noch deutlicher (fast 22 Millionen Euro).
Von Fachleuten erhält der 40-Jährige dafür regelmäßig großes Lob. "Lorenzi ist einer der besten Sportdirektoren in Frankreich", unterstreicht Guezennec.
Eine solche Strategie war für den Klub auch notwendig, denn bis vor den Königsklassen-Millionen hatte Stade Brest eines der niedrigsten Budgets im französischen Oberhaus. In der vergangenen Spielzeit wies der Klub einen Etat von 45 Millionen Euro auf, die Großklubs aus Marseille, Monaco und Lyon hatten ein vier- bis fünffaches davon, PSG bewegte sich gar bei 700 Millionen.
Mit der Kraft der "Local Heros" und einem Überraschungs-Coach
Beim Klub aus der Bretagne spielt zudem lokale Identifikation eine große Rolle, Stade Brest ist in der Region tief verwurzelt. Lorenzi wusste und nützte das. Die lokale Verwurzelung spiegelt sich nämlich auch im Kader wider: Spieler mit besagter lokaler Identifikation bilden die Grundpfeiler in der Kabine. Akteure wie Kapitän Brendan Chardonnet und Außenbahnspieler Axel Camblan sind sogar vor Ort in Brest aufgewachsen, mehrere andere kommen aus der Bretagne oder sind dort fußballerisch zuhause.
Lorenzis Strategie trug rasch Früchte: Schon im ersten Jahr seines Wirkens stieg Stade Brest wieder in die Ligue 1 auf. Dass man in wenigen Jahren in der Champions League spielen würde, davon wagte zu dieser Zeit aber noch keiner zu träumen.
Das Ziel lautete stets Klassenerhalt und wurde jedes Mal erreicht, wenngleich man einige Male zittern musste. Im Oktober 2022 sah es gar nicht nach Klassenerhalt aus. Brest holte aus den ersten zehn Saisonspielen nur sechs Punkte, Trainer Michel Der Zakarian musste gehen und Amateurcoach Bruno Gorgi übernahm interimistisch. Er führte das Team bis zum Winter immerhin vom Tabellenende der 20er-Liga auf Platz 17.
"Seine Verpflichtung war natürlich ein großes Risiko. Aber es war genau das, was die Spieler damals gebraucht haben"
In der Zwischenzeit suchte der Klub einen neuen Trainer, der den Klassenerhalt sichern sollte. Zahlreiche Namen geisterten durch die Medien, geworden ist es am Ende einer, den keiner auf dem Schirm hatte: Der langjährige TV-Experte Eric Roy, der zuvor fast elf Jahre kein Traineramt bekleidete und vor seiner Fernseh-Tätigkeit Sportdirektor bei RC Lens und dem FC Watford war.
Als plötzlich alles funktionierte
Die Skepsis unter den Fans war naturgemäß groß. "Seine Verpflichtung war natürlich ein großes Risiko. Aber es war genau das, was die Spieler damals gebraucht haben", erklärt Klub-Kenner Guezennec.
Roy belehrte alle Kritiker eines besseren und führte Brest am Ende sicher zum Klassenerhalt. Das war aber nichts im Vergleich zu dem, was in der Saison darauf folgen sollte.
In dieser führte Roy Stade Brest in ungeahnte Höhen und am Ende zu Rang drei. Das Team strahlte unglaubliches Selbstvertrauen aus und manövrierte sich immer weiter in einen absoluten Flow. "Alles, was sie letzte Saison gemacht haben, war erfolgreich. Alles hat funktioniert", beschreibt Guezennec.
Sieht man sich den Kader der "Ti'zefs" an, erkennt man schnell: Stars sind hier weit und breit keine zu finden. Es sind auch nicht die Individualisten, die den brest’schen Erfolg bescheren, sondern einerseits die Spielanlage von Eric Roy und andererseits die Mentalität der Truppe.
"Wir mögen individuell nicht die Qualität wie andere haben, die über mehr Ressourcen verfügen. Aber wir haben kollektive Stärke, wir sind ein echtes Team", betonte Sportdirektor Lorenzi in der "L’Equipe".
"Stade Brest ist ein Team, das gerne hohes Pressing spielt, sie sind ein sehr kampfstarkes und kompaktes Team", beschreibt Guezennec die Spielidee der Franzosen, welche die Favoriten in der Vorsaison ins Wanken brachte.
Die Fans honorieren Coach Roys Arbeit, der 56-Jährige ist von ihnen längst zur Heldenfigur stilisiert worden. So widmeten sie ihm in der Vorsaison einen eigenen Fan-Chor: "Longue vie au Roy", also "Lang lebe der König" - in Anspielung auf seinen Nachnamen, der zu Deutsch "König" lautet.
Schwer, an Erreichtes anzuknüpfen
Der Erfolg wird aber wohl nur schwer zu wiederholen sein, meint Guezennec. Er glaubt nicht, dass das Team nochmals in einen solchen Flow kommen kann und quasi jeder Handgriff so perfekt funktioniert wie im Vorjahr.
Denn zum Saisonstart konnte man nicht an die Vorsaison anknüpfen. Nach sechs Ligaspielen zeigt sich: Die Leichtigkeit es Vorjahres ist nicht mehr in selber Ausprägung vorhanden. Zwei Siegen (gegen St. Etienne und Montpellier) stehen vier, teils klare, Niederlagen gegenüber (gegen Marseille, Lens, PSG und Auxerre).
Wesentlich sei laut Guezennec auch, dass man es erstmals mit einer Dreifachbelastung zu tun hat. Niemand im Klub konnte damit bisher ausgedehnte Erfahrungen sammeln.
Weiters muss man ohne vier absolute Leistungsträger aus der Vorsaison auskommen. "Sie haben Steve Mounier (ablösefrei zu Augsburg, Anm.) und Lilian Brassier (war von Marseille ausgeliehen, Anm.) verloren, das waren zwei sehr wichtige Spieler", erklärt Guezennec. "Mit Sechser Pierre Lees-Melou (Wadenbeinbruch, Anm.) und Innenverteidiger Bradley Locko (Achillessehne, Anm.) fehlen zudem zwei der besten Spieler des diesjährigen Teams langfristig verletzt", so Guezennec weiter.
Außerdem sei nicht zu erwarten, dass die Top-Teams Marseille, Lens und Lyon ein weiteres Jahr so schwächeln, wie in der Vorsaison.
Mit der Underdog-Rolle ist es heuer ebenso vorbei, Brest wird von keinem mehr unterschätzt. Umso schwerer macht es die Ausgangslage. Guezennec glaubt, dass für Brest der Klassenerhalt das Ziel sein muss. "Sie werden es schwer haben", betont er nachdrücklich. Die bisherigen Leistungen und Ergebnisse geben ihm recht.
Stadion? Brest und Sturm haben dasselbe Problem
In einer Sache gibt es zwischen Sturm Graz und Stade Brest eine für beide Seiten unliebsame Parallele: Beide Klubs treten in der "Königsklasse" nicht in ihren Heimstadien an.
Während Sturm bekanntlich nach Klagenfurt ausweicht, werden die "Ti'zefs" ihre Heimspiele ausgerechnet im etwa 120 Kilometer entfernten Stadion des bretonischen Lokalrivalen EA Guingamp austragen. Die heimische Arena namens "Stade Francis-Le Blé" (UEFA-Kategorie zwei, Fassungsvermögen rund 15.200 Zuschauer) ist ebenso wie jene in Graz-Liebenau nicht für die Ligaphase der Champions League zugelassen.
Warum man gerade nach Guingamp ausweicht, hat mehrere Gründe. Einerseits spielt der Klub aktuell in der Ligue 2, was die Rivalität weniger groß macht als bei den anderen Top-Klubs in der Region, nämlich Stade Rennes und Lorient.
Der Umstand, dass die Rivalität mit Guingamp nicht ganz so groß ist, erzeugt folglich auch den geringsten Aufschrei unter den Fans.
Das eigentliche Heimstadion ist bei den Anhängern aber sehr beliebt. Es liegt in der Innenstadt und hat bereits über 100 Jahre auf dem Buckel, also ein Ort mit viel Tradition, mit dem die Fans zahlreiche Erinnerungen verbinden.
Alt, aber besonders
"Das Stadion sieht wirklich wie ein englisches Stadion aus, die Tribünen liegen sehr nah am Spielfeld. Die Atmosphäre dort ist immer etwas Besonderes", schildert der französische Groundhopper Kilian Bertrand im Gespräch mit LAOLA1. Er kennt Frankreichs Stadien wie seine Westentasche.
"Es ist wirklich veraltet und entspricht nicht den Anforderungen an ein modernes Stadion"
Ihr Alter kann die Arena aber nicht mehr verbergen. "Das Stadion wurde 2010 zum letzten Mal renoviert", erklärt Bertrand. "Es ist wirklich veraltet und entspricht nicht den Anforderungen an ein modernes Stadion", hält er fest.
Schon jetzt darf man dort nur mit einer Ausnahmegenehmigung Ligue-1-Spiele austragen. Diese erhielt man auch deswegen, weil bereits ein neues Stadion in Planung ist. Außerhalb der Stadt soll der "Arkea Park" entstehen. Das Fassungsvermögen soll wie in der bisherigen Heimstätte etwas mehr als 15.000 Plätze betragen.
Das Design jedenfalls mutet sehr futuristisch an. So soll die neue Heimstätte aussehen:
🚨 Pas encore en construction, le nouveau stade de Brest a pourtant déjà trouvé son nom. Fini Francis Le Blé, selon nos informations vous irez prochainement (sauf invasion d’escargots) assister aux matchs de votre équipe favorite à… l’Arkéa Park ! pic.twitter.com/PgE7WDopQ4
— Brest On Air 🇪🇺 (@BrestOnAir) October 26, 2023
Man wird aber wohl noch einige Jahre darauf warten müssen. "Ich rechne ehrlicherweise nicht damit, dass es vor den 2030er Jahren fertiggestellt wird", sagt Groundhopper Bertrand. Derzeit wartet der Verein noch immer auf Genehmigungen und die Bestätigung des neuen Standorts. "Sie werden also noch mindestens fünf bis zehn Jahre in Francis-Le Blé spielen", prognostiziert Bertrand.
Die Gegenwart heißt Champions League. Dort treffen am Dienstag zwei Teams aufeinander, die in der Wahrnehmung in ihrer Heimat unterschiedlicher kaum sein könnten. Auf der einen Seite der Senkrechtstarter Brest, auf der anderen der rot-weiß-rote Ligakrösus aus Salzburg.
Während die einen darum ringen, ihre Cinderella-Story weiterzuschreiben, wollen die anderen ihrer Geschichte an Triumphen, die zuletzt einen Dämpfer erhielt, ein neues Kapitel hinzufügen. Ersteres wird schwer, die Chance, dass Brest ein "One-Hit-Wonder" bleibt ist hoch. Zweiteres ist zwar ebenso kein Honiglecken, wie sich zeigt, aber deutlich wahrscheinlicher zu erreichen.