In der 87. Spielminute explodiert Dornbach. Sport-Club-Fans gelten als gemütlich, nicht aber am 20. Oktober 2022. "So wie die letzten zehn Minuten habe ich den Sport-Club-Platz noch nie erlebt", sagt Trainer Robert Weinstabl (39). Als Miroslav Beljans abgefälschter Schuss unhaltbar zum 3:1 im Tor landet, fliegen die Bierbecher vor ihm aufs Feld. Die Wiener Austria ist im Cup-Achtelfinale besiegt, die Friedhofstribüne wird zum Tollhaus.
"Bis zum 3:1 kriegst du gar nicht mit, dass da 6000 Zuschauer im Stadion sind. Aber die letzten Minuten bin ich nur mehr auf der Trainerbank gesessen und habe versucht, das für mich einzufangen", meint Weinstabl. "Der Moment war einfach geil", schwärmt Kapitän Philip Dimov, "den Stellenwert dieses Sieges habe ich überhaupt nicht einordnen können. Denn er ist ein Stück Geschichte."
Das liegt über drei Monate zurück. Das Rad der Zeit dreht sich weiter. Der Bierregen ist dicken Schneeflocken gewichen. Ende Jänner liegen fünf Zentimeter Schnee auf dem Kunstrasen im Trainingszentrum. Ideale Bedingungen für die Generalprobe für ein Cup-Viertelfinale sind das nicht. Die Sicht ist beschränkt, der Ball rollt mehr schlecht als recht, Stadtligist SV Donau wird dennoch mit 4:2 besiegt.
"Es ist ziemlich bergab gegangen"
Stunden zuvor trifft sich Philip Dimov mit LAOLA1 zum Interview im Gasthaus "Brandstetter" an der Hernalser Hauptstraße. Die Lokalität war sein Vorschlag. Das Wirtshaus hat eine lange Sport-Club-Tradition, hier wird auch der Vorverkauf der Tickets für das Cup-Viertelfinale gegen die SV Ried (Sa., ab 18 Uhr im LIVE-Ticker >>>) abgewickelt. Einzig für die Blaue Tribüne, auf der normalerweise die Gästefans untergebracht sind, gibt es noch welche zu kaufen.
Dimov wurde im Rapid-Nachwuchs ausgebildet. Als die Hütteldorfer ihn nicht mehr haben wollten, habe es für ihn nur zwei Optionen gegeben: Die Vienna und den Wiener Sport-Club. "Damals war der WSC eine Riesennummer, das war finanziell eine ganz andere Liga." Nur: "Ab dem Moment, wo ich gekommen bin, ist es eigentlich ziemlich bergab gegangen. Vorher war relativ viel Geld im Spiel - und diese Leute haben sich dann verabschiedet." Die Folge: Jahrelanger Abstiegskampf in der Regionalliga Ost.
Seit 2008 ist Dimov fast durchgehend beim Sport-Club. Nur 2017 war er für eine Halbsaison in Traiskirchen, nachdem er vom damaligen Trainer und Sportleiter Christoph Jank vor dem letzten Spieltag aussortiert wurde. Zu viele Karten (fünf Gelbe und vier Gelb-Rote in einer Saison) und schlechtes Leadership als Kapitän sollen den Ausschlag gegeben haben, inoffiziell steckte wohl mehr dahinter.
"Im Nachhinein war’s gut, dass es so passiert ist. Ich habe es wieder viel mehr zu schätzen gelernt, was es bedeutet, hier zu spielen", meint der 32-Jährige heute. Das Viertelfinale wird sein 257. Einsatz für den Sport-Club, aus dem aktuellen Kader hat nur Eigengewächs Mirza Berkovic mehr Spiele für den WSC absolviert (263). "Ich bin ein Mensch, der auf Loyalität Wert legt", sagt Dimov.
Nostalgie und Gegenwart
Die Folgen des Konkurses und die damit verbundene Ausgliederung der Fußballsektion, die fortan als eigenständiger "Wiener Sportklub" auflief; deren Zurückführung in den Stammverein 2017 und sportlich durchwachsene Leistungen prägten dieses Jahrtausend der einstigen Größe im österreichischen Fußball. Die drei Meistertitel – der letzte datiert aus der Saison 1958/59 – und der 7:0-Triumph im Praterstadion gegen Juventus Turin sind nur noch als Legenden präsent. Der Cup-Sieg jährt sich heuer zum 100. Mal. Die letzte Saison in der 2. Liga liegt 20 Jahre zurück.
"Manche Fans schwärmen natürlich immer noch von früher. Über Zeiten, wo man mit Erich Hof gegen Real Madrid gespielt hat", so Dimov, "es ist ein bisschen Nostalgie. Mein Opa hat mir das auch immer erzählt, der war früher auch am Sportclub-Platz." Im Alltag kriege man nichts davon mit.
"Gegen die Austria hat man gespürt, dass der Sport-Club auch über die Ostregion hinweg Strahlkraft hat."
"Die Flutlichtmasten sind im 17. Bezirk ein Symbol. Jeder, der an Sport interessiert ist, kennt den WSC. Das bringt schon ein bisschen Kultur mit sich", meint Dimov. "Gegen die Wiener Austria hat man gespürt, dass der Sport-Club auch über die Ostregion hinweg Strahlkraft hat", fügt Weinstabl hinzu.
In der Liga kommen durchschnittlich knapp 1500 Zuschauer – österreichweit bedeutet das Platz 15 im Zuschauerranking. "Viele Spieler lassen sich deshalb auch leichter hierherlocken, wenn du dieses Privileg hast, vor so vielen Leuten zu spielen. Da zähle ich auch dazu. Das ist einfach etwas Besonderes", sagt Dimov. Dass der Sport-Club wieder höherklassiger spielen soll, ist für ihn klar. "Alleine schon aufgrund der Tradition. Aber der WSC muss es sich sportlich und infrastrukturell wieder erneut verdienen."
Aufwind...
"Asozial und ka Göd im Portmonnaie, das ist der WSC", singen die Fans auf der Friedhofstribüne. Denn das ganz große Geld ist in Hernals immer noch nicht zu holen. Auch wenn mit der Mauerwerk Immobilien Holding im August ein Großsponsor an Land gezogen wurde, der von den Fans nicht unkritisch gesehen wird. Heute bereitet die finanzielle Situation aber weniger Kopfzerbrechen, es ist etwas Ruhe eingekehrt in Hernals.
"Es ist seit ein paar Jahren so ein bisschen ein kontinuierlicher Aufwärtstrend da. Und das merkt man auch, wenn es um Alltagsdinge geht", erklärt Dimov. "Es gab Zeiten, da hatten wir einfach keine Trainingskleidung. Da gab es eine große Kiste und es wurde um langes Gewand gekämpft, First Come, First Get. Es waren wirklich wilde Sachen früher."
"Es gab Zeiten, da hatten wir keine Trainingskleidung. Es gab es eine große Kiste, um langes Gewand wurde gekämpft. First Come, First Get.“"
Herausfordernd sei es immer noch, meint etwa Weinstabl. "Du gehst nicht nur zwei, drei Stunden her und trainierst, sondern es ist ein Full-Time-Job." Beim Sport-Club sei man nicht "nur" Trainer, sondern habe Verantwortlichkeiten, die weit über jene des Trainers hinausgehen. Missen möchte er das aktuell nicht, der Lerneffekt sei groß.
...mit Grenzen
"Bis zur letzten Saison habe ich das Gefühl gehabt, dass es permanent und stetig in kleinen Schritten nach vorne geht", stimmt aber auch Weinstabl seinem Kapitän zu. 2021/22 wurde man Dritter, das beste Ergebnis seit dem Abstieg in die Regionalliga. In dieser Spielzeit wollte man diese Leistung bestätigen.
Aktuell belegt der WSC Rang fünf, 18 Zähler hinter Leader SV Stripfing. Für Sport-Club-Verhältnisse der letzten Jahre sei das natürlich gut. "Aber wir wollen ja mehr", so der Trainer. Einer starken Heimbilanz (sechs Siege, ein Remis und nur eine Niederlage in acht Heimspielen) stehen magere sechs Punkte aus acht Auswärtsspielen gegenüber.
"Wir haben leider das Problem, dass wir auswärts die Mentalität absolut nicht auf den Platz bringen", sagt Weinstabl. Er erklärt das mit der nötigen Einstellung, die in manchen Spielen gefehlt habe und mit nötigen Toren, die trotz spielerischer Überlegenheit nicht gemacht worden seien.
Seit dem Abgang von Rene Kriwak im vergangenen Winter (elf Treffer im Herbst 2021) fehlt ein wirklicher Goalgetter. "Das sind diese Punkte, die uns derzeit fehlen, um vorne dabei zu sein. Es ist bisher sicher nicht zufriedenstellend für uns." Er glaube aber an die Angreifer. Man müsse es einfach hinbekommen, "dass sie Woche für Woche konstanter spielen."
"Bis zu letzten Saison ist es stetig in kleinen Schritten nach vorne gegangen. Aktuell stagnieren wir in gewissen Punkten. Was auch damit zu tun hat, dass vieles mit dem Stadionprojekt zusammenhängt."
"Diese Saison merke ich, dass wir als Mannschaft und Verein in gewissen Punkten stagnieren", meint Weinstabl weiter. Langfristig müsse man an ein paar Schrauben drehen, um die nächsten Schritte zu gehen. "Natürlich würde es uns guttun, wenn auf manchen Positionen zwei, drei Spieler wären, die für Ostliga-Verhältnisse überdurchschnittlich verdienen, keine Frage." Andere Vereine hätten andere Möglichkeiten, sagt Weinstabl und verweist auf den Kaufrausch, der von anderen in der Ostliga betrieben wird. "Aber meine Aufgabe ist es, aus unseren Möglichkeiten das Maximum rauszuholen", erklärt Weinstabl.
Manches aber liegt ohnehin nicht in der Hand des WSC. Was damit zu tun hat, dass vieles – auch ein etwaiger Aufstieg – mit dem Stadionprojekt zusammenhängt. Und da könne man niemandem einen Vorwurf machen, so Weinstabl.
Die unendliche Geschichte
Das Thema Stadion – es ist ein leidiges für den Sport-Club. Schon oft angekündigt, genauso oft wieder aufgeschoben. "Irgendwann haben wir gesagt, wir glauben das alles erst, wenn der erste Bagger hier steht. Der war zwar da, hat die Tribüne an der Kainzgasse abgerissen und hat das dann so hinterlassen", so Dimov.
"Eine Zeit lang hat mich das richtig interessiert, gerade wir Führungsspieler wollten immer am neuesten Stand sein", meint der Kapitän und ergänzt: "Vor zwei Jahren haben wir aufgehört, uns damit zu beschäftigen. Es ist einfach schade, weil wir alle noch das Ziel haben, im neuen Stadion einmal aufzulaufen."
"Es ist schon sehr nervig, weil gerade dieser eine Punkt den Verein in allen Bereichen nach vorne bringen wird und auch ein richtiger Booster wäre für uns alle. Für den sportlichen Bereich, für die Fans, für den Vorstand", pflichtet auch Weinstabl ein.
Dabei sah es gut aus. Die Stadt Wien sicherte die Finanzierung zu, die ersten Bauetappen fanden statt. Corona-Krise und der Krieg in der Ukraine trieben die Baukosten anschließend in die Höhe, aktuell wird an einer neuen Ausschreibung für die neue Haupttribüne gearbeitet.
Die alte hat mittlerweile nicht einmal mehr ein Dach. Wegen Gefahr in Verzug musste es auf Bestreben des Verpächters – der Stadt Wien – abgetragen werden. Die Geschäftsführer der Sport-Club-Platz Stadionerrichtungs- und Betriebs GmbH legten daraufhin ihre Ämter zurück.
Präsident Wolfgang Raml, Fußball-Sektionsleiter und Vize-Präsident David Krapf-Günther sowie Schriftführer Thomas Girstmair übernahmen die Posten Mitte Dezember.
Schlägt der Underdog wieder zu?
Für den Sport-Club ist das Viertelfinale gegen Ried am Samstag die größte Partie der letzten zwei Jahrzehnte. Erstmals seit der Saison 1996/97 stehen die Dornbacher unter den besten Acht des Pokals.
Denn so durchwachsen die Saison in der Liga läuft, so perfekt klappt es bis dato im ÖFB-Cup. In der ersten Runde wurde der SAK Celovec mit 3:0 besiegt, anschließend schaltete der WSC mit Austria Lustenau (2:0) und der Wiener Austria (3:1) zwei Bundesligisten aus.
Weil die routinierte Achse im Zentrum für Stabilität sorgte (der einzige Gegentreffer resultierte aus einem Strafstoß). Weil die Außenspieler Miroslav Beljan und Martin Pajaczkowski Sahnetage erwischten, Mario Vucenovic im Sturmzentrum Bälle festmachen konnte. Weil die Chancenverwertung passte und die Mentalität die Bundesligisten schlussendlich bog. "Du brauchst natürlich als Amateurklub ein Spielglück. Aber wie wir die Tore gemacht haben, in die Balleroberungen gekommen sind - das war kein Zufall", so Weinstabl.
Rund eine Woche vor der Partie sind die Beteiligten noch entspannt. Auch wenn Dimov zugibt: "Du merkst im Verein, dass es ein historisches Spiel ist."
Anspannung sei trotzdem noch nicht da, Vorfreude sehr wohl. "Vor allem, wenn du weißt, wir spielen bei uns im Stadion. Das ist für uns viel Wert", meint Dimov. Witterungsbedingt war eine Austragung am Sport-Club-Platz lange unsicher, die Kommissionierung durch den ÖFB befand eine Rasenheizung – und damit das Ausweichen in die Südstadt – aber für nicht notwendig.
Bei Weinstabl hört sich das ähnlich an, als er vor dem Testspiel in der Kabine sitzt. "Es ist irgendwie eigenartig, aktuell fehlt noch ein bisschen das Feeling - aber das kommt von Tag zu Tag. Spätestens wenn wir dann vor 6000 Zuschauern einlaufen, allerspätestens dann."
Fighten, genießen, hoffen
Die gesamte Vorbereitung des WSC wurde auf dieses eine Spiel ausgerichtet, in der Liga geht es erst Ende Februar weiter. Bremsen müsse man das Team noch nicht, sagt Weinstabl eine Woche vor Anpfiff. Herausfordernd sei es hingegen, der Mannschaft erneut klarzumachen, dass ein Spiel mit viel Drecksarbeit gegen den Ball warte. Was dazukommt: "Es ist komplett atypisch für einen Amateurspieler, nach der langen Pause bereits Anfang Feber am Anschlag da zu sein." Er sei aber überzeugt, dass seine Spieler nächste Woche brennen würden, meint Weinstabl lachend.
Und warnt vor dem Gegner. "Jeder sagt: Nach Lustenau und der Austria - jetzt kommt ja 'nur' Ried. Und das macht's schwer. Wir dürfen nicht glauben, dass es ein Selbstläufer ist, wieder einen Bundesligisten auszuschalten. Wir müssen das total demütig sehen."
"Ein Viertelfinale im Cup, als letzter Amateurverein - sowas erlebt man vielleicht nur einmal in seiner Karriere", ist sich Weinstabl bewusst. Es gelte, wieder eine Mischung zu finden aus Anspannung, Aggressivität, Emotionen und Leidenschaft. "Aber wir müssen es auch ein Stück weit aufsaugen und genießen."
Man müsse realistisch sein, meint Dimov. "Physisch sind sie uns sicher überlegen, traurig wäre, wenn es nicht so wäre. Aber das war auch gegen Lustenau und die Austria so." Wenn kleine Situationen auf Seite des Sport-Clubs fallen würden, man einen guten Tag erwische und Ried nicht – dann könne man sie auch schlagen. "Das sind auch nur elf Menschen am Platz, die wissen, dass sie gegen eine Regionalligamannschaft spielen", so Dimov.
Auch wenn Ried gesagt bekomme, dass man den Sport-Club nicht unterschätzen dürfe - das Unterbewusste spiele eine Rolle, ist sich Dimov sicher. Und der WSC hat es ja schon zwei Mal vorgemacht. "Es sind einmalige 90 Minuten. Die Hoffnung auf das Weiterkommen ist riesig."