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Das unfassbare Schicksal des FC Torino

Das beste Team an einer Kirchenmauer zerschellt. Der größte Star von einem Fan getötet.

Das unfassbare Schicksal des FC Torino Foto: © getty

In der Serie "Das Tor zur Welt" nehmen wir internationale Fußball-Klubs und ihre Geschichten genau unter die Lupe. Wir beleuchten die Hintergründe, die in der schnellen, täglichen Berichterstattung gerne untergehen.

Den Anfang hat die Story über Nottingham Forest gemacht. Der Klub ist nach 23 Jahren wieder in die Premier League zurückgekehrt. Hier Lesen>>>

Auch über den Aufstieg des AC Monza in die Serie A unter der Führung von Silvio Berlusconi haben wir schon berichtet. Hier Lesen>>> Und der FC Vaduz, der fernab der Liechtensteiner Heimat auf Punktejagd geht war schon Thema. Hier Lesen>>>

Diesmal geht es um das unfassbare Schicksal des FC Torino. Ein unbesiegbares Team, das an einer Kirchenmauer zerschellt ist, und einen Fan, der sein Idol getötet hat.


Die einen haben einen Curriculum Vitae, die anderen eine Biografie.

Das seit Ende des 17. Jahrhunderts im Turiner Dom aufbewahrte Grabtuch, in dem womöglich Jesus von Nazareth begraben wurde. Die Schlacht von Turin mit Prinz Eugen hoch zu Pferd gegen die französischen Truppen von Ludwig XIV am 7. September 1706. Der Status als erste Hauptstadt nach der Vereinigung Italiens 1861.

Die Menschen in Turin pflegen ihre Mythen. Am Ende des Tages geht es darum, bei einer guten Flasche Piemonte eine richtig gute Geschichte erzählen zu können.

Während Juventus als Rekordmeister minutenlang recht trocken über seine Titel und Rekorde referieren könnte, würde Torino die Geschichten erzählen, wie sein bestes Team an einer Kirchenmauer zerschellt ist, wie sein aufregendster Spieler von einem seiner größten Fans getötet wurde und dieser Mann später den Verein in seiner Funktion als Präsident noch einmal umgebracht hat.

Der Klub des alten Turins

Juve mag zwar der populärste Verein Italiens sein, doch Torino ist der Klub der Stadt, für ihn schlagen die Herzen des alten Turins. Jene Menschen, die schon da waren, bevor sie aus dem armen Süden kamen und zu Hunderttausenden in die FIAT-Fabriken anheuerten. Entwurzelte Süditaliener, denen Juventus, Klub der FIAT-Dynastie Agnelli, eine Heimat und Ablenkung von den langen Stunden am Fließband bot.

Den Bohème-Lebensstil des Geldadels beäugten sie im erzkatholischen Turin stets kritisch. Torino war ihnen lieber. Der Klub, den der Wiener Heinrich "Enrico" Schönfeld 1924 als Torschützenkönig schon fast zum ersten Meistertitel geführt hatte.

Doch Schönfeld war längst nicht mehr in Turin, als die Mannen mit den granatroten Shirts zu einer der aufregendsten Mannschaften Europas aufstiegen. "Il Grande Torino". Klub-Präsident Ferruccio Novo stellte Anfang der 1940er-Jahre eines der besten Teams zusammen, das der italienische Fußball je gesehen hat.

Mit Mazzola und dem WM-System zum Ruhm

Fünf Meistertitel in Folge holte die Mannschaft – den ersten 1943, den letzten 1949. Der Bewerb war wegen des Kriegs zeitweise unterbrochen. Am Ende der Meisterschaft 1949 waren nur noch Verteidiger Sauro Tomá, Ersatzgoalie Renato Gandolfi und Nachwuchstalent Luigi Giuliano am Leben.  Der Rest des Teams, die Trainer, die Betreuer, alle tot. Italien unter Schock.

Bis dahin war "Il Grande Torino" von Erfolg zu Erfolg geeilt, hatte als erstes italienisches Team das Double geholt, war 93 Heimspiele ungeschlagen. Es gab ein Länderspiel, in dem Teamchef Vittorio Pozzo zehn Torino-Kicker gleichzeitig auflaufen ließ.

Herausragender Kapitän: Valentino Mazzola. Noch heute wird er als einer der ersten "kompletten Fußballer" beschrieben. Als der ungarische Coach Ernö Erbstein in der ersten Nachkriegssaison das in Italien damals unbekannte WM-System nach Vorbild des legendären Arsenal-Trainers Herbert Chapman einführte, war der blondgelockte Mazzola der Inbegriff des modernen Fußballers.

In seinen fünf Saisonen mit Torino holte er fünf Meistertitel, erzielte 102 Tore. Sein Sohn Sandro wurde später zur Legende bei Inter Mailand, bis heute haben nur drei Kicker öfter für die "Nerazzurri" gespielt.

Die Tragödie

Anfang Mai 1949 plagte Mazzola Fieber, doch er wurde rechtzeitig fit, um die Reise nach Lissabon zum Freundschaftsspiel gegen Benfica anzutreten. Es sollte sein Todesurteil sein.

Auf dem Rückflug nach Italien stoppte die FIAT G.212CP noch in Barcelona, um zu tanken. Währenddessen trafen sich die Torino-Kicker noch mit jenen vom AC Milan, die am Weg nach Madrid waren, zum Essen.

Je näher die Maschine Turin kam, umso schlechter wurde das Wetter. Dichter Nebel, heftige Windböen, Regenschauer, nur 40 Meter weit Sicht. Der erfahrene Pilot Gigi Meroni – der Name soll später noch eine Rolle spielen – verlor die Orientierung, als er über den Hausberg Superga fliegen wollte.

Foto: © getty

Am 4. Mai 1949, um 17:05 Uhr, zerschellte das Flugzeug an einer Mauer am Fuße der Basilica della Natività di Maria Vergine, die am Gipfel des Superga steht. Alle 31 Insassen verstarben an Ort und Stelle. 18 Spieler, Coach Erbstein und sein englischer Assistent Leslie Lievesley, zwei Klubmanager, der Masseur, vier prominente Sportjournalisten, Pilot Meroni und vier Crew-Mitglieder verloren ihr Leben.

Vittorio Pozzo, ehemaliger Teamchef und damals Journalist bei „"La Stampa", identifizierte auf dem Superga vier Stunden lang die teilweise bis zur Unkenntlichkeit verkohlten Leichen. Spätnachts schrieb er: "Die Torino-Mannschaft ist nicht mehr. Sie ist verschwunden, sie ist verbrannt, sie ist explodiert."

Die Trauer war immens, das Parlament unterbrach seine Sitzung. Eine halbe Million Menschen säumten die Straßen Turins, als die Todesopfer zu Grabe getragen wurden. 30.000 von ihnen pilgerten auf den Superga, ein Meer von Blumen wurde am 672 Meter hohen Berg niedergelegt.

"Siehst du diesen schönen Pokal?"

"Tuttosport" beschrieb die Szenerie: "In der Aufbahrungshalle hatte Verbandspräsident Barassi zu den Särgen der Spieler gesprochen, als wenn sie ihn darin hören können. Er hatte ihnen offiziell den fünften Meistertitel in Folge überreicht, hatte sie einen nach dem anderen aufgerufen, und zum Schluss kam Mazzola dran. Barassi zeichnete mit den Händen einen riesigen Pokal in die Luft und sagte: 'Siehst du diesen schönen Pokal? Er gehört dir, er gehört euch allen. Er ist sehr groß, größer als dieser Saal, er ist riesengroß und drinnen sind alle unsere Herzen.'"

Die verbliebenen vier Partien bestritt Torino mit einer Jugendmannschaft, die Gegner taten es dem Klub aus Respekt gleich. Alle vier Spiele wurden gewonnen. Schon zuvor stand der Klub als Meister fest. Er feierte danach nur noch einen einzigen Meistertitel in der Serie A, 1975/76. Danach spielten mit Walter Schachner, Toni Polster, Alexander Manninger, Jürgen Säumel und Valentino Lazaro fünf Österreicher für den Verein.

"Sfigati", die Unglücksraben, wird der Klub seit dem Unglück immer wieder genannt. Noch heute marschieren an jedem 4. Mai zahlreiche Fans zu Basilika am Superga. Das Desaster habe Italiens Fußball um 30 Jahre zurückgeworfen, so eine populäre These, die noch heute vertreten wird. Die italienische Nationalmannschaft erholte sich erst viele Jahre später, Torino nie.

1959/60 musste der "Toro" – in Anlehnung an den Stier im Wappen – sogar eine Saison in der Serie B verbringen. Doch Anfang der 1960er-Jahre träumten sie dann wieder, die Fans des "Toro". Zweimal hintereinander schaffte es ihr Team ins Finale der Coppa Italia.

Der granatrote Schmetterling

Und im Sommer 1964 kam er: Gigi Meroni. Dass er genauso hieß wie der Pilot der Superga-Tragödie, ein Wink des Schicksals. "La farfalla granata", der granatrote Schmetterling, nannten sie ihn. Und wahrlich, Meroni war auf und abseits des Rasens eine Erscheinung.

Ein kleiner, zierlicher Dribblanski, ein Schöngeist, der Elfmetertore verabscheute, weil sie seinem ästhetischen Empfinden nicht gerecht wurden. Die Stutzen bis zu den Knöcheln runtergerollt, immer für noch einen Schnörkel gut, einer der besten Fußballer, die es in Italien je gab.

Doch Meroni fiel auch auf, wenn er nicht am Feld stand. "Italiens James Dean", hat ihn John Foot in seiner opulenten Aufarbeitung der italienischen Fußball-Historie genannt. Andere sehen in ihm den ersten Popstar des Calcio. Meroni verehrte den Beatle George Harrison, ließ sich Haare und Bart wachsen, entwarf seine extravagante Kleidung selbst und ging gerne mal mit einem Huhn an der Leine spazieren.

Meroni verbrachte die Nächte damit, Bilder zu malen. Und er hatte ein öffentliches Verhältnis zu einer verheirateten Frau. Im Italien der 1960er-Jahre waren Scheidungen nicht vorgesehen, Ehen konnten nur annulliert werden. Ein Mann wie Meroni war im erzkonservativen Turin ein wandelnder Skandal. Er war der Vorbote des Aufbruchs in eine neue Zeit.

Im Sommer 1967 wollte Juventus den Torino-Star unbedingt abwerben. 750 Millionen Lira, das sind inflationsbereinigt heute rund 2,2 Millionen Euro, bot die Familie Agnelli. Eine ungeheuerliche Summe.

Als der bevorstehende Wechsel publik wurde, probten die "Toro"-Fans den Aufstand. Gemietete Flugzeuge warfen Flugzettel über der ganzen Stadt ab, angeblich machten bei FIAT beschäftigte Torino-Anhänger absichtlich Dellen in die Autos am Fließband, Torino-Präsident Pianelli sah sich mit Drohungen konfrontiert, wonach seine Tochter entführt werden sollte. Agnelli lenkte schließlich ein, der Transfer platzte.

Kurz darauf war Gigi Meroni tot. Überfahren von einem seiner größten Fans.

Ein dramatischer Oktober-Tag

Es war der 15. Oktober 1967, Torino hatte eben Sampdoria mit 4:2 besiegt, Meroni wieder einmal eine Glanzleistung geboten. Am Abend nach dem Spiel ging das Team feiern, Meroni und sein Teamkollege Fabrizio Poletti verabschiedeten sich, weil sie ihre Freundinnen abholen wollten.

Die beiden standen am Mittelstreifen des vielbefahrenen Corso Re Umberto, als ein FIAT 124 Coupe Meroni erfasste, der "Schmetterling" war nicht mehr zu retten, er schloss mit nur 24 Jahren seine Flügel.

Der Mann am Steuer hieß Attilio Romero. Er war gerade einmal 19 Jahre alt, hatte erst vor kurzem seinen Führerschein gemacht. Und er war ein Verehrer Meronis, hatte ein Torino-Abo, ließ sich sogar die Haare wachsen wie sein Idol. In seinem FIAT hatte er ein kleines Foto des Kickers, an der Kühlerhaube sein Blut.

Keine zwei Jahrzehnte nach dem dramatischen Ende von "Il grande Torino" stand der Klub erneut unter Schock.

Am Sonntag danach fand das Derby della Mole statt. Torino siegte mit 4:0 – nie wieder gelang dem "Toro" ein höherer Sieg gegen Juve. Nestor Combin, Meronis bester Freund im Team, steuerte einen Hattrick bei.

Romero brachte Torino noch einmal um

Romero wiederum startete eine Karriere bei FIAT, er arbeitete sich die Presse-Abteilung hoch, war sogar Sprecher von Gianni Agnelli. Im Juni 2000 verließ er den Auto-Hersteller und wurde – ja, wirklich – Präsident von Torino.

"Früher war ich der einzige Fan auf der Welt, der seinen Lieblingsspieler getötet hat. Heute bin ich der einzige Klub-Präsident, der einen Spieler seines Vereins getötet hat", diktierte er in jedes Mikrofon, das er fand. Selbst für italienische Verhältnisse verrückt.

2005 führte Romero den Klub in den Bankrott. Romero wurde 2008 wegen Betrugs und diverser anderer Finanz-Delikte zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, musste die Strafe aber nie antreten.

"Er hätte lebens­läng­lich ver­dient, weil er den 'Toro' zwei Mal getötet hat", fanden die Fans.

Weil Italien eben Italien ist, durfte der Klub unter dem neuen Namen Torino FC in der Serie B neu anfangen, stieg 2006 schon wieder in die Serie A auf. 2009 ging es wieder runter, 2012 wieder rauf.

Der Stier, er hat was zu erzählen…


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