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Tschertschessow: "Nur Pressing kann ein Leichtathlet auch"

Stani Tschertschessow kehrt als Kasachstan-Teamchef nach Österreich zurück. So steht er zu Red-Bull-Fußball, Theoretikern und dem FC Wacker.

Tschertschessow: Foto: © GEPA

Das Telefonat dauert wenige Sekunden. Unmittelbar nach dem Ende des Gesprächs mit LAOLA1 läutet das Handy von Stanislaw Tschertschessow, ein kurzer Wortwechsel, das war’s.

Sein Stürmer Abat Aymbetov von Adanaspor hat den Flug nach Österreich verpasst, weil die Zufahrtsstraße zum Flughafen für den türkischen Staatschef Erdogan gesperrt war. Wann er es ins Camp des kasachischen Nationalteams im "Steigenberger Hotel & Spa Krems" schafft? Ungewiss.

"Wie du auf so etwas reagierst, lernst du beim Trainerkurs in Lindabrunn nicht", lächelt Tschertschessow. Der 61-Jährige strahlt eine Ruhe und Abgeklärtheit aus, wie du sie wohl nur mit seiner Laufbahn haben kannst.

"Ein Computer kann keine Energie austauschen"

Als Spieler war er in Russland, Dresden und Tirol, als Trainer in Innsbruck, Grozny, Warschau, Budapest und Moskau. Und das sind nur Auszüge aus seinem Lebenslauf.

"Es gibt Theoretiker, es gibt Praktiker. Ich gehöre zu den Praktikern. Es gibt sicher andere Trainer, die in der Theorie Übungen besser erklären können als ich. Aber wenn du deinen Spielern gegenüberstehst, brauchst du auch Autorität. Wenn du so viele Jahre in einer Kabine gelebt hast, weißt du Bescheid, was die Spieler wollen und brauchen, ohne mit ihnen sprechen zu müssen. Es geht um Energieaustausch. Ein Computer kann keine Energie austauschen", sagt er.

Foto: © getty

Als Tormann haben sie ihm nachgesagt, Magnete in den Handschuhen zu haben, weil die Bälle immer dort landeten, wo er schon stand. Als kasachischer Teamchef spielt er am Donnerstag in der UEFA Nations League gegen das ÖFB-Team.

"Leider nicht in Innsbruck, schade", findet Tschertschessow. Über 200 Mal stand der Mann mit dem markanten Schnauzbart im Tor der Tiroler. Auch heute zieht es ihn immer wieder in Heilige Land.

Lachend erzählt er: "Ich war im Sommer in Tirol und dort bei einem Training. Kein Spieler hat mich gekannt. Dann habe ich ihnen erzählt, dass ich mit diesem Verein im Europacup gegen Fiorentina gewonnen und den Spatenstich fürs Stadion gemacht habe. Dieses Innsbrucker Stadion muss wieder richtigen Fußball erleben, der FC Wacker muss wieder dorthin, wo er hingehört."

Ein Remis gegen Norwegen wird nicht bejubelt

Diesmal sei er aber eben nicht auf Urlaub hier in Österreich. "Ich habe einen wichtigen Job zu erledigen!" Erst im August übernahm er die Kasachen. Im ersten Spiel überraschte sein Team mit einem 0:0 gegen Norwegen.

Er erinnert sich: "Ich habe die Mannschaft zwei Tage vor dem Spiel zum ersten Mal gesehen. Da musst du einen Spagat auf alle Seiten machen. Und dann geht es mit Haaland gegen den besten Torschützen der Welt."

Grund genug, um mit dem Remis hochzufrieden zu sein, könnte man meinen. Weit gefehlt. "Mit verlorenen Punkten kannst du nie zufrieden sein. Zufrieden kannst du sein, wenn du letztendlich etwas feierst. Ich habe mich nie nach jedem Spiel, das wir gewonnen haben, gefreut. Wichtig ist, ob du am Ende den Pokal oder die Goldmedaille holst. Dann kannst du feiern", erklärt der Coach.

"Meine Frau hatte endlich mal einen Mann daheim, meine Kinder einen Papa, mein Enkel einen Opa"

Stanislaw Tschertschessow

Dass das mit Kasachstan nicht so leicht werden könnte, ist ihm klar. Ob er sich gegen Österreich Chancen ausrechne? "Ich war in der Schule in Mathematik gut, kann gut rechnen. Aber ich bin der Falsche für prozentuelle Geschichten. Aber natürlich wollen wir eine gute Figur machen. Wenn man sich das am Papier ansieht, ist Österreich auf einem anderen Level. Sie haben bei der EM eine gute Figur gemacht, waren in aller Munde."

Dass es für das ÖFB-Team zum Start in die Nations League nicht nach Wunsch gelaufen ist, wundert ihn nicht: "Ich habe das selbst erlebt, nach einem großen Turnier sind die Emotionen ein bisschen weg. Das ist menschlich. Aktien gehen auch nicht immer permanent nach oben."

Endlich wieder Muttersprache

Als Teamchef führte er Russland bei der Heim-WM 2018 bis ins Viertelfinale, wo erst im Elferschießen gegen Kroatien Endstation war, nachdem davor Spanien ausgeschaltet wurde. Im Sommer 2021 war nach der EURO Schluss, ein halbes Jahr später übernahm Tschertschessow Ferencvaros.

In Ungarn feierte er zwei Meistertitel und einen Cupsieg, ehe im Sommer 2023 die Trennung erfolgte. Was er danach in dem Jahr ohne Job gemacht hat?

Foto: © GEPA

"Meine Frau hatte endlich mal einen Mann daheim, meine Kinder einen Papa, mein Enkel einen Opa. Ich habe die Wohnung renoviert. Ich habe nie sofort den nächsten Verein übernommen, wenn ich irgendwo weg bin. Du musst nach jeder Station erstmal den Kopf freikriegen, analysieren", sagt er.

Das Angebot der Kasachen kam ihm dann gerade recht. "Ich wollte wieder einen Verein oder ein Nationalteam mit meiner Muttersprache übernehmen. Bei Ferencvaros waren 20 verschiedene Nationalitäten in der Kabine. Ich kann auf Spieler in Russisch mit einem Wort Einfluss nehmen, auf Englisch muss ich eine ganze Geschichte erzählen und schaffe es trotzdem nicht. Das kostet Energie." Als er das erzählt, streut er ein paar Sätze in astreinem Englisch ein.

Anfragen aus Österreich habe es in letzter Zeit keine gegeben. Die Entscheidungsträger hierzulande würden glauben, er wäre viel zu teuer. "Aber sie müssen doch nur mit mir reden", meint er.

"Red Bull hat das ja nicht erfunden"

Was hierzulande passiert, verfolgt der Russe immer noch mit Interesse. Dass Red Bull irgendwann so erfolgreich sein werde, habe er beim Einstieg schon geahnt. Dass es nicht von heute auf morgen gehe, aber auch.

Doch wie steht Tschertschessow zum Red-Bull-Fußball? "Red Bull hat das ja nicht erfunden, das ist der moderne Fußball. Beim Pressing geht es um die Physis. Aber wenn du den Ball gewinnst, musst du damit etwas machen. Da brauchst du Spieler, die Intellekt und die Technik haben. Nur Pressing kann ein Leichtathlet auch spielen. Ohne Ball ist das eine andere Sportart", meint er.

Von Ralf Rangnick spricht er nur in höchsten Tönen. Das erste Aufeinandertreffen fand im Februar 1999 statt, Tschertschessow stand im Tor des FC Tirol, Rangnick trainierte den SSV Ulm. Das Testspiel endete mit einem 2:0-Sieg der Innsbrucker.

Der Mann hat wirklich schon alles erlebt...



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