"Wir haben uns das Spiel selbst schwer gemacht", schnauft Ralf Rangnick im Pressekonferenz-Raum der Raiffeisen Arena durch.
Sein ÖFB-Team hat soeben Estland in einem absoluten Zitterspiel last minute bezwungen (Spielbericht>>>) und konnte es so verhindern, ganz früh in der EM-Qualifikation vom Kurs abzukommen.
Das Zustandekommen des Heimsiegs in Linz wird aber wohl das ein oder andere graue Haar am brünetten Haupt des 64-Jährigen verursacht haben.
Schon früh hatte Österreich genügend Chancen, das Spiel mit einer 2:0-Führung kalt zu stellen, doch Patrick Wimmer scheiterte am Weg zum leeren Tor an der Zielgenauigkeit seines schwächeren linken Fußes (3.), Michael Gregoritsch vom Elfmeterpunkt an der Latte (16.).
"Wenn wir mit 1:0 oder 2:0 geführt hätten, hätte das Spiel einen ähnlichen Verlauf wie gegen Aserbaidschan (4:1, Anm.) genommen", ist sich Rangnick sicher.
"Mir würde es mehr Sorgen bereiten, wenn wir keine Chancen hätten"
Ob dem Deutschen diese schwache Chancenauswertung, die sich bereits am vergangenen Freitag gegen Aserbaidschan andeutete, Sorgen bereitet?
"Natürlich wäre es besser, wenn du solche Chancen machst. Trotzdem haben wir sechs Tore in zwei Spielen geschossen. Mir würde es mehr Sorgen bereiten, wenn wir uns schwer tun würden, Chancen herauszuarbeiten", verneint er.
In der 25. Minute kam es dann, wie es so oft im Fußball kommt und auch kommen musste: Estland ging nach einem zwei Mal verlängerten Freistoß, bei dem die ÖFB-Abwehr unsortiert und alles andere als gut aussah, durch Rauno Sappinen in Führung.
"Wir wussten, dass sie bei Standards gefährlich sind und mit ihrem Kapitän (Konstantin Vassiljev, Anm.) einen richtig guten Freistoßschützen haben", erklärt Rangnick, der danach ein "extremes Willensspiel, eine Geduldsprobe, die im wahrsten Sinne des Wortes auf die Nerven ging, bei der selbst das Zuschauen mühsam war," sah.
Rangnicks Ingame-Coaching ging erneut voll auf
Also wurde Rangnick zur Pause aktiv und änderte das ÖFB-Team, wie schon des Öfteren in seiner erst kurzen ÖFB-Amtszeit mitten während eines Spiels, sowohl in der Grundformation als auch auf zwei Positionen in Form von Stürmer Junior Adamu und Kapitän David Alaba.
Ersterer lief nach Seitenwechsel in einem 4-1-3-2 an der Seite von Gregoritsch im Angriff auf, Zweiterer dirigierte Österreichs Schlussoffensive aus dem Abwehrzentrum heraus.
Dass Alaba schon ab der Halbzeit mitwirkte, war eigentlich nicht geplant: "Wir wollten David eigentlich erst ab der 60., 70. Minute bringen, so war das mit ihm und Real besprochen. Aber aufgrund des Spielverlaufs war es wichtig, ihn schon in der Halbzeit zu bringen", verrät Rangnick.
Sein goldenes Händchen war es schließlich auch, das Rot-Weiß-Rot auf die Siegerstraße brachte. Im neuen System, eine sehr offensiv ausgerichtete Raute mit fünf Offensivspielern auf dem Platz, gelang es dem ÖFB-Team besser, in die engen Räume zwischen den tiefstehenden estnischen Abwehrreihen zu kommen, zudem stellte der von Rangnick nach einer guten Stunde gebrachte Joker Florian Kainz mit seinem Premieren-Tor im ÖFB-Dress den wichtigen Ausgleich her.
"Sind mit den Wechseln nicht ganz schlecht gelegen"
"Es war richtig und wichtig, dass wir zu Halbzeit gewechselt haben, und auch mit den anderen Wechseln sind wir nicht ganz schlecht gelegen. Mit jedem Wechsel kam zusätzliche Energie und Punch auf den Platz. Deshalb haben wir das Spiel nicht ganz unverdient gewonnen", findet Rangnick.
"Die Jungs haben bis zum Schluss eine enorme Energie auf den Platz gebracht. Man hat gespürt, dass die Mannschaft dieses Spiel drehen wollte."
Den Sieg auf die eigenen Segel schreibt sich der Deutsche allerdings freilich nicht, viel mehr würdigt er die Willensleistung seiner Mannschaft: "Die Jungs haben bis zum Schluss eine enorme Energie auf den Platz gebracht. Man hat gespürt, dass die Mannschaft dieses Spiel drehen wollte."
Entscheidung für Linz war "goldrichtig"
Schlussendlich kann Rangnick auf einen rundum gelungenen Auftakt-Lehrgang ins ÖFB-Jahr 2023 zurückblicken. Speziell die Entscheidung, die beiden Quali-Auftaktspiele in der nagelneuen Raiffeisen Arena auf der Linzer Gugl über die Bühne gehen zu lassen, "hat sich als goldrichtig erwiesen".
Rangnick führt aus: "Das Publikum war zu jedem Zeitpunkt da, beide Spiele waren ausverkauft, der Platz war auch ok - kein Wembley, aber gut genug für den Fußball, den wir spielen wollen. Im Rückblick kann man sagen: Alles richtig gemacht."
"Gegen Estland müssen unsere Gruppengegner mal gewinnen"
Mit sechs Punkten aus den beiden vermeintlich einfachsten Spielen gegen Aserbaidschan und Estland wurden die Auftakthürden der EM-Quali mit Bravour gemeistert; nach dem "Wie" fragt spätestens in zwei Wochen niemand mehr. Zumal Rangnick glaubt, dass diese estnische No-Name-Mannschaft noch für die ein oder andere Überraschung in Gruppe F sorgen könnte.
"Estland war eine extrem disziplinierte Mannschaft, da sieht man auch die Handschrift des Schweizer Trainers (Thomas Häberli, Anm.). Die Mannschaft spielt taktisch extrem kompakt und geschlossen. Gegen Estland müssen wir im Rückspiel, aber auch unsere Gruppengegner mal gewinnen. Das wird auch nicht im Vorbeigehen gehen", prophezeit Rangnick.
Man kann nur hoffen, dass sich das ÖFB-Team beim Wiedersehen in Tallinn Mitte November das Leben selbst etwas leichter machen wird. Auch das Glück des Tüchtigen ist nämlich irgendwann aufgebraucht...