Man darf davon ausgehen, dass es Fans von Union Berlin gibt, die sich kneifen müssen, wenn sie die Tabelle der deutschen Bundesliga betrachten.
Oder sich zumindest verwundert die Augen reiben.
Nach dem 7. Spieltag führt der Verein aus der deutschen Metropole die Liga an. Serienmeister FC Bayern München liegt bereits fünf Punkte hinter Union.
Mit Christopher Trimmel ist ein ÖFB-Teamspieler als Kapitän mittendrin im Hype um das Sensations-Team. Bei aller Euphorie kann man immer noch normal auf die Straße gehen, ohne sich eines Fan-Ansturms erwehren zu müssen.
"Bei Union sind die Fans gar nicht aufdringlich", erzählt der Burgenländer, "wenn sie dich sehen, begrüßen sie dich kurz mit 'Eisern' und das war's."
Der legendäre Schlachtruf "Eisern Union" kommt in und rund um Köpenick derzeit besonders leicht über die Lippen.
Von Schwächephasen der Großen abhängig
Trimmel befindet sich bereits in seinem neunten Jahr bei Union. Ob er zuvor mit Rapid irgendwann einmal Tabellenführer war, weiß er gar nicht mehr so genau.
"Mit Union sind wir in der zweiten Liga vorne gelegen", grinst der Rechtsverteidiger.
"Gefühlt wartet jeder auf den großen Einbruch, der dann nie stattfindet."
Wie im falschen Film kommt er sich derzeit dennoch nicht vor. Denn genau wie die Fans verlieren auch die Spieler trotz des Traumstarts mit fünf Siegen und zwei Unentschieden aus den ersten sieben Matches nicht die Bodenhaftung.
"Ich bin ehrlich: Wir sind natürlich auch von den anderen Vereinen abhängig. Die Bayern haben eine Schwächephase, Dortmund hat zwischendurch verloren, Leipzig hat den Trainer gewechselt. In der Bundesliga ist man davon abhängig, dass die Spitzenteams schwächeln."
Warten auf den Einbruch, der nie stattfindet
Selbst habe man konstant Leistung gebracht: "Wir sind ein eingeschworener Haufen, das Umfeld ist sehr positiv. Deswegen stehen wir im Moment dort, wo wir stehen. Aber das ist eine Momentaufnahme und das wissen wir auch."
2019 gelang der Aufstieg ins deutsche Oberhaus. Nach dem Klassenerhalt in Saison eins arbeitete man sich stetig nach oben.
Das zweite Bundesliga-Jahr schloss man auf Rang sieben ab, das dritte als Fünfter. Inzwischen spielt der notorische Underdog längst europäisch.
"Gefühlt wartet jeder auf den großen Einbruch, der dann nie stattfindet", lächelt Trimmel.
Konstanz in der Führungsriege
Während in der Mannschaft durchaus eine gewisse Fluktuation vorherrscht, lebt Union bei den Verantwortungsträgern vor, was Konstanz bedeutet.
Geschäftsführer Sport Oliver Ruhnert hat seit 2018 das Sagen, im selben Jahr heuerten Trainer Urs Fischer und seine beiden österreichischen Assistenten Michael Gspurning (Tormanntrainer) und Markus Hoffmann (Co-Trainer) an.
Auch weitere Betreuer sind schon lange im Verein. Besonders lange ist Präsident Dirk Zingler an Bord, der 58-Jährige geht seit 2004 mit dem Verein durch dick und dünn.
Laut Trimmel ist die personelle Konstanz auf dieser Ebene eines der Erfolgsgeheimnisse.
Neue Spieler brauchen nur ein, zwei Wochen
"Dem Präsidenten ist die Struktur sehr wichtig. Er weiß, wenn er den Trainer wechselt oder wenn er einen Führungsspieler rausnimmt und verkauft - da geht es ja nicht nur um mich als Kapitän -, macht es das innerhalb der Struktur schwieriger", so der 35-Jährige.
Besagte Struktur sorgt für einen stabilen Rahmen, der es Neuzugängen leichter macht.
"Natürlich hatten viele Fans nach dem Aufstieg Angst, dass sich der Verein in der Bundesliga möglicherweise verändern könnte. Da geht es um vermeintlich banale Dinge. Etwa dass die Ticket-Preise hochgehen, das Bier und die Wurst teurer werden."
"Bei Union wird darauf geschaut, dass sie nicht nur gute Fußballer holen, sondern auch gute Typen. Das macht Union in den letzten Jahren wirklich gut. Wir haben fast halbjährlich einen Umbruch. Auch im Winter bin ich mir ziemlich sicher, dass Millionen-Angebote für unsere Stümer Sheraldo Becker oder Jordan kommen. Es passiert immer wieder, dass Spieler verkauft werden. Nur holen wir auch immer wieder überragende Typen, die sich eins zu eins einfügen. Das dauert bei uns ein, zwei Wochen. Dann sind die Spieler integriert und fühlen sich wohl."
Der Charakter des Vereins ist gleich geblieben
Auch dies passt zu einem Verein, dem die Haltung wichtig ist, der allein aus seinem Selbstverständnis heraus für Werte stehen möchte, die nicht zwingend mit dem Kommerz im Fußball Hand in Hand gehen. Ganz im Gegenteil.
Ob man sich ein derartiges Denken überhaupt so leicht bewahren kann, wenn einen der eigene Erfolg von der Tabellenspitze der deutschen Bundesliga lachen lässt?
Ja, meint Trimmel, der 2014 in der zweiten Liga in Berlin anheuerte und unterstreicht: "Der Charakter des Vereins ist gleich geblieben."
Angebot und Nachfrage gehen weit auseinander
"Natürlich hatten viele Fans nach dem Aufstieg Angst, dass sich der Verein in der Bundesliga möglicherweise verändern könnte. Da geht es um vermeintlich banale Dinge. Etwa dass die Ticket-Preise hochgehen, das Bier und die Wurst teurer werden. Darüber machen sich die Fans Gedanken", berichtet Trimmel.
Auch hier sei Zingler ein Garant für Stabilität: "Der 'Präsi' hat sofort klargestellt, dass er das nicht macht. Das Bier und die Tickets kosten immer noch ungefähr dasselbe - ein Stehplatz um die 15 Euro."
Wobei hier Angebot und Nachfrage weit auseinander gehen. Die Alte Försterei ist mit ihren 22.000 Plätzen längst viel zu klein geworden.
"Wir haben nur wenig Kapazität und mittlerweile doppelt so viele Mitglieder wie ins Stadion passen. Für die Tickets gibt es immer eine Verlosung, anders geht es nicht."
Der Präsident als Fan
Wobei Trimmel durchaus ein Beispiel einfällt, dass auch Union mitunter zur Kasse bittet: "Ich habe gesehen, dass wir eines der teuersten Trikots der Liga haben."
"Den einen oder anderen Gegner zu ärgern, gehört dazu. Aber ich gehe davon aus, dass sich spätestens im Winter die Tabelle wieder normalisiert hat."
Alles in allem kann man jedoch schwer behaupten, es bei allem Erfolg mit einem abgehobenen Verein zu tun zu haben. Fannähe ist und bleibt die Basis, was laut Trimmel wiederum mit dem Boss zu tun hat:
"Der Präsident ist früher in der Fanszene gestanden. Speziell an Spieltagen ist er mehr Fan als Präsident, da habe ich ihn inzwischen schon ein paar Mal erlebt. Er versetzt sich sehr gut in den Verein, denkt wie ein Fan, denkt aber auch wie ein Spieler."
Es macht Spaß, die Liga ein bissl aufzumischen
Man darf gespannt sein, ob und wenn ja wann besagter Einbruch kommt. Dank der Länderspielpause lacht Union zumindest in den kommenden beiden Wochen weiter von der Tabellenspitze.
Danach schlüpft man wieder in die Rolle des frechen, aber realistisch-bodenständigen Außenseiters.
"Es macht Spaß, ein bissl die Liga aufzumischen", grinst Trimmel schelmisch, "den einen oder anderen Gegner zu ärgern, gehört dazu. Aber ich gehe davon aus, dass sich spätestens im Winter die Tabelle wieder normalisiert hat."