In der Serie "Das Tor zur Welt" nehmen wir internationale Fußball-Klubs und ihre Geschichten genau unter die Lupe. Wir beleuchten die Hintergründe, die in der schnellen, täglichen Berichterstattung gerne untergehen.
Von Nottingham Forest über den FC Vaduz und Torino bis Dinamo Zagreb haben wir schon einige Klubs porträtiert. Im Zuge der WM in Katar haben wir auch diverse Nationalteams unter die Lupe genommen. Hier kannst du alle Episoden nachlesen >>>
Die SSC Napoli spielt in der italienischen Serie A bislang eine furiose Saison. Der Klub, bei dem Diego Maradona zur Ikone avancierte, führt die Tabelle der Serie A nach der Hinrunde ungeschlagen mit acht Punkten Vorsprung auf den amtierenden Meister AC Milan an. Die letzte Liga-Niederlage datiert vom 24. April des Vorjahres. Erstmals nach über 30 Jahren könnte die SSC wieder den "Scudetto" in die Stadt am Fuße des Vesuvs holen.
Doch anders als zu Zeiten Maradonas hat der Erfolg in Neapel viele Gesichter, die Verantwortung ist auf zahlreiche Schultern verteilt. Der Elf von "Maestro" Luciano Spalletti traute man eine derart erfolgreiche Hinrunde vor der Saison allerdings nicht zu. Im Gegenteil: Vielmehr fürchteten Fans und Beobachter ein Abrutschen ins obere Mittelfeld.
Aderlass als Heilformel?
Grund dafür: Napoli musste den Sparstift ansetzen. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie rissen, wie bei so vielen, ein finanzielles Loch auf. Vereinsboss Aurelio De Laurentiis verordnete einen Sparkurs, die Gehaltskosten sollten deutlich gesenkt werden. Im Jahr 2022 fuhr Napoli zum dritten Mal in Folge ein satt negatives Bilanzergebnis ein.
Insgesamt machte man seit Ausbruch der Pandemie knapp 130 Millionen Euro Verlust. Doch die Maßnahmen scheinen zu wirken: Im abgelaufenen Jahr fiel der Verlust mit 52 Millionen Euro um deren acht geringer aus als im Vorjahr.
Der Kader erlebte dem Sparkurs entsprechend im vergangenen Sommer einen Aderlass: Zahlreiche langjährige Leistungsträger verließen den Klub. Fabian Ruiz (Paris St. Germain), Kalidou Koulibaly (FC Chelsea), Lorenzo Insigne (Toronto FC) und Dries Mertens (Galatasaray) suchten das Weite - für viele Anhänger ein Schock, man habe seine Seele verkauft, hieß es.
Diese Argumentation, so harsch sie auch vorgetragen worden sein mag, ist durchaus nachvollziehbar: Diese Spieler prägten den Aufschwung, den die SSC Napoli nach dem Konkurs 2004 und ihrem Erstliga-Comeback im Jahr 2007 erlebte.
Ein Georgier als unverhoffter Diego-Erbe
Die Spieler, die geholt wurden, hatten nach Meinung der Fans die Bezeichnung "Verstärkung" kaum verdient: Von den Tottenham Hotspurs holte man Tanguy Ndombele (26), zunächst einmal per Leihe bis Sommer 2023. Er sollte im Gespann mit dem fix von Fulham verpflichteten Frank Anguissa den abgewanderten Fabian Ruiz ersetzen.
Stirnrunzeln bei Fans und Experten war die Folge. Anguissa galt als passabler Backup, Ndombele als gescheiterte französische Hoffnung. Zweiterer avancierte im Sommer 2019 zum Rekordeinkauf der "Spurs" (62 Millionen Euro), konnte sich dort nie durchsetzen, auch eine Leihe zu Ex-Klub Olympique Lyon brachte keinen Erfolg. Napoli gab ihm eine erneute Chance in der Hoffnung, dass er an frühere Leistungen anschließen kann.
Giacomo Raspadori (22) kam aus der "Talentfabrik" US Sassuolo. Der 22-Jährige galt schon länger als großes Talent und spielte sich bei den "Neroverdi" ins Rampenlicht. Er sollte der Nachfolger von Mertens werden, doch die Skepsis war auch bei ihm groß, ob er die Fußstapfen des Belgiers würde füllen können.
Für den größten Aufschrei sorgte die Verpflichtung von Min-jae Kim (25). Der Südkoreaner kam für beachtliche 18 Millionen Euro von Fenerbahce Istanbul als Nachfolger von Koulibaly. In der Türkei hatte der Innenverteidiger eine starke erste Saison hingelegt, nachdem er im Sommer 2021 von Beijing Guoan (China) an den Bosporus gewechselt war. Es galt jedoch als ungewiss, ob er einem Klub wie Napoli würde helfen können. So viel sei vorweggenommen: Er konnte - und wie!
Fast untergegangen im allgemeinen neapolitanischen Transfer-Theater ist dabei ein Mann, der zum neuen Superstar der "gli Azzurri" werden sollte: Khvicha Kvaratskhelia. Er spielte bis zum Ausbruch des Ukraine-Konflikts bei Rubin Kazan, kickte danach notgedrungen in seiner Heimat bei Dinamo Batumi.
Der 21-jährige Georgier spielte sich in einen Rausch und seine Gegner reihenweise schwindlig: In 17 Spielen lieferte er 18 Torbeteiligungen (acht Tore, zehn Vorlagen) - Vergleiche mit Klub-Ikone Diego Maradona, inklusive dem neuen Rufnamen "Kvaradona", waren die Folge.
Lorenzo Insigne vermisst in Neapel längst keiner mehr, "Kvaradona" ist der neue Publikumsliebling. Doch auch ihm schlug zunächst Skepsis entgegen. Immerhin hatte man sich die Dienste eines in Kampanien und auch weit darüber hinaus unbekannten Angreifers zehn Millionen Euro kosten lassen.
Nicht zuletzt verpflichtete Napoli auch noch Giovanni Simeone. Er kam per Leihe mit Kaufpflicht von Hellas Verona (Gesamtvolumen: 15,5 Millionen Euro). Der 27-jährige Sohn von Atletico-Coach Diego Simeone galt als ewiges Talent. Zwar sehr begabt und mit hervorragenden Anlagen gesegnet, doch nicht reif für einen großen Klub. Dennoch: Napoli ging das Risiko ein, schließlich lieferte der Argentinier in der Vorsaison starke 23 Scorerpunkte für Hellas.
Zusammengefasst war die einhellige Meinung: Mehr als die Europa League brauche man sich unter diesen Umständen nicht zu erhoffen.
Tifosi: Ein Bangen und Schimpfen
Doch ein Mann schaffte es zur allgemeinen Überraschung, im Laufe der Herbstsaison alle Zweifler verstummen zu lassen: Luciano Spalletti. Die Napoli-Verantwortlichen um Sportdirektor Cristiano Giuntoli heimsten im Sommer 2021 durchaus Kritik für die Entscheidung ein, den Routinier anstelle von Gennaro Gattuso an die Seitenlinie zu stellen. Spalletti sei zwar erfahren, wurde auch bereits zweimal zu Italiens Trainer des Jahres gewählt, aber es fehle ihm am nötigen Format, um in der Trainer-Beletage mithalten zu können.
Doch die erste Saison unter Spalletti lief zunächst durchaus zufriedenstellend, Napoli konnte lange um den Titel mitkämpfen. Doch die Tatsache, dass seiner Elf erneut auf der Zielgerade die Luft ausging, nahmen ihm die Fans übel - alte Voreingenommenheiten traten wieder hervor, es kriselte. Er habe den Scudetto "vercoacht", so der Vorwurf. Seine Ablöse stand im Raum, Nachfolger wurden bereits gehandelt.
Doch Napoli hielt an Spalletti fest, zog sich den Unmut der Fans und insbesondere der Ultras zu, die der Klubführung um De Laurentiis an den Kragen wollten.
Vor der laufenden Saison folgten als Draufgabe noch die zahlreichen Abgänge. Im Klubumfeld rumorte es kräftig. Wie um alles in der Welt sollte das funktionieren? Ein qualitativ ausgedünnter Kader in Kombination mit einem - wenn man so will - ganz guten, aber sicher nicht überragenden Trainer.
Vielen Napoli-Tifosi war beinahe angst und bang beim Gedanken an die bevorstehende Spielzeit. Schließlich hatte es in den Jahren zuvor ja nicht einmal mit dem großen Carlo Ancelotti, der jetzt Real Madrid zu neuen Höhenflügen führt, funktioniert.
Spalletti auf Piolis Spuren
Und Spalletti? Viele Fans standen dem 63-jährigen Trainer-Haudegen nun noch ein Stück kritischer gegenüber, man traute ihm mehr als das bisher Erreichte nicht zu. Denn sowohl bei der Roma, als auch bei Inter war in einem vergleichbaren Stadium der Plafond erreicht - einen Serie-A-Titel gewann er bisher nie.
Dass das aber nichts heißen muss, zeigte im Vorjahr Stefano Pioli bei der AC Milan. Auch der nunmehrige Meistercoach galt lange als gescheitertes Trainer-Talent und erfand sich spät in seiner Trainer-Karriere neu. Es wäre fast schon eine Ironie des Schicksals, würde gerade Spalletti die Neapolitaner zur ersten Meisterschaft seit 33 Jahren führen.
Wenn aus Schwächen Stärken werden
Doch allen Widerständen zum Trotz wusste Spalletti, wie er sein neu formiertes Team anpacken musste. Dabei kam ihm etwas zugute, was ihm bisher eigentlich als Schwäche ausgelegt wurde: Spalletti gilt als "Ja-Sager", der sich den Anordnungen von oben klaglos fügt. So akzeptierte er auch den Aderlass vor der Saison ohne jeden Widerspruch.
Der 63-Jährige ist aber auch dafür bekannt, mit vermeintlich schlechten Karten ein gutes Spiel zu liefern, wie ein Blick auf die Statistik zeigt: Bei den Teams, die er übernahm, verbesserten sich die Leistungen und Ergebnisse in kurzer Zeit spürbar, obwohl die Voraussetzungen alles andere als optimal waren. Er führte die Roma in seinen beiden Amtszeiten insgesamt viermal auf Rang zwei.
Speziell zu Beginn seiner ersten Trainer-Periode bei den Hauptstädtern stellte er dieses Talent unter Beweis: In der Saison 2004/05 landeten die finanziell gebeutelten "Giallorossi" nur auf Rang acht. Spalletti übernahm und führte das fast selbe Team dreimal in Folge zur Vizemeisterschaft.
Jahre später coachte er ein taumelndes Inter noch in die Champions League. Bei den Neapolitanern kombiniert der Routinier die beiden zuvor beschriebenen Eigenschaften bislang in Perfektion.
Doch wie bereits erwähnt: Mehr als Achtungserfolge gelangen ihm nie. Mit der Roma gewann er einst zwar zweimal die Coppa Italia sowie den Supercup, als Meistertrainer konnte er sich in Italien jedoch nie etablieren. Ähnlich wie sein Milan-Pendant Pioli könnte er dieses Klischee im Herbst seiner Trainer-Laufbahn durchbrechen.
Napoli als “Italo-Leverkusen”
Bereits jetzt konnte Spalletti die meisten seiner Zweifler von seinen Qualitäten überzeugen. Unter den Fans gibt es deren jedenfalls kaum noch, die Stimmung in der Stadt ist auf einem Höhepunkt, wie längst nicht mehr.
Dies bestätigt auch Antonio Gaito im Gespräch mit LAOLA1. Er ist Chefredakteur des Portals "Tutto Napoli" und ein Kenner der Szene in und um den Klub. "Die Begeisterung ist groß", unterstreicht er.
Denn die Zeiten für die Neapolitaner waren nach der legendären Maradona-Ära in den 80-Jahren nicht immer leicht. Seinen negativen Höhepunkt fand die Klub-Historie schließlich im Bankrott und dem damit einhergehenden Zwangsabstieg in die Drittklassigkeit 2004. Seit der Rückkehr in die Serie A 2007 konnte der Klub nach und nach an alte Erfolge anknüpfen, nur die Krönung in Form des "Scudetto" blieb bisher verwehrt.
Napoli entwickelte sich gewissermaßen zu einem "Leverkusen Italiens". Die Werkself erlangte zu Beginn des Jahrtausends traurige Berühmtheit durch ihre häufigen zweiten Plätze. Und auch das Team vom Vesuv heimste alsbald einen vergleichbaren Ruf ein: Seit 2010 wurde man viermal Zweiter und weitere viermal Dritter. Regelmäßig verspielte man im Saisonendspurt die Titelchancen.
"Es gibt eine Erwartungshaltung, aber auch unter Sarri haben die Fans daran geglaubt, und dann wurden sie enttäuscht."
Die Fans seien mit dem Erreichten bisher durchaus zufrieden, so Gaito. "Es gibt eine Erwartungshaltung, aber auch unter Sarri haben die Fans daran geglaubt, und dann wurden sie enttäuscht", spielt er auf die bitteren Momente der jüngeren Vergangenheit an. Doch so gut wie heuer lief es bisweilen nie.
Es habe sich etwas verändert, meint der Napoli-Experte. "Die Menschen glauben wieder an den Verein, es gibt keine Proteste mehr in der Stadt und das Stadion ist immer voll", gibt er einen Einblick in die Fan-Seele. Grund dafür sind auch die ungünstigen Voraussetzungen vor der Saison, die diese bisher zu einer Heldenreise machen und Klub und Fans vereinen. Die Napoli-Tifosi wollen weiter von ihrem Märchen träumen: Der vermeintlich abzuschreibende Underdog, der alle überrascht.
"Diese Saison hat allen klar gemacht, dass man auch mit geordneten Finanzen im Gegensatz zu anderen Vereinen oben bleiben kann. Und darauf sind viele Fans stolz", erklärt Gaito die Hintergründe.
Knappe Kasse, ganz viel Klasse
Der Sparkurs, den man in Neapel fährt, trägt unerwartet sportlich-positive Früchte. Er und die Herangehensweise von "Maestro" Spalletti haben aus vermeintlichen Mitläufern Stars und Leistungsträger gemacht.
Dies zeigt sich auch an den wettbewerbsübergreifend starken Leistungen: In einer "Hammergruppe" in der Champions League mit dem FC Liverpool, Ajax Amsterdam und den Glasgow Rangers zog man überlegen ins Achtelfinale ein. Mit berauschenden Auftritten schoss Napoli Ajax mit 6:1, Liverpool mit 4:1 und die Rangers mit 3:0 vom Platz. Da tat die bereits bedeutungslose 0:2-Niederlage am letzten Gruppen-Spieltag gegen die "Reds" der Feierstimmung keinen Abbruch.
Doch wer sind die entscheidenden Faktoren, die auf dem Spielfeld für den bisher so großen Erfolg sorgen?
Natürlich: Allen voran der bereits angesprochene Khvicha Kvaratskhelia sticht bei der SSC bisweilen aus dem Kollektiv heraus. Er ist die wohl größte Überraschung der Saison, doch in seinem Schatten tummeln sich noch weitere Spieler, die zwar teils deutlich unscheinbarer, aber mindestens genauso wichtig für den Erfolg des Klubs sind.
Hier ist zunächst der hinter "Kvaradona" auffälligste Akteur zu nennen: Victor Osimhen. Der Stürmer blüht in der aktuellen Saison so richtig auf: Bereits im Vorjahr war er mit seinen 14 Ligatreffern ein wesentlicher Baustein. Doch in der laufenden Saison hat er bereits zur Liga-Halbzeit zehn Volltreffer zu Buche stehen und konnte sein Spiel auf ein neues Level hieven.
Im Mittelfeld ziehen mit Stanislas Lobotka und Piotr Zielinski zwei unersetzliche Strategen die Fäden. Speziell Ersterer ist elementar für das Gesamtkonstrukt, dient als Metronom im Spiel von Napoli - wie auch Antonio Gaito meint: "Mit ihm ist es ein Team und aus diesem Grund lässt Spalletti ihn immer auf dem Platz."
In der Defensive schwang sich Min-jae Kim zum neuen Abwehrchef auf. Der Koreaner besticht durch sein Stellungsspiel und seine Übersicht. Der 25-Jährige gewann zudem 72 Prozent seiner Zweikämpfe.
Auch die bereits eingangs angesprochenen Raspadori, Anguissa und Ndombele entwickelten sich unter Spalletti zu tragenden Säulen in der Napoli-Elf.
Die einzige vermeintliche Schwachstelle der Neapolitaner tut sich ganz hinten auf: Nach dem Abgang von David Ospina ruhen auf der Torwart-Position alle Hoffnungen auf Alex Meret, dem der Ruf vorauseilt, stets für einen Patzer gut zu sein.
In der laufenden Saison hat er sich dahingehend zwar verbessert, dennoch war es bei drei der bisher zwölf Gegentreffer ein Fehler seinerseits, der zu einem Tor führte. Mit seinen 76 Prozent gehaltenen Schüssen liegt er ligaweit nur auf dem 12. Platz. Meret gibt bisweilen einen soliden, aber sicher keinen Elite-Keeper ab, wie ihn der amtierende Meister AC Milan in Mike Magnain sein Eigen nennen darf.
Kollektiv als Schlüssel
Unter dem Strich verfügen die Neapolitaner über viel Breite in der Spitze, alle Akteure übernehmen einen Teil der Verantwortung, was die Abhängigkeit von der individuellen Klasse einzelner reduziert. Das Kollektiv macht die SSC stark.
In der Vergangenheit waren "gli Azzurri" oftmals auf das Genie eines Mertens oder Insigne angewiesen, heute sind die magischen Momente von Klassespielern das Tüpfelchen auf dem I, die in Schnittpartien den Unterschied machen - und genau das zeichnet eine Klassemannschaft aus.
Die nächsten Wochen werden zeigen, ob Luciano Spalletti sich und ganz Neapel ein Wunder bescheren wird können. Spätestens dann würden sie ihm wohl ein Denkmal bauen - gleich neben dem von Diego Maradona.
Am Mittwoch steht für die SSC Napoli zum Rückrundenauftakt sogleich ein echter Prüfstein im Zuge der "Mission Scudetto" an: Die Spalletti-Elf trifft auf Inter Mailand (ab 20:45 Uhr im LIVE-Ticker >>>). Stunden zuvor trifft der erste Verfolger Milan auf Salernitana mit ÖFB-Legionär Flavius Daniliuc (ab 12:30 Uhr im LIVE-Ticker >>>).