ÖFB-Teamchef Marcel Koller und sein Mammutprogramm bis zur EURO.
Neben all den anderen intensiven Vorbereitungen beschäftigt sich der 55-Jährige derzeit akribisch mit den kommenden beiden Test-Gegnern Malta und Niederlande beziehungsweise den drei EM-Kontrahenten.
Für dieses zweiteilige LAOLA1-Interview ließ sich der Schweizer aus dem Analyse-Alltag reißen. Zu besprechen gab es auch genügend.
Ob die Debatte über den zweiten Anzug, unnötige Gegentore, die Ambitionen von Marko Arnautovic, die taktische Variable David Alaba, die fehlende Turniererfahrung, die Rahmenbedingungen im ÖFB oder die immer weiter aufgehende Schere zwischen Nationalteam und Liga - Koller gewährt umfangreichen Einblick in seine Gedankenwelt.
Hier geht es zu Teil 2 des Koller-Interviews: Der wahre Schlüssel für eine erfolgreiche EM
LAOLA1: Sie haben sich bis zur EURO ein umfangreiches Programm vorgenommen. Bei welcher Analyse störe ich Sie gerade?
Marcel Koller (lacht): Bei Malta!
LAOLA1: Wenn ich ehrlich bin, war ich ziemlich überrascht, dass sie sich 55 Spiele bis zum Zeitpunkt nach den Tests gegen Albanien und die Türkei aufbewahren. War da die Neugier nie groß, das eine oder andere Spiel eines Gruppen-Gegners vorzuziehen und anzuschauen?
Koller: Ja, schon. Ich habe sie relativ früh auf den Laptop kopiert. Aber: Schritt für Schritt! Ich bin noch geduldig geblieben. Es fing schon an zu kribbeln, aber wichtig ist zunächst einmal, die kommenden Gegner anzuschauen und nicht weit nach vorne zu gehen und das, was noch vor der Tür steht, zu vergessen und zu vernachlässigen.
LAOLA1: Beim letzten Lehrgang konnte man grundsätzlich den Eindruck gewinnen, dass Sie das Thema EURO nicht noch größer machen wollen, als es ohnehin schon ist.
Koller: Weil es dafür noch viel zu früh war. Es gab noch diese zwei Spiele. Man weiß auch, welches Geschrei es bei zwei Niederlagen gegeben hätte: „Und was ist jetzt mit der EURO?“ Daher haben wir in den letzten viereinhalb Jahren eigentlich immer Schritt für Schritt gedacht – vielleicht am Anfang noch nicht ganz, aber wir sind dahin gekommen, dass wir immer das nächste Spiel als das Wichtigste betrachten. Damit sind wir gut gefahren, daher gibt es keinen Grund, das zu ändern.
LAOLA1: Ein Event wie die EURO ist von der Dimension her etwas, das die meisten Spieler noch nicht erlebt haben und viel größer als etwa der Qualifikations-Alltag. Natürlich wird es Ablenkungen geben, die Medienberichterstattung wird noch intensiver. Schon beim letzten Camp haben Sie die Unruhe durch Prämienverhandlungen oder Sponsoren-Termine moniert. Wie begegnen Sie diesem Thema?
Koller: Indem wir von unserer Seite her natürlich vieles eingrenzen und sagen: „Okay, das geht jetzt nicht!“ Vor allem die Medienabteilung ist da stark belastet, weil viele Anfragen kommen und sie vieles absagen müssen. Das hat jedoch nichts damit zu tun, dass uns irgendjemand irgendwie nicht passt. Vielmehr reicht die Zeit einfach nicht, um jeden bearbeiten zu können, weil wir anderes zu tun haben – und das im Moment wichtiger ist.
LAOLA1: Zuletzt wurde diskutiert, ob der zweite Anzug nicht passt. Wie sehr stört Sie diese Debatte?
Koller: Diese Debatte kann man ja nicht beeinflussen. Es ist natürlich schwieriger, in ein Spiel reinzukommen oder die Möglichkeit zu haben, einmal eine Halbzeit zu spielen, als regelmäßig zu spielen. Es ist uns jedoch bewusst, dass Spieler fehlen und ausfallen können. Das haben wir in den für mich zwei wichtigsten Spielen gezeigt: Gegen Russland hat David Alaba zwei Mal gefehlt und wir haben gewonnen. Wenn vom Stamm fünf oder sechs ausfallen, ist es aber auch in anderen Nationen so, dass es ein anderes Spiel wird. Das ist nicht nur in Österreich so.
LAOLA1: Kapitän Christian Fuchs hat in einem Interview gemeint, dass sich Spieler aus der zweiten Reihe vielleicht zu viel Druck auferlegen, wenn sie einmal eine Chance bekommen. Bei Ramazan Özcan hatten wir etwa dieses Thema. Sehen Sie dieses Problem auch?
Koller: Ich sehe es nicht als Problem. Es ist auch ein bisschen zu pauschal zu sagen: „Die sind jetzt unter Druck.“ Klar, jeder will auf sich aufmerksam machen. Das ist jedoch eine individuelle Sache, die man bespricht: „In der und der Situation musst du ein bisschen ruhiger sein, vielleicht erst einmal die Situation erkennen und nicht immer volle Pulle alles reinhauen.“ Manchmal reicht es sogar, eine Spur weniger zu laufen, dafür mehr den Kopf dabei zu haben oder sich bewusster zu konzentrieren. Es ist nicht notwendig, irgendetwas anderes zu spielen, sondern einfach nur das, was das Spiel braucht.
LAOLA1: Seit die Qualifikation feststeht, hat sich die Zahl der Gegentore wieder erhöht, darunter waren auch sehr vermeidbare. Beunruhigt Sie das oder ist das Vertrauen groß, dass die Mannschaft, wenn es zählt, auf Knopfdruck da ist und so eiskalt wie in der Quali agieren kann?
Koller: Wenn wir Gegentore bekommen, aber immer eines mehr schießen, passt es ja auch. Auf Knopfdruck ist relativ leicht gesagt. Es ist entscheidend, dass man das auf den Platz bringt. Den Jungs ist das sicher auch bewusst, man kann aber auch da nichts versprechen. Nach dem Albanien-Spiel habe ich gesagt, dass in der Defensivarbeit der Erfolg liegt. Im Türkei-Spiel habe ich nicht recht bekommen. Aus dem Spiel heraus hatte die Türkei keine einzige Torchance. Du kannst defensiv hervorragend spielen und trotzdem verlieren.
LAOLA1: In Ihrem Buch haben Sie geschildert, dass die Mannschaft in Montenegro vor der Pause ihre Grundwerte verraten habe. Sind Spiele, in denen es um weniger geht, noch mehr Kopfsache?
Koller: Es geht um die innere Einstellung. Sie haben ja x-fach gezeigt, sie können Fußball spielen. Aber das braucht auch immer persönliche Überwindung. An manchen Tagen geht es dir nicht so gut, du hast schwere Beine – genau dann ist der Kopf entscheidend, indem man sich sagt: „Weißt du was? Egal! Da gehe ich jetzt drüber und spüre das nicht! Jetzt muss ich einfach Gas geben!“
LAOLA1: Sie haben mit Alessandro Schöpf einen Spieler mit wahrscheinlich längerfristiger ÖFB-Perspektive dazu geholt. Ist der Reiz da, einen zweiten oder dritten Jungen die Erfahrung einer EURO sammeln zu lassen oder überwiegt diesmal der „Familien-Gedanke“ in Ihrem Kader?
Koller: Ich denke nicht, dass wir in einer Phase sind, in der wir groß testen können. Vor einer Endrunde ist das nicht der richtige Zeitpunkt. Aber wir haben natürlich junge Spieler mit Perspektive, die aus unserer Sicht die Qualität haben, im Nationalteam zu spielen, im Blick – je nach Situation. Wir wissen ja auch noch nicht, ob der eine oder andere verletzt ist und wir etwas machen müssen.
LAOLA1: Apropos „Familien-Gedanke“. Marko Arnautovic ist beim letzten Lehrgang gefragt worden, wie glücklich es ihn macht, dass einige Kollegen Chancen auf den Meistertitel haben. Er meinte, viel wichtiger sei es, dass man jene mitnimmt, denen es im Verein gerade nicht so gut geht. Ist er inzwischen einer, der diesen Gedanken mit am meisten verinnerlicht hat?
Koller: Das leben eigentlich alle sehr offen, herzlich und zuvorkommend. Wenn einmal etwas sein sollte, merkt man die Gruppendynamik. Dann kommen die ein bisschen älteren Spieler und versuchen, das zusammenzuhalten. Das ist gut. Aber da sind viele mit dabei, da ist er nicht der Einzige. Ganz am Anfang war es ja so, dass viele ihn mitgenommen haben. Jetzt spürt er diese Harmonie. Das tut ihm gut. Er hat viel Energie, davon kann er auch etwas abgeben.
"Wenn Marko mit seinen Fähigkeiten, seinem Körper, seiner Schnelligkeit plus Beweglichkeit permanent auf sehr hohem Level spielt, sei es beim Nationalteam oder bei Stoke, werden große Vereine kommen!"
LAOLA1: Hat man es „geschafft“, wenn selbst ein etwas eigenwilliger Charakter wie Arnautovic solch eine Wandlung vollzieht?
Koller (lacht): Das denke ich nicht, denn wo ist das Ende? Das kann ja noch weitergehen. Wenn ich sage: „Jetzt habe ich es geschafft“, lege ich mich auf die Seite, bin genügsam und dann geht es verdammt schnell wieder auf die andere Seite. Das ist ein ständiges Weiterarbeiten und Dranbleiben – ein ständiger Prozess.
LAOLA1: Ständiger Prozess ist ein gutes Stichwort. Wenn Sie über Arnautovic sprechen, betonen Sie bei allem Lob gerne, dass da noch mehr geht.
Koller: Das ist ja auch so!
LAOLA1: Woran messen Sie das? Geht es rein darum, was er am Platz zeigt oder muss er mit seinen Qualitäten nicht bei einem großen Verein gespielt haben?
Koller: An seinem Spiel, an seiner Qualität, an seiner Power und wie er es dann umsetzt. Es ist ja nicht meine Aufgabe, ihm zu sagen: Du musst bei einem Topverein permanent gespielt haben. Das muss er selbst rausfinden. Ich kann ihm nur mitgeben: Wenn er mit seinen Fähigkeiten, seinem Körper, seiner Schnelligkeit plus Beweglichkeit permanent auf sehr hohem Level spielt, sei es beim Nationalteam oder bei Stoke, werden große Vereine kommen! Da geht es natürlich um Konstanz. Er hatte früher sicher zu wenig Konstanz in seinen Leistungen. Das hat sich stabilisiert. Die EURO ist eine Plattform, um sich auf sehr hohem Level zu zeigen. Da gilt es in jedem Spiel Topleistungen abzurufen – in der Defensive wie in der Offensive. Wenn du das tust, sehen das auch die Scouts anderer Vereine. Dann hast du eventuell die Möglichkeit, zu einem Topverein zu wechseln.
LAOLA1: Benutzen Sie das „Sprungbrett EURO“ eigentlich als Extramotivation?
Koller: Das wissen die Spieler selber. Das muss ich nicht zusätzlich anmerken. Aktuell zumindest nicht, jetzt ist es noch zu früh. Aber vielleicht kommt das noch.
Das Gespräch führte Peter Altmann