Julian Baumgartlinger wies in seiner Analyse nach geschaffter EURO-Qualifikation des ÖFB-Nationalteams mehrmals darauf hin, dass Trainerteam und Mannschaft phasenweise "auf sich alleine" gestellt waren.
Eine aufgelegtere Nachfrage gibt es kaum. Was genau er denn konkret damit meint - etwa die heftige öffentliche Kritik nach dem kapitalen Fehlstart im März?
"Nein, es sind aus den eigenen Reihen Schüsse gekommen, wo wir sagen: Schön wäre, wenn das intern besprochen worden wäre", setzt der Kapitän mitten in der Jubelstimmung zu einer bemerkenswerten Kritik an, die vor allem in Richtung Präsident Leo Windtner zielen sollte.
Hintergrund sind dessen ebenso kontroversen wie viel zitierten Aussagen am Flughafen in Tel Aviv nach der 2:4-Pleite in Israel.
"Wir haben uns dieses Schülermannschafts-Thema schon öfter mal gegeben", fährt Baumgartlinger fort, "schön, dass wir die erste Schülermannschaft sind, die sich für die EM qualifiziert hat. Das ist besonders. Aber es ist oft so, dass sich der Direktor nur im Erfolgsfall vor die Mannschaft stellt und sonst immer nur drauf haut, das kennen wir ja schon..."
Man kann sagen: Dieser Seitenhieb des "Klassensprechers" der "Schülermannschaft", die soeben eine wichtige Prüfung im Hinblick auf ihre "Matura" bestanden hat, in Richtung "Direktor" Windtner hat gesessen.
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Ein Sager, der ganz schlecht ankam
Fairerweise gilt es zu betonen, dass Windtner in Israel bezüglich eines konkreten Gegentreffers vom "Charakter einer Schülermannschaft" gesprochen hat und dies in der Folge auch konkretisiert hat.
"Ich habe nur Fakten auf den Tisch gelegt. Wir reden immer davon, dass von uns viel gefordert wird. Wir selbst sind uns betreffend auch sehr anspruchsvoll, wollen immer das Beste leisten - und dafür braucht man gewisse Dinge im Profibereich."
Dennoch ist es ein offenes Geheimnis, dass dieser Sager in Teilen der Mannschaft ganz schlecht angekommen ist. Aleksandar Dragovic etwa erlaubte sich schon nach dem 4:1-Sieg im Auswärtsspiel in Nordmazedonien einen entsprechenden Konter.
"Wir waren zu diesem Zeitpunkt auch sehr selbstkritisch, wir haben in Israel als Mannschaft harte Worte für uns selbst gefunden", meint Baumgartlinger weiter, "wir haben die Antwort auf dem Platz gegeben, das war für uns wichtig. Ich glaube, wir kennen alle unsere Infrastruktur, das sind auch nicht optimale Bedingungen. Aber wir wollen keine Ausreden suchen, sondern wollen Erfolge leisten."
Hinkt der ÖFB der Mannschaft hinterher?
Dies deutet an, dass der ÖFB als Verband in seiner Entwicklung den Erfolgen der Mannschaft hinterherhinken würde. "Klassensprecher" Baumgartlinger dazu:
"Ich habe nur Fakten auf den Tisch gelegt. Wir reden immer davon, dass von uns viel gefordert wird. Wir selbst sind uns betreffend auch sehr anspruchsvoll, wollen immer das Beste leisten - und dafür braucht man gewisse Dinge im Profibereich. Das ist Fakt. Ich hoffe, dass das in den nächsten Monaten und Jahren auch vom ÖFB für die Zukunft für die jungen Spieler ermöglicht wird - wie gut die U21-Nationalmannschaft immer wieder abschneidet, zeigt, was für ein Potenzial da ist. Aber wir müssen den nächsten Schritt setzen. Ich hoffe, er kommt. Wir Spieler können nur unseren erfolgreichen Weg auf dem Platz gehen - und den gehen wir."
Baumgartlinger ist nicht nur Kapitän des ÖFB-Teams, sondern fällt auch unter die Kategorie Vordenker. Man darf davon ausgehen, dass er es sich genauestens überlegt hat, genau in der Stunde des großen Erfolgs diese Kritik zu äußern.
Man kann nur mutmaßen, aber vermutlich wollte er vor dem Erreichen des großen Ziels mit seinem Schülermannschafts-Ärger nicht für Unruhe sorgen, aber im Namen aller Spieler letztlich nicht unerwähnt lassen, dass die Mannschaft diese Aussagen daneben fand.
Was die Kritik an den professionellen Rahmenbedingungen betrifft, kann es ein kluger Schachzug sein, genau jetzt den Finger in die Wunde zu legen, um zu verhindern, dass der Erfolg so manchen Kritikpunkt seitens der Spieler in Vergessenheit geraten lässt - ganz nach dem Motto: Die Qualifikation ist geschafft, also muss eh alles super sein. Muss es nämlich nicht.
Windtner: "Ich weiß, dass er einigermaßen sauer war"
Man darf also davon ausgehen, dass ÖFB-Spitze und Mannschaftsrat in den kommenden Wochen und Monaten im Hinblick auf die EURO einiges zu besprechen haben werden.
"Ich weiß, dass er einigermaßen sauer war, aber ich glaube, wir hatten auch allen Grund, sauer zu sein nach der Vorstellung in Israel. Aber wir haben die Dinge ausgeräumt, daher ist das erledigt."
Nach seinem Schülermannschafts-Sager traf sich Windtner bereits zur Aussprache mit Baumgartlinger. Auf die jüngste Kritik des 31-Jährigen reagiert der ÖFB-Boss noch in den Katakomben des Happel-Stadions:
"Ich meine, das ist die finale Replik. Das Thema ist längst ausgestanden, denn wir haben uns ausgesprochen. Ich weiß, dass er einigermaßen sauer war, aber ich glaube, wir hatten auch allen Grund, sauer zu sein nach der Vorstellung in Israel. Aber wir haben die Dinge ausgeräumt, daher ist das erledigt. Wenn das von ihm erwähnt wurde, ist das nicht in irgendwelcher Missstimmung, sondern die Erkenntnis daraus, dass es wahrscheinlich schon so war."
Ob sich der ÖFB Fehler nicht wirklich eingestehen würde? "Es war immer meine Diktion, dass hier alle mit Fehlern unterwegs waren, und dass sich alle bei der Nase nehmen mussten. Das ist auch geschehen."
Windtner: "Der wichtigste Muskel ist im Kopf"
Windtner lobt die ÖFB-Elf für ihre "Lernkurve" nach dem Israel-Spiel. Nach selbigem habe man eine knallharte Analyse durchgeführt und daraus auch Konsequenzen abgeleitet. Welche Lehren das gewesen seien?
"Das Wesentliche ist, und das habe ich auch zur Mannschaft gesagt: Der wichtigste Muskel ist im Kopf - und den muss man mindestens so betätigen wie alle anderen in der Physis. Da hatten wir doch ein gewisses Problem, gerade in Israel, weil nicht nur der wichtigste Muskel, sondern auch die größte Gefahr im Kopf sitzt, wenn man leichtfertig wird. Ich glaube, das hat sich radikal gebessert. Und vor allem eines: Jene Spieler, die im Laufe dieser Quali dazugekommen sind, haben sich als echter Gewinn für die Mannschaft herausgestellt. Wir sind daher heute wesentlich breiter aufgestellt als vor vier Jahren."
Alle Beteiligten im ÖFB müssen sich nun gemeinsam Gedanken machen, wie man sich im Hinblick auf die EURO aufstellt, damit es besser läuft als 2016 in Frankreich.
Mehr naiv als selbstkritisch
"Vielleicht waren wir ein bisschen naiv und haben geglaubt, wir sind zwar selbstkritisch, aber das Reden reicht, und der Flow und die Automatismen kommen von alleine wieder. Aber dann sind andere weiche Faktoren wie zum Beispiel Nervosität oder dass auch einmal der Spielverlauf nicht so sein kann, wie wir ihn uns vorstellen, dazugekommen."
Baumgartlinger nimmt hier auch die Spieler in die Pflicht: "Wir wollen uns immer wieder verbessern, und speziell im März sowie im Mai und Juni, wenn Länderspiele sind, müssen diese Schritte dann einfach sitzen. Dann darf es nicht irgendwie heißen: 'Naja, das und das hat nicht gepasst, aber das wird schon.' Man muss analysieren, man muss hinschauen - und in dem Moment, wenn man etwas merkt, muss man den Finger in die Wunde legen. Ich glaube, das kann ein Schritt sein, wie man eine erfolgreiche EM spielt."
Damit spielt der Routinier auf die Situation vor der EURO 2016 an, als in den Testspielen im Vorfeld doch einiges nicht klappte, man von Spielerseite her jedoch beruhigen wollte und betonte, dass man den Schalter umlegen könne, sobald bei der EM wieder ein Pflichtspiel ansteht. Dies konnte man bekanntlich nicht.
Ob damals die nötige Selbstkritik abhanden gekommen sei? "Kann sein, wobei wir schon auch kritisch waren, aber vielleicht waren wir ein bisschen naiv und haben geglaubt, wir sind zwar selbstkritisch, aber das Reden reicht, und der Flow und die Automatismen kommen von alleine wieder. Aber dann sind andere weiche Faktoren wie zum Beispiel Nervosität oder dass auch einmal der Spielverlauf nicht so sein kann, wie wir ihn uns vorstellen, dazugekommen."
ÖFB und Mannschaft in die Pflicht genommen
Diesbezüglich habe die gerade von Erfolg gekrönte Quali "sehr viel zur Reife beigetragen. Wir sind als Mannschaft, Trainerteam und Staff sehr eng zusammengerückt, als wir zeitweise auf uns alleine gestellt waren. Umso schöner ist es, dass wir jetzt den Erfolg im ersten Schritt ernten können."
Der zweite Schritt soll ein besseres Abschneiden bei der EURO sein. Dass Baumgartlinger sowohl den ÖFB als auch die Mannschaft unmittelbar nach geschaffter Quali mit kritischen Tönen in die Pflicht nimmt, könnte die Basis dafür sein, dass man es diesmal ein wenig anders als vor vier Jahren angeht, als Fußball-Österreich auf einer Euphorie-Welle in Richtung EURO surfte.
Der Kapitän mahnte schon vor dem Nordmazedonien-Spiel, dass man diesmal nicht "überzelebrieren" dürfe. Dieser Begriff schließt wiederum nicht aus, dass man den Erfolg zelebriert. Wer denn der Zeremonienmeister der Feierlichkeiten sei?
"Ach, das Feiern fällt den Fußballern am allerleichtesten", lacht Baumgartlinger, "das ist nicht das Problem. Wir haben nach dem Spiel kurz mit unseren Familien angestoßen, jetzt werden wir als Mannschaft gebührend feiern. Jedes Fest gehört ein bisschen gefeiert."