Lieber 1999er-Jahrgang,
irgendwie ist es beneidenswert. In der Annahme, dass die Heim-EURO 2008 die erste EM war, die du bewusst mitverfolgt hast, fieberst du nun bereits „deiner“ vierten Europameisterschaft mit rot-weiß-roter Beteiligung entgegen.
Um ganz genau zu sein, hast du keine EM mit Österreich verpasst. Aber das nur nebenbei.
Was du jedenfalls verpasst hast, ist eine Zäsur in der heimischen Fußball-Geschichte. In deinem Geburtsjahr.
Dieser Tage wird es ein Vierteljahrhundert alt, das 0:9-Debakel gegen Spanien in Valencia.
"Ein Jahrhundertergebnis", meinte Teamchef Herbert Prohaska am 27. März 1999 in der Pressekonferenz nach dem 90-minütigen Albtraum, der ihm letztlich den Job kosten sollte.
Wenn ein Ereignis auch 25 Jahre später noch präsent ist, ist dem wohl so. Unterboten wurde diese Abfuhr in der kompletten ÖFB-Geschichte nur ein Mal, und zwar 1908 mit einem 1:11 gegen England.
Warnung und Impulsgeber
Das eher traurige Jubiläum soll nicht zwingend ein Anlass dafür sein, die ausnahmslos verdienstvollen Herrschaften, denen dieses Blackout passiert ist, an ihren Ausrutscher zu erinnern. Sie haben allesamt in ihren Karrieren große Triumphe gefeiert, die es verschmerzen lassen, alle fünf Jahre mit diesem Debakel konfrontiert zu werden.
Konkret standen damals diese Spieler in der Startelf: Franz Wohlfahrt; Wolfgang Feiersinger; Peter Schöttel, Toni Pfeffer; Günther Neukirchner, Christian Prosenik, Andreas Herzog, Roman Mählich, Arnold Wetl; Harald Cerny, Mario Haas. Als Wechselspieler betraten Walter Kogler, Hannes Reinmayr und Christian Mayrleb das Feld.
Österreichs 0:9! Der Kegelabend von Valencia
Hier kann man wahrlich nicht von einer schlechten Nationalmannschaft sprechen. Diese Generation vertrat Österreich immerhin bei der WM 1998. Man muss nicht 1999 geboren sein, um zu wissen, dass seither keine Qualifikation für das größte Fußball-Turnier der Welt gelang. Es war also keine so triste Phase, in der sich das Nationalteam im März 1999 befand.
Aber irgendwie war dieses 0:9 rückblickend der Beginn der Finsternis.
Der Ankick für lähmende ÖFB-Jahre, in denen das Nationalteam so weit von internationaler Konkurrenzfähigkeit entfernt war, wie man es sich heute gar nicht mehr vorstellen möchte.
Eine Warnung, wie schnell man im Fußball von Entwicklungen überholt werden kann, wenn man die Zeichen der Zeit übersieht. Damals jedoch gleichzeitig einer der Impulsgeber für ein nachhaltiges Umdenken, von dem Fußball-Österreich derzeit profitiert.
Gut und weniger gut gealterte Sprüche
In allererster Linie war es jedoch einmal schmerzvoll, zur Lachnummer zu verkommen. Zum hilflosen Sparringpartner der damals noch nicht zum Nonplusultra des Weltfußballs zählenden Spanier, bei denen Superstar Raul mit vier Toren und drei Assists einen denkwürdigen Arbeitstag erwischt hat.
Schmerzen, die auch das Lächeln über das bekannteste Überbleibsel dieses Abends nur am Rande übertünchen konnte.
"Hoch werma's nimma g'winnen", philosophierte Toni Pfeffer im Pausen-Interview mit ORF-Reporter Andreas Felber beim Zwischenstand von 0:5.
Eine Analyse, der man schon damals nicht widersprechen konnte und mit der er sich einen Fixplatz im Olymp der heimischen Fußball-Weisheiten gesichert hat. Ein Spruch, der top gealtert ist und quasi der Stichwortgeber für das von Ralf Rangnick in Auftrag gegebene ÖFB-Liedchen "Hoch gwinnmas (n)imma" von AUT of ORDA war.
Weniger gut gealtert, weil von den meisten bereits vergessen, aber eigentlich auch ein staubtrockener Spruch entkam Torhüter Franz Wohlfahrt, der zwei Tage nach dem "Kegelabend" von Valencia im "Kicker" folgendermaßen zitiert wurde: "Mit mir in absoluter Hochform hätte es ein 0:8 gegeben."
Warum sind andere besser?
Etwas Schlaues hat ebenfalls mit zwei Tagen Abstand Ivica Osim gesagt. Der Jahrhunderttrainer des SK Sturm Graz hatte mit Mario Haas, Günther Neukirchner, Roman Mählich und Joker Hannes Reinmayr vier Valencia-"geschädigte" Schützlinge im Kader, den er gerade auf das anstehende Stadt-Derby gegen den GAK vorbereitete.
"Zu sagen, die anderen sind besser, ist einfach. Ich habe Angst vor dem Nihilismus solcher Ausreden. Die Spieler sollten sich fragen, warum sind die anderen besser?"
Eigentlich hätte sich schon damals ein ganzes Fußball-Land intensiver fragen müssen, warum vergleichbare Nationen besser sind.
Während eine namhafte, aber bereits sehr routinierte Mannschaft in Valencia unterging, wuchs dahinter wenig bis gar nichts nach.
In der U21-EM-Qualifikation 1998/99 wurde Spanien mit 22 von 24 möglichen Punkten aus acht Spielen Gruppensieger. Und Österreich?
Die ÖFB-Junioren blamierten sich unter Teamchef Ernst Weber mit mickrigen drei Zählern sowie dem letzten Gruppenplatz noch hinter Zypern. Erzählungen von damaligen Kadermitgliedern erinnern eher an Kabarett als an Profi-Fußball.
Sagen wir so, in der Bundesliga wurden damals nicht die allercleversten Rückschlüsse auf das Bosman-Urteil 1995 gezogen. Der Blick galt vermehrt Legionären, auf die Ausbildung des eigenen Nachwuchs wurde sträflich vergessen.
Diese Rechnung bezahlte das A-Nationalteam vor allem in den Nuller-Jahren, als der Zuschlag für die EURO 2008 und der dadurch entstandene Druck auf möglichst schnelle Besserung zwar ein rascheres Umdenken ermöglichte – der damalige Sportdirektor Willi Ruttensteiner und Co. setzten auch richtige Akzente.
Aber denkt man an die Dürrejahre bis zum Beginn der Ernte, kommen einem derartig viele Tiefpunkte in den Sinn, dass man auch hier 99er-Jahrgänge nur beneiden kann, weil sie dies teilweise versäumen durften.
Was sich für die Gegenwart ableiten lässt
Um den damaligen Ausgangspunkt zu verdeutlichen, hier ein Blick ins Jahr 1999. Im April verkündete ÖFB-Präsident Beppo Mauhart im Eindruck des 0:9 nämlich die Installation einer Art Jugend-Kommission, um eine moderne Ausbildungsstrategie zu entwickeln.
Weil: "Man kann nicht dem Breitensport die alleinige Verantwortung für die Ausbildung der Jugendlichen zu Spitzenfußballern überantworten. Vor allem für die technische Ausbildung müssen Richtlinien und Trainingsinhalte vom ÖFB kommen."
Nonetnana.
Niemand wird bestreiten, dass sich das in den Jahren darauf installierte Akademie-System bezahlt gemacht hat.
Blendet man in die Gegenwart, lässt sich aus der Vergangenheit vor allem eine Lehre ableiten: Wenn es gerade gut läuft, muss man umso mehr dafür tun, dass es so bleibt.
Dass es auch aktuell Warnsignale gibt, ist kein Geheimnis. Fußball-Österreich hatte im internationalen Vergleich bestimmt schon eine beeindruckendere Breite an hoffnungsvollen Talenten als derzeit. Dass es immer mehr Bundesligisten als Vorteil empfinden, wenn sie nicht auf den Österreicher-Topf setzen, muss zu denken geben.
Führende Köpfe des ÖFB-Aufschwungs wie David Alaba oder Marko Arnautovic befinden sich längst in ihren 30ern.
Keine Frage: Das ÖFB-Team scheint wesentlich besser auf neue Zeiten vorbereitet als vor 25 Jahren. Aber es ginge zweifelsohne noch besser.
Auch um sich das immer wieder vor Augen zu führen, dienen solche Blicke in die Historie.