Julian Nagelsmann hat auch in seinem vierten Spiel als Bundestrainer das deutsche Ruder nicht herumreißen können - im Gegenteil.
Die DFB-Elf kassierte am Dienstag-Abend eine hochverdiente 0:2-Testspielpleite in Österreich (Spielbericht>>>) und legte damit den nächsten Stolperer auf dem Weg zu Heim-EURO 2024 hin. Es war eine Niederlage, die den 36-Jährigen in gewisser Art und Weise ratlos zurücklässt.
"Außerhalb des Platzes haben wir eine geschlossene Gemeinschaft mit einem guten Miteinander. Ich habe noch nie eine Mannschaft trainiert, die so angenehm im Umgang miteinander und auch auf dem Trainingsplatz war. Was nicht gelingt, ist der Transfer, das aufs Feld zu kriegen, dass wir im Spiel dieses gutes Verhältnis nutzen. Gefühlt haben wir zu viele Einzelkämpfer, jeder ist mit sich beschäftigt- was aufgrund der jüngeren Historie auch normal ist", ist Nagelsmann auf der Pressekonferenz im Ernst-Happel-Stadion bedient.
Mittlerweile fehle es seiner Mannschaft, die in diesem Testspieljahr aus elf Freundschaftsspielen nur drei Siege mitnehmen konnte und noch immer den Rucksack des Gruppenaus bei der WM 2022 mit sich schleppt, schlicht an Selbstverständnis.
"Die Mannschaft muss versehen, was ihre große Stärke ist. Das ist die Spielkontrolle, Offensivfußball. Wir hatten heute, wie auch schon gegen die Türkei, einen sehr langsamen Spielvortrag, hatten in der ersten Halbzeit Ballverluste, die absurd sind", spricht er die zahlreichen erfolgreichen rot-weiß-roten Pressingmomente an, die Deutschland immer wieder in arge Bedrängnis brachten.
DFB-Topspieler sind das "'Rammeln' um den zweiten Ball" nicht gewohnt
"Wir müssen akzeptieren, dass wir mit ein bisserl Kicken da nicht rauskommen, sondern dass wir, bildlich gesprochen, noch mehr Schritte als im Klubfußball machen müssen."
Wie kann es sein, dass sich Weltklasse-Spieler wie Ilkay Gündogan, Antonio Rüdiger oder Leon Goretzka gegen das ÖFB-Anlaufverhalten so dermaßen schwer taten?
"Mit den ganz schnell aufeinanderfolgenden Verteidigungsaktionen haben wir einfach Probleme. Wir haben natürlich auch einige Spieler am Feld, die überwiegend bei Klubs spielen, die sich nicht immer nur auf das 'Rammeln' auf den zweiten Ball konzentrieren. Sondern, das sind oft Spieler aus Top-Klubs. Und hier ist das Gefüge nicht so, dass wir diese Top-Klub-Mentalität auf den Platz bringen", bringt Nagelsmann den wohl entscheidendsten Punkt für die aktuelle DFB-Misere in die Diskussion:
Dass nur mit Individual-Könnern, die theoretisch drei Spieler gleichzeitig auf einem Bierdeckel ausspielen können, sich im Spiel gegen den Ball aber oftmals zu schade sind, die entscheidenden Meter zurückzulegen, im modernen Fußball nicht mehr viel zu gewinnen ist.
Oder wie es Nagelsmann ausdrückt: "Wir müssen akzeptieren, dass wir mit ein bisserl Kicken da nicht rauskommen, sondern dass wir, bildlich gesprochen, noch mehr Schritte als im Klubfußball machen müssen. Wir müssen davon weg kommen, dass wir alles tolle Fußballer sind, was wir zweifelsfrei sind, hin zu mehr Fußball arbeiten."
Deutschland fehlt einer wie Schlager
Mit Spielern wie Joshua Kimmich, Pascal Groß, Grischa Prömel oder DFB-Debütant Robert Andrich zählt Nagelsmann zwar einige dieser Fußball-Arbeiter aus seinem Kader auf. Dass jener Spieler, den er in dieser Hinsicht besonders lobend hervorhebt, auf Seiten der Österreicher zu finden ist, spricht allerdings Bände.
"Ich nenne Xaver Schlager als Beispiel, der sich in sehr viele Situationen reinwirft, der vielleicht nicht durch die oberfeinste Klinge im europäischen Fußball glänzt, aber eine sehr gute Kombination aus, ich zitiere Christian Streich (Freiburg-Coach, Anm.), 'Worken' und Fußball hat", lobt der ehemalige Leipzig-Coach den nunmehrigen Leipziger.
Diese 'Worker' in die Mannschaft zu integrieren und die perfekte Kader-Abmischung zu finden, ist eines der großen Ziele Nagelsmanns bis zur EURO.
Nicht die Besten, sondern die Richtigen?
Denn während Deutschland auf einigen Positionen wie im zentralen Mittelfeld fast schon überbesetzt mit Weltklasse-Spielern ist, fehlen auf anderen Positionen wie im Sturm oder auf der Außenverteidigung momentan Akteure von DFB-Format.
"Am Ende geht es um die richtige Auswahl der passenden Spieler, die zu einem anderen Zeitpunkt weniger gut passen würden, aber zum jetzigen Zeitpunkt, in dem Status, in welchem sich die deutsche Nationalmannschaft aktuell befindet, einen Tick besser passen. Das ist sehr kryptisch ausgedrückt, aber ich will nicht jedes Detail sagen, weil ich die Schlagzeilen dann morgen schon kenne", so Nagelsmann.
Mit diesen Worten versucht er vorsichtig zu erklären, dass Spieler wie die bereits erwähnten Groß, Prömel, Andrich oder auch die Stürmer Marvin Ducksch und Niklas Füllkrug in den meisten bisherigen DFB-Auswahlen wohl keinen Kaderplatz ergattert hätten.
"Vielleicht müssen wir auf zwei Prozentpunkte Talent verzichten"
All diese Spieler eint, dass sie sich in ihrer bisherigen Karriere mühsam und über viele Stationen in ihre aktuelle Position hocharbeiten mussten und nicht aufgrund ihres Talents bereits im Teenager-Alter im internationalen Rampenlicht standen, wie es etwa bei Leroy Sane, Florian Wirtz oder Jamal Musiala der Fall war.
"Es brennt in den Nägeln, wenn du die ganzen Talente siehst, die wir haben. Dann musst du dir manchmal in die Faust beißen und sagen: Vielleicht brauchen wir ein paar Top-Talente weniger und ein paar 'Worker' mehr. Natürlich hast du als Trainer die Hoffnung, dass, wenn du fünf Zauberer hast, die dir das vielleicht wuppen. Normalerweise wuppen sie das auch. Wenn wir das Vertrauen hätten, wenn wir in den letzten zwei Jahren mehr Spiele gewonnen hätten, würden die wuppen, dass mehr Wuppen gar nicht geht", meint der ebenfalls recht talentierte Coach.
Vor der EURO gäbe es also eventuell harte Entscheidungen zu treffen: "Vielleicht müssen wir auf zwei Prozentpunkte Talent verzichten und zwei Prozentpunkte 'Worker' mehr reintun."
Nagelsmann stehen ungemütliche Österreich-Reisen bevor
Noch ist die EURO aber viele Monate entfernt. Nagelsmann und sein Team werden bis zum nächsten Länderspiel-Lehrgang im März 2024 viel Kritik, aber auch Häme einstecken müssen - sowohl medial, als auch privat.
Ob er seine Entscheidung, den Job als Bundestrainer anzutreten, schon bereut hat, wird Nagelsmann von einem deutschen Medienvertreter gefragt.
"Ich habe es nicht bereut, es macht mir Spaß. Wenn man einen Job antritt, hat man die Hoffnung, dass alles leichter von der Hand geht. Aber da geht es auch um die Akzeptanz, dass wir uns da rausarbeiten müssen, mit allem was wir haben", so die Antwort.
Er sei aktuell nicht frustriert, aber enttäuscht: "Niederlagen gegen die Türkei und Österreich tun schon weh. Ich bin auch öfter Mal in Österreich und habe nicht Lust, dass mich in den nächsten drei Monaten jeder darauf anspricht."
Er wolle sich aber auf keinen Fall in die Opferrolle schieben lassen, sondern mit guten Leistungen seinen Kritikern entgegentreten, meint Nagelsmann weiters.
Mitleid mit Nagelsmann? Rangnick: "Das braucht er nicht"
Von einem Mann wird Nagelsmann mit Sicherheit nicht in die Opferrolle geschoben: Seinem früheren Mentor Ralf Rangnick.
"Für Mitleid ist kein Platz. Das ist das Letzte, was man als Trainer haben möchte, das braucht er auch nicht", erklärt der ÖFB-Teamchef bezugnehmend auf den deutschen Jungtrainer, den er einst zu RB Leipzig lotste.
Er prognostiziert: "Julian ist trotz seines jungen Alters erfahren und clever genug, um in den ausstehenden vier Testspielen bis zur EURO an den richtigen Stellschrauben zu drehen. Für mich ist Deutschland eine von sechs, sieben Mannschaften, denen ich es zutraue, ins Halbfinale zu kommen."
"Fußball ist keine Frage der Einzelspieler-Qualität, am Ende ist es ein Mannschaftssport", analysiert Rangnick die aktuelle DFB-Misere ähnlich wie Nagelsmann. Näher will er auf das, was momentan in der deutschen Bundeself falsch läuft, nicht eingehen:
"Das ist nicht mein Thema. Es steht mir nicht zu und es ist nicht meine Aufgabe, etwas dazu zu sagen."