In der Serie "Das Tor zur Welt" nehmen wir internationale Fußball-Klubs und ihre Geschichten genau unter die Lupe. Wir beleuchten die Hintergründe, die in der schnellen, täglichen Berichterstattung gerne untergehen.
Von Nottingham Forest über den FC Vaduz und Torino bis Dinamo Zagreb haben wir schon einige Klubs portraitiert. Hier kannst du alle nachlesen >>>
Diesmal an der Reihe ist der FC Zürich. Der Schweizer Klub hat ein unfassbares Jahr hinter sich. Inklusive sensationellem Meistertitel und Absturz unter Franco Foda.
Am 1. Mai 2022 brechen in Zürich alle Dämme. Nach langen 13 Jahren Wartezeit krönt sich der FC Zürich erstmals seit 2009 zum Schweizer Meister. Am Zürcher Helvetiaplatz feiern rund 10.000 Menschen ihre Mannschaft und den 13. Meistertitel der Vereinsgeschichte.
Knapp acht Monate später steht der Klub, der diese Saison noch um einen Platz in der Champions League spielte, vor einem Scherbenhaufen. Man belegt aktuell mit 12 Punkten aus 16 Spielen den letzten Rang. Bereits nach der Gruppenphase verabschiedete sich der Klub aus der Europa League mit einer mageren Ausbeute von drei Punkten. Im Schweizer Cup war bereits im September in der zweiten Runde gegen Lausanne Endstation.
Wie kam es zu der Verwandlung eines Schweizer Durchschnittsklubs zum Schweizer Meister und wieder zurück?
Trainermarkt: Nach zwei Fehlgriffen folgt der Goldgriff
Am 1. Juli 2021 nimmt in Zürich mit André Breitenreiter ein neues Gesicht auf der Trainerbank Platz.
Vor ihm war der spätere Altach-Trainer Ludovic Magnin im Amt, der zwei Jahre nicht über einen Platz im Mittelfeld der Tabelle hinauskam. Dann übernahm Massimo Rizzo, der 20/21 die Liga hielt, allerdings als Cheftrainer langfristig ungeeignet schien.
Der 49-jährige Breitenreiter sorgte in Zürich gleich zu Saisonstart 21/22 für frischen Wind. Die vorherigen Trainerstationen des jetzigen Hoffenheim-Trainers waren auf Engagements in Deutschland beschränkt. Er führte den SC Paderborn 2014 und Hannover 96 2017 in die deutsche Bundesliga. Nun folgte der Schritt ins Ausland. Für seinen neuen Posten in Zürich kehrte er von einer zweieinhalbjährigen Pause zurück.
"Menschenfänger" Breitenreiter: Menschlichkeit als Schlüssel zum Erfolg
Der Neo-Trainer Breitenreiter schaffte es binnen kürzester Zeit aus dem Kader eine Mannschaft zu formen und einen Teamgeist zu entwickeln.
Der Sportjournalist, Redakteur des Schweizer “Blick” und FC Zürich-Kenner Matthias Dubach erklärt, wie Breitenreiter dieses Kunststück gelang.
Dubach: “Breitenreiter ist der Beweis, dass Fußball sehr viel Psychologie ist. Er ist ein unfassbar starker Menschenkenner und -fänger, wie es so schön heißt. Er hat die Gabe, auf jeden Spieler unvoreingenommen zuzugehen, seine menschliche Art kam auf Anhieb sehr gut an. Er hat es geschafft, jedem Spieler eine Rolle zuzuteilen, mit denen diese gut leben konnten.”
Durch klare Abmachungen und Rollenverteilungen verkörperte Breitenreiter für das Team Glaubwürdigkeit.
Selbst das italienische 19-jährige Supertalent Willy Gnoto, mittlerweile Spieler unter Ex-Salzburg-Coach Jesse Marsch bei Leeds United, wurde von Breitenreiter vertröstet und auf die Bank gesetzt. Er nahm im Saisonverlauf eine Jokerrolle ein, die er mit 11 Liga-Torbeteiligungen gut ausfüllte.
Bereits vor seinem Amtsantritt wurde laut FCZ-Experten Dubach eine Kaderbereinigung eingeleitet.
“Mit Adrian Guerrero und Nikola Boranijasevic wurde auf den beiden jeweiligen Außenverteidigerpositionen aufgerüstet, was überfällig war. Breitenreiter ernannte außerdem Mirlind Kryeziu zum Abwehrchef und gab Blerim Dzemaili die nötige Zeit, fit zu werden.”
Vom schlechtesten Stürmer der Liga zum Torjäger
Der 49-jährige Deutsche schaffte es vor allem Spieler besser zu machen. Als Musterbeispiel ist hier Assan Ceesay anzuführen.
Dubach: "Breitenreiter hat mit ihm aus einem der schlechtesten Stürmer der Liga einen der besten gemacht."
In drei vorhergehenden Saisons bei Zürich kam der Mittelstürmer aus Gambia in 66 Spielen auf die magere Torausbeute von 6 Treffer.
Durch Zuwendung, Gespräche und einfache Hinweise konnte Breitenreiter ihn allerdings biegen. Mit 20 Toren und 10 Assists in der Saison 21/22 hatte Ceesay einen großen Anteil am Kunststück Meistertitel.
Ein weiterer Spieler, der unter Breitenreiter aufblühte, war Ousmane Doumbia. Der 30-jährige Ivorer wurde im Mittelfeld zum Rückhalt der Mannschaft. Der stärkste Zweikämpfer der Liga eroberte viele Bälle und verteilte sie an seine Mitspieler in der Offensive.
Weitere Säulen des Erfolgs waren Neuverpflichtung Adrián Guerrero (4 Tore, 11 Assists) und Routinier Antonio Marchesano (13 Tore, 6 Assists).
Guter Saisonstart ebnet den Weg zum Titel
Breitenreiter stellte die Mannschaft von Saisonbeginn an gut ein. Er legte sich vom Saisonstart weg auf eine 3-4-1-2 Formation, welche in ihren Grundzügen bis zum Saisonende Bestand hatte, fest.
Der Saisonauftakt verlief blendend für den FCZ, die ersten vier Spiele, inklusive eines Zürcher Derbys, konnten allesamt gewonnen werden. Nach 14 Spielen hatte sich der FCZ mit einer Ausbeute von 28 Zählern die Tabellenführung erkämpft.
Es folgte das Duell mit dem Meister BSC Young Boys. Trotz des COVID-bedingten Fehlens des Trainers Breitenreiter konnte Zürich mit 1:0 gewinnen und in der Mannschaft wurde wohl erstmal der Glaube an etwas Großes geboren. Breitenreiter meldete sich per Videobotschaft an die Spieler und verordnete nach dem Sieg gegen Bern unter Jubelschreien der Mannschaft zwei Tage trainingsfrei.
3️⃣ Worte, die alle Fussballer glücklich machen?
— FC Zürich (@fc_zuerich) November 28, 2021
🗣 „Zwei Tage frei!“ 🙌🏼
Unser Cheftrainer meldete sich nach dem Sieg per Videobotschaft in die #FCZ-Kabine.#FCZYB #stadtclub #NieUsenandGah pic.twitter.com/avNh4brX54
Sieg in Bern entfachte Glauben an die Sensation
In den letzten Spielen der Hinrunde spielte sich der FCZ in einen Lauf und krönte sich mit bereits sieben Punkten Vorsprung auf Verfolger Basel zum Winterkönig.
Dubach: “Das Team war bald enorm gut eingespielt und kam durch die guten Resultate rasch in einen Flow. Breitenreiters klare Spielidee hat den FCZ stark gemacht. Als sie dann auch nach der Winterpause sofort wieder in den Rhythmus kamen, waren sie dann nicht mehr aufzuhalten.”
Der FCZ war infolge in den weiteren Saisonpartien verlässlich wie ein Schweizer Uhrwerk und sammelte in der Rückrunde fleißig Punkte.
Am 32. Spieltag war es dann so weit: Die Mannschaft von Breitenreiter gewann im direkten Duell mit dem Verfolger, dem FC Basel, mit 16 Zählern Abstand den 13. Meistertitel der Zürcher Vereinsgeschichte.
Ernüchterung nach Breitenreiter-Abschied
In Zürich wurde der Erfolg entsprechend gefeiert, hatte man doch 13 lange Jahre auf den Meistertitel gewartet. Ein Riesen-Erfolgsfaktor kam allerdings abhanden. Bereits Ende Mai war den Medien zu entnehmen: Breitenreiter verlässt nach einer Saison Zürich. Da Breitenreiter noch vertraglich bis 2023 gebunden war, wurde für die Sinsheimer laut SRF eine mittlere sechsstellige Summe für seine Dienste fällig. In Zürich startete man wieder bei null.
Ein Ausverkauf blieb dem FC Zürich erspart, die wenigen Abgänge schmerzten dafür umso mehr. Ceesay wanderte ablösefrei zum US Lecce nach Italien ab. Doumbia zog es zum Ligakonkurrenten nach Lugano.
Franco Foda tritt Breitenreiter-Nachfolge an
Für große Überraschung sorgte die Präsentation des neuen Trainers: Franco Foda. Der ehemalige ÖFB-Teamchef hatte die freie Stelle in Zürich, etwa drei Monate nach seiner Entlassung hierzulande, als seine neue Herausforderung auserkoren.
Medial wurde, so Dubach, Fodas-Ankunft nicht gerade gefeiert: “Man war ziemlich kritisch. Aus Österreich hatte man ja wenig Gutes gehört. Die EM-Achtelfinal-Qualifikation Österreichs war auch nicht sonderlich beeindruckend, die Schweiz schafft das ja bei jedem Turnier.”
Fodas erste holprige Wochen
Der Start Fodas in der Schweiz verlief gleich alles andere als perfekt.
Dubach: "Beim ersten Training fehlte er bereits, 'private Gründe', er musste offenbar irgendwas noch in Graz erledigen. Beim zweiten Testspiel hatte er Corona, da fehlte er wieder."
Der FCZ wurde sogleich zum Saisonauftakt in der Liga durch eine 0:4-Niederlage von den Young Boys Bern vorgeführt. Aus den ersten vier Ligaspielen verlor man drei, einmal spielte man unentschieden. Dabei gelang kein einziger Torerfolg.
Zwischendurch musste man sich auch vom Traum "Königsklasse" verabschieden. In der zweiten Qualirunde der Champions League musste man sich nach zwei Spielen FK Qarabağ aus Aserbaidschan knapp geschlagen geben. Allerdings sicherte man sich nach Siegen gegen Linfield FC und Heart of Midlothian FC die Europa-League-Teilnahme. Ein erster Teilerfolg.
Unstrukturiertes System zum Scheitern verurteilt
In der Liga kam der amtierende Meister allerdings einfach nicht in Fahrt. Nach acht Ligaspielen hatte der FC Zürich gerade einmal zwei Punkte auf dem Konto und für Foda wurde die Luft immer dünner.
Dubach: "Foda hat da immer wieder das System geändert und enorm viel rotiert, der FCZ hat unter ihm eigentlich nie ein erkennbares Gesicht bekommen. Den Draht zu den Spielern, auch zu den Führungsspielern, hat er am Anfang nicht gefunden und später, als dann bald die Krise kam, auch nicht mehr. Man hörte, dass sich die Spieler schon nach wenigen Wochen beim Sportchef beschwerten über Foda und seine unnahbare Art, die ja wirklich das pure Gegenteil von Breitenreiter ist."
Zürich startete zum Saisonauftakt mit einem 3-4-1-2, zwischenzeitlich stellte Foda auf ein 4-2-3-1 um, bevor er wieder zur Dreierkette im 3-1-4-2 zurückkehrte. Es fehlte an einer klaren Struktur, die in Gegensatz zu Foda in Breitenreiters System essenziell war.
In der Europa-League-Gruppenphase verlor man im ersten Spiel gegen den FC Arsenal. Im zweiten Spiel musste man sich Bodö Glimt, aus Norwegen, geschlagen geben. Es sollte das letzte Spiel Fodas auf der Zürcher Trainerbank sein.
Fodas Abschied nach nur drei Monaten besiegelt
Die Verantwortlichen zogen die Notbremse und entließen ihn am 21. September 2022 nach sechs Ligapleiten in nur acht Spielen. Mit keinem Sieg und lediglich zwei Punkten auf dem Konto lag man punktgleich mit dem FC Winterthur auf dem letzten Rang. Der FC Zürich war, nach dem Riesenerfolg im Vorjahr, am Boden.
Die Fans hatten, so Dubach, keine großen Illusionen, dass es nach dem Ligatitel in der gleichen Art und Weise weiter gehen würde.
"Die Fans hofften einfach, dass der Absturz nach dem traumhaften Meisterjahr nicht ganz so schlimm wird, wurde er dann aber. Bei der Entlassung musste sich der Klub eingestehen, dass Foda als Breitenreiter-Nachfolger ein großer Irrtum war", so Dubach.
Positive Tendenz unter Neo-Coach Henriksen
Am 10. Oktober wurde Bo Henriksen als Nachfolger von Franco Foda beim FCZ präsentiert. Unter dem Dänen gab es zumindest Teilfortschritte.
Dubach: "Henriksen kehrte wieder zum Breitenreiter-Fussball zurück, er macht nicht groß taktische Experimente. Im Training ist wieder Spaß drin."
Aber vor allem: Die Resultate verbessern sich langsam. Nach anfänglichen Anlaufschwierigkeiten hält der ehemalige Trainer des dänischen FC Midtjylland nach 9 Spielen bei 3 Siegen, wobei man es in der Europa League auch mit Hochkarätern wie PSV Eindhoven und Arsenal zu tun bekam.
Trotzdem: Die Tabellenlage des amtierenden Meisters ist immer noch düster. Der FCZ bildet nach wie vor mit 12 Punkten das Schlusslicht der Super League.
Möglicherweise kann der im Wintertransferfenster von Red Bull Salzburg ausgeliehene Roko Simic die Zürcher Offensive, eine der schwächsten der Liga, beleben.
Abstieg trotz letztem Platz unwahrscheinlich
Laut Dubach muss allerdings viel passieren, dass der FC Zürich tatsächlich absteigt.
Nicht nur die Form des FCZ wurde mit Fortdauer des Engagements von Henriksen besser, auch ein weiterer Umstand stimmt zuversichtlich: Die Schweizer Liga wird wie in Österreich mit zwei weiteren Teams, und damit auf 12 Mannschaften, aufgestockt. Es gibt dadurch keinen Direktabsteiger. In einem Playoff gäbe es die Chance, gegen den Drittplatzierten der zweiten Schweizer Spielklasse den Abstieg abzuwenden.
Und wer folgt dem FC Zürich als Meister 2023? Momentan ist der Meister der Saisons 2017, 2018, 2019, 2020 und 2021 Young Boys Bern in der Pole Position und thront bereits 10 Punkte vor dem FC Servette auf dem ersten Rang. Findet also die Berner-Dominanz nach der einjährigen Zürcher-Intervention ihre Fortsetzung?
Matthias Dubach ist sich sicher: "Ganz bestimmt".