Die Karriere des Wolfgang Luisser ist für einen österreichischen Trainer wohl eine einzigartige. Der Burgenländer, der im August 2019 eine rund neunmonatige Fußball-Reise um die ganze Welt unternahm, wurde während seiner Bildungs-Karenz gleich mehrfach fündig.
Auf seiner Tour rund um den Erdball lernte der 42-Jährige seine zukünftige Frau kennen, eine US-Amerikanerin, die in Hongkong lebt. "Voriges Jahr zu Weihnachten habe ich beschlossen, dass ich zu ihr nach Hongkong ziehe", erklärt Luisser im LAOLA1-Gespräch.
"Ich habe bei Null begonnen und mir ein Netzwerk aufbauen müssen. Ich habe im Kleinen angefangen, habe sogar einen Monat in der Brazilian Soccer Academy Stunden gehalten", erzählt der Güssinger, der mittlerweile für den Top-Klub Kitchee SC unter anderem als Co-Trainer arbeitet.
"Auf einmal war ich Kinder-Entertainer"
Luisser kann auf eine umfangreiche Laufbahn im Fußball zurückblicken. Der Pro-Lizenz-Halter spielte als Profi unter anderem für den GAK, Hartberg und den SV Mattersburg. Bei den Rotjacken beginnt im Jahr 2007 sein Weg als Trainer, ehe es ihn nach Salzburg verschlägt.
Über Grödig, das U21-Nationalteam und Erzgebirge Aue zieht es den Güssinger zum SCR Altach, wo er sogar zum Interimstrainer der Bundesligamannschaft aufsteigt.
Die Vorarlberger verlässt Luisser schließlich, um seine große Fußballreise zu starten. Diese prägt ihn bis heute. "Die Reise hat mich verändert, indem ich gesehen habe, dass es auch andere Plätze gibt, an denen man leben und Trainer sein kann", erzählt der Burgenländer.
Offenheit, Geduld und Anpassungsfähigkeit seien die Attribute, die Luisser für sich selbst aus der Weltreise mitnehmen konnte. Um von heute auf morgen auf die andere Seite Eurasiens zu ziehen und komplett neu anzufangen sind diese Fähigkeiten von elementarer Bedeutung.
In seiner 21-tägigen Hotelquarantäne hatte der Inhaber der UEFA-Pro-Lizenz recherchiert, welche Möglichkeiten es in der chinesischen Sonderverwaltungszone gibt. "Dabei habe ich gesehen, dass einige der großen europäischen Topvereine wie Liverpool, Chelsea und Inter Mailand in Hongkong Akademien haben. Ich habe einige dieser Akademien kontaktiert und im Anschluss auch besucht", so der 42-Jährige, der damit seine Offenheit neuen Aufgaben gegenüber gleich unter Beweis stellte.
"Du kommst in eine Sieben-Millionen-Stadt und kennst keinen", sagt der ehemalige Altach-Interimstrainer, der allerdings schnell eine Aufgabe fand.
"Meine erste Tätigkeit war als Teilzeit-Trainer in der Brazilian Soccer Adacemy. Dort habe ich fünf- bis siebenjährige Mädchen trainiert", so Luisser, der sich schmunzelnd an eine Anekdote erinnert: "Da ist in meiner zweiten Einheit ein Mädchen für zehn Minuten mit ihrem Teddybären gestanden und ich hatte keine Ahnung wie ich damit umgehen soll. Das war schon sehr spannend, weil ich aus dem Erwachsenenfußball gekommen bin und auf einmal war ich Kinder-Entertainer."
Akademien-Wildwuchs in Fernost
Seine nächste Tätigkeit hat der Burgenländer schnell ins Auge gefasst: "Mit dem technischen Direktor der Liverpool-Akademie hatte ich schnell ein freundschaftliches Verhältnis. Dort hätte ich auch sofort als Trainer anfangen können, habe mich dann aber doch für das Angebot von Inter Mailand entschieden. Dort hatte ich dann die Möglichkeit selbst als technischer Direktor für Inter zu arbeiten. Diesen Job habe ich vier Monate, von Mitte April bis Mitte August 2021, gemacht."
Wer sich nun eine Einrichtung ähnlich der Akademien in Europa vorstellt, der irrt. Luisser, der selbst in der Akademie von Red Bull Salzburg Trainer war, fand ganz andere Strukturen vor, als aus heimischen Gefilden gewohnt.
Der Güssinger erklärt: "Das Akademien-System ist hier ganz anders als bei uns in Österreich. Bei uns versteht man unter Akademie, dass die schulische und die sportliche Ausbildung kombiniert ist und als Vorstufe zu den Profis dient. Hier ist es so, dass die Akademien von der U8 bis zur U14 sind, also rein den Kinderfußball betreffen".
Im ostasiatischen Raum sind einige solcher Akademien zu finden. In Hongkong vor allem die englischer Klubs wie Liverpool, Chelsea oder Arsenal. Durch die Geschichte Hongkongs als englische Kolonie naheliegend. In China engagieren sich unter anderem Borussia Dortmund und der FC Bayern, der vor kurzem einen Tormann aus dem Reich der Mitte verpflichtete.
"Erfolg steht nicht an oberster Stelle"
Eine weitere Facette, die es in Österreich so nicht gibt: Die Klub-Akademien werden nicht von den eigenen Vereinen geleitet. Die Akademie-Betreiber erwerben lediglich Lizenzen der europäischen Vereine, die Kooperation ist maximal lose.
"Es ist 'Pay to Play', das heißt die Eltern zahlen dafür, dass die Kinder für unterschiedliche Akademien spielen können. Es sind viele Kinder von reichen Eltern, die sind stolz, wenn das Kind am Wochenende mit Manchester- oder Liverpool-Leiberl spielt", erzählt Luisser, der in der Inter-Akademie für rund 350 Kinder sowie ungefähr 45 Trainer verantwortlich war.
"Es ist ein reines Geschäftsmodell, welches aber nicht von Inter Mailand selbst betrieben wird, sondern von einem Geschäftspartner, der für die Lizenz bezahlt und dann das Logo auf den Dressen verwenden darf. Das hat nichts mit dem Fußball, wie wir ihn kennen, zu tun", so der langjährige Fußball-Trainer, der sich dennoch an die Gegebenheiten vor Ort anpasste.
"Am Anfang habe ich natürlich das System anschauen müssen, was der 'Inter Way' ist – 'Growing Together', jeder darf spielen. Erfolg steht nicht an oberster Stelle. Das hat nichts mit professionellem Fußball zutun, es gibt keine wirkliche Selektion. Mein Part war "coach the coach", den Trainern im taktischen und technischen Bereich weiterzuhelfen", so Luisser.
Platzmangel als Negativ-Faktor
Kein Wunder also, dass in Hongkong im Nachwuchs kaum etwas weiter geht. Die Junioren-Nationalteams sind bei den großen Turnieren auf asiatischer Bühne seit Jahren Zaungast. Aber nicht nur professionelle Strukturen wie in Europa fehlen. Es fehlt schlicht der Platz, um in einem der dichtest besiedelten Gebiete der Welt Fußball zu spielen.
"Es gibt schon einige Fußballplätze, aber diese reichen für den Bedarf auf keinen Fall aus, denn alle wollen diese Spielfelder haben. Der Platzmangel ist so groß, dass die Mannschaften und Vereine nicht wissen, wo sie trainieren sollen", erzählt Luisser, dessen Klub Kitchee SC der einzige Verein mit Trainingszentrum ist.
"Alle anderen Vereine teilen sich die übrigen Plätze, meist Kunstrasenplätze oder Betonplätze. Natürlichen Rasen gibt es fast nur in den Stadien, in denen in der Premier League gespielt wird, aber alles andere ist Kunstrasen oder Steinboden."
Aber auch kulturelle Unterschiede verhindern oft schon im Jugendbereich die eine oder andere große Fußballerkarriere. Die Prioritäten sind schlicht andere, wie der Burgenländer erklärt.
"Fußball hat wenig Stellenwert. Als Fußballer verdient man hier nicht so viel, im Sommer ist es schweine-heiß und die Eltern sagen 'Schau, dass du einen Job im Büro mit Klimaanlage bekommst'. Die schulische Ausbildung steht ganz klar über der sportlichen. Das Ziel der Kinder und vor allem ihrer Eltern ist nicht Profisportler zu werden. Hinzu kommt, dass der schulische Druck ein wesentlich größerer ist, als bei uns zuhause. Kinder werden bereits für den Kindergarten selektiert. Gewisse Schultypen sind nur für talentierteste Kinder wählbar", vergleicht Luisser.
Die fehlenden Stukturen und der Platzmangel gepaart mit anderen Prioritäten führen dazu, dass Kinder in Hongkong nur sehr wenig trainieren können, wie der 42-Jährige erklärt: "Teilweise kommen die Kinder einmal in der Woche eineinhalb Stunden zum Training und spielen am Wochenende. Aber in eineinhalb Stunden Training kannst du keinen Fortschritt erzielen."
Von Inter-Akademie zu Top-Klub
Für Luisser sollte die Inter-Akademie aber nicht das Ende der Karriereleiter in Hongkong sein. Kontakte im dortigen Fußball zu knüpfen sei aufgrund der geringen Größe der chinesischen Sonderverwaltungszone nicht schwer.
"Nach 5 Monaten im Kinderfußball bin ich froh, wieder den Schritt zurück in den Profifußball geschafft zu haben"
"Ich habe andere Leute im Fußball kennengelernt. Der Markt im Fußball ist jetzt nicht so groß in Hongkong", erzählt der eifrige Netzwerker, der im Sommer eine Einladung für ein Interview bei den Verantwortlichen von Kitchee SC bekam. Dieses sei äußerst positiv verlaufen und führte zu einem Vertrag bei den "Bluewaves" vorerst bis Mai 2022.
"Nach 5 Monaten im Kinderfußball bin ich froh, wieder den Schritt zurück in den Profifußball geschafft zu haben", freut sich der Co-Trainer von Kitchee, der bei einem wahren Spitzenklub angedockt hat. Der 1931 gegründete Klub ist mit Abstand der erfolgreichste Verein Hongkongs. Von sieben möglichen Titeln in der 2014 gegründeten Hongkong Premier League gingen fünf an Kitchee.
Luisser verfügt in Hongkong über ein Alleinstellungsmerkmal: Die UEFA Pro-Lizenz. Trainern aus dem Westen würde schon im Vorhinein eine größere Glaubwürdigkeit bescheinigt als den einheimischen Vertretern. Cheftrainer ist der Südkoreaner Kim Dong-jin. Für den 39-Jährigen, der als Spieler mit Zenit St. Petersburg den UEFA-Cup gewinnen konnte, ist es die erste Station als Cheftrainer.
"Er hält viel auf mich, erkundigt sich immer nach meiner Meinung zur Trainingsgestaltung und nach dem Feedback zu Analysen", beschreibt der 42-Jährige die Wertschätzung des 62-fachen Nationalspielers. Doch der Güssinger ist nicht nur Co-Trainer der Profi-Mannschaft, Luisser ist auch Cheftrainer des U-16-Teams von Kitchee.
"Dass ein Trainer mehrere Teams betreut ist hier üblich. Der andere Co-Trainer coacht die U18, der Konditionstrainer macht die U14 mit: Das Stundenausmaß, wie lange hier gearbeitet wird, ist Wahnsinn", erzählt Luisser. Die Profis trainieren täglich am Vormittag, die Nachwuchsmannschaften bis in die Nacht hinein – ein Resultat des bereits erwähnten Platzmangels in Hongkong.
Ausländer heben Niveau erheblich
Das Niveau in Hongkongs Profiliga muss man differenzierter bewerten, erklärt der Halter der Pro-Lizenz. Das spielerische Können der einheimischen Spieler wäre mit Landesliga-Niveau in Österreich vergleichbar, die aus dem Ausland kommenden Spieler sind es, die Klasse in den Fußball in Hongkong bringen würden.
Top-Star der Truppe aus Hongkong ist der Montenegriner Dejan Damjanovic. Der mittlerweile 40-jährige Angreifer startete sein Fernost-Abenteuer schon im Jahr 2007. Damjanovic hält den Torrekord in der asiatischen Champions League mit 40 Treffern, gewann in Ostasien eine Unmenge an Titeln.
In der vergangenen Saison schoss der Europäer Kitchee zur Meisterschaft, staubte die Torjägerkrone und den Titel als Hongkongs Fußballer des Jahres ab. Heimatbezug für Luisser stellt der Spanier Manuel Gavilan her: Der 30-Jährige kickte in der Bundesliga-Saison 2015/16 für die SV Ried.
"Kitchee hat sehr viele Legionäre, da hast du in der ersten Elf nur Legionäre. Dann hat es Niveau fast wie in der ersten Liga in Österreich", erklärt Luisser, der auch gleich einen anderen Effekt für die Nationalmannschaft Hongkongs feststellt: "Viele Ausländer haben sich einbürgern lassen, die sind jetzt Hongkonger und spielen für das Nationalteam".
Sein Team würde zwar in drei Bewerben antreten, wirkliche Bedeutung wird allerdings nur der acht Teams umfassenden Liga beigemessen. Der Sapling Cup, in dem drei U23-Spieler eingesetzt werden müssen, und der FA-Cup werden quasi im Vorbeigehen mitgenommen.
"Es zählt nur die Liga wegen der Qualifikation für die asiatsiche Champions League. Der Sapling Cup ist für die Jugendförderung, im FA-Cup geht es um die goldene Ananas", erklärt der Güssinger, der als Ziel den abermaligen Gewinn der Meisterschaft ausgibt.
Keine Reue trotz Skepsis
Familie und Freunde waren gegenüber Luissers "Bildungskarenz", die ihn letztendlich nach Hongkong verschlagen hat, anfangs skeptisch eingestellt. Zur Erinnerung: Der 42-Jährige fungierte im März 2019 für zwei Spiele als Interimtrainer von Altach, hatte einen fixen Platz als Assistent im Trainerstab.
"Ich bereue nichts, ich konnte einige der schönsten Plätze bereisen, habe viele interessante Menschen kennen gelernt, Freunde gewonnen und viel erlebt"
"Viele meiner Freunde und auch mein Vater haben mich gefragt, ob das der richtige Weg ist. 'Jetzt haust du ab, machst deine Reise, vielleicht bekommst du wo als Cheftrainer eine Chance in der Ersten Liga, Zweite Liga, wo auch immer, bleib im System!'", erinnert sich der Burgenländer.
Luisser hätte seine Reise aber schon Jahre lang im Kopf gehabt. Der Wunsch, seinen Horizont zu erweitern, war letztendlich zu groß. "Ich bereue nichts, ich konnte einige der schönsten Plätze bereisen, habe viele interessante Menschen kennen gelernt, Freunde gewonnen und viel erlebt".
Mit dem neuen Teamchef Hongkongs gibt es nun auch noch etwas mehr Österreich-Bezug für Luisser in Fernost. Der 58-jährige Jörn Andersen übernahm die Nationalmannschaft Hongkongs im November, befindet sich mittlerweile in der chinesischen Sonderverwaltungszone.
"Wir haben einmal telefoniert. Er war bei Austria Salzburg Trainer, als ich in Grödig unter Adi Hütter Co-Trainer war, da haben wir über diese Zeit gequatscht", erzählt Luisser. Der nächste Kontakt ist also schon geknüpft.