Die Taktik des Fußballspiels hat sich in den letzten 30 Jahren rasant entwickelt.
Und gerade weil die taktischen Möglichkeiten nach bestehendem Regelwerk nahezu ausgeschöpft sind und wurden, ist eine hohe taktische Flexibilität in Form von schnellen Umstellungen von Systemen (4-4-2 mit Raute oder flach, 4-2-3-1, 4-3-3, 5-4-1, 3-4-3, ...) und Spielanlagen in Offensive (kontinuierlicher Spielaufbau Marke Barcelona, Konterspiel oder Spiel auf den zweiten Ball) und Defensive (Raumdeckung im Block, Angriffs- oder Mittelfeldpressing und Gegenpressing) notwendig, um dem Gegner immer wieder einen Schritt voraus zu sein.
In der letzten Kolumne ging es um diese taktische Flexibilität und die Frage, ob zu viel Taktik die individuelle Entfaltung der Spieler verhindern kann.
Das Fazit war, dass die hohe taktische Flexibilität unbestritten als Basis der Wettbewerbsfähigkeit im heutigen Profifußball gilt. Dennoch muss in jedem taktischen Korsett Platz für die individuelle Entfaltung bleiben, denn der Fußball muss weiterhin Raum für Überraschungsmomente bieten und ein Spektakel bleiben.
Die Frage nach genügend Raum für Individualität war und ist berechtigt, aber bei der beschriebenen taktischen Vielfalt, die nach bestehendem Regelwerk nahezu alle Möglichkeiten ausgeschöpft hat, stellt sich noch eine andere interessante Frage:
Benötigt der Fußball auch Regeländerungen, um noch attraktiver zu werden und den Hunger der Fans nach spannenden Momenten und Torszenen zu stillen?
Zudem würden sich durch Regeländerungen auch wieder neue, unerschlossene Taktikfelder ergeben, die spannende Entwicklungen zur Folge hätten.
Natürlich muss man Regeländerungen immer kritisch hinterfragen, um nicht einen gegenteiligen Effekt zu erreichen. Heute soll an dieser Stelle aber einmal laut gedacht werden, und über alle folgenden Gedanken über mögliche Regeländerungen darf natürlich kontrovers diskutiert werden.
Abseits ja oder nein oder ganz anders?
Die erste Frage, die sich auch aufgrund von vielen Fehlentscheidungen in der Vergangenheit immer wieder gestellt hat, ist die Frage nach dem Abseits.
Wie würde sich das Spiel verändern, wenn man die Abseitsregel vollständig aufheben würde? Die Trainer müssten spannende Fragen beantworten. Bleiben Spieler - und wenn ja wie viele - nach einem Angriff vorne? Wenn der Gegner einen oder mehrere Spieler vorne stehen lässt, wie viele Spieler bleiben dann hinten? Das Spiel würde sich sicher wieder zu einer mannorientierteren Deckung entwickeln, aber die neu gewonnenen Räume in der Tiefe, die bisher Abseitsraum waren, würden das bespielbare Feld wieder vergrößern und damit auch wieder mehr Raum für individuelle Entfaltung bieten.
Oder ist ein Linienabseits, wie man es vom Eishockey kennt, auch für den Fußball interessant? Das würde den eben beschriebenen Raum zwar wieder etwas begrenzen, aber dafür wären die Möglichkeiten zu einer raumorientierten und kompakten Verteidigung weiterhin vorhanden.
Standardsituationen als Spannungsmomente!
Standardsituationen sind nicht selten das Salz in der Suppe in so manchem Fußballspiel. Ob nun Elfmeter, Freistöße oder Eckbälle, diese Momente bieten immer Spannung und entscheiden viele Spiele. Es spricht also nichts dagegen, die Anzahl dieser Standardsituationen zu erhöhen.
- Einwurf oder Einschuss?
Eine Möglichkeit wäre der Einschuss. Geht ein Ball ins Seitenaus, hätte der Spieler die Möglichkeit, den Ball entweder wie bisher einzuwerfen oder ihn auf die Linie zu legen. Dann würde er die Möglichkeit des Einschusses wählen, und der Einschuss wird behandelt wie ein Freistoß. Das heißt, der Abstand des Gegners zum Ball müsste 9,15 Meter betragen. Der Einschuss könnte so zu einer gefährlichen Standardsituation werden und die Anzahl der Torszenen erhöhen.
- Foul außerhalb des Strafraums bedeutet Freistoß
Das ist zwar bisher auch der Fall, jedoch ist der Freistoß immer an der Stelle auszuführen, an der das Foul begangen wurde. Was wäre, wenn ein Foul außerhalb des Strafraums immer einen Freistoß von einer festgelegten Linie (z.B. 20m zum Tor) bedeuten würde? Würde es die Anzahl von Fouls, insbesondere der sogenannten taktischen Fouls, reduzieren? Auf jeden Fall würde es die Anzahl der gefährlichen Torraumszenen erhöhen.
- Elfmeter oder Penalty?
Eine Alternative zum Elfmeter bei einem Foul im Strafraum wäre der Penalty, der im Eishockey für spannende Momente sorgt. Der Spieler hätte die Wahl, entweder den klassischen Elfmeter auszuführen oder einen Penalty. Penalty würde heißen, dass der Spieler von einer festgelegten Markierung (z.B. 30 Meter vor dem Tor) auf den Torwart zudribbelt und ins 1:1 geht.
- Drei Ecken, ein Elfer
Eine spannende Regel des Straßenfußballs war schon immer "drei Ecken, ein Elfer". Das heißt, die angreifende Mannschaft, die den Gegner immer wieder zu Eckbällen zwingt, wird für ihre Angriffsbemühungen belohnt, indem sie für jeden dritten Eckball, einen Elfmeter bekommt. Über die Anzahl der Eckbälle lässt sich sicher streiten.
Erweitern könnte man diese Regel noch, indem eine Mannschaft für jedes fünfte Foul des Gegners einen Elfmeter bekommt. Das würde die Anzahl der Elfmeter deutlich erhöhen. Oder doch die Anzahl der Penalties?
Nach dem Tor in Ballbesitz bleiben
Nach einem Tor sollte die erfolgreiche Mannschaft belohnt werden. Das Mindeste wäre das Anspiel nach dem Tor. Eventuell wäre auch ein zusätzlicher Freistoß von der oben beschriebenen, festgelegten Linie als Spielfortsetzung nach einem Tor interessant. Die erfolgreiche Mannschaft hätte so unmittelbar die Chance auf ein zweites Tor. Das Ziel, ein Tor zu schießen, wäre so vielleicht für etwas mehr Trainer interessanter als das Ziel, kein Tor zu bekommen.
Keine Unentschieden mehr
Ein Spiel braucht am Ende einen Sieger und einen Verlierer. Auch wenn so manche Pokalschlacht keinen Sieger, oder besser gesagt keinen Verlierer verdient gehabt hätte, so lebt die Spannung eines Pokalspiels doch gerade davon, dass es am Ende unausweichlich einen Gewinner und einen Verlierer gibt. Das würde auch in den Meisterschaften für mehr Spannung und vor allem für mehr Offensivgeist sorgen.
- Für Pokalspiele könnte folgendes Modell gelten:
Steht es nach 90 Minuten immer noch Unentschieden, gibt es wie bisher Verlängerung. In der Verlängerung muss jeder Trainer zu Beginn der ersten Verlängerungshälfte und zu Beginn der zweiten Verlängerungshälfte einen Spieler vom Feld nehmen. Fällt in der Verlängerung ein Tor, ist das Spiel beendet und das entscheidende Tor wird zum Golden Goal. Fällt in der Verlängerung kein Tor, wird das Spiel mit maximal acht Feldspielern beendet. Es folgt dann ein Elfmeter- oder Penaltyschießen.
- Für Meisterschaftsspiele könnte folgendes Modell gelten:
Ab der 80. Minute muss jeder Trainer alle fünf Minuten einen Spieler vom Feld nehmen. Daher: Das Spiel wird mit maximal acht Feldspielern beendet. Steht es dann immer noch Unentschieden, folgt ein sofortiges Elfmeter- oder Penaltyschießen. In der Meisterschaft wäre das Modell des Golden Goals aufgrund einer unkontrollierbaren Mehrbelastung nicht sinnvoll.
Für einen Sieg nach 90 Minuten gäbe es weiterhin drei Punkte. Für einen Sieg nach Elfmeter- oder Penaltyschießen gäbe es zwei Punkte.
Brutto- und Nettospielzeit oder weiterhin Nachspielzeit?
Um in den letzten Minuten das Zeitspiel einer Mannschaft zu verhindern, wäre es eine Alternative, die letzten fünf Minuten im Nettospielzeitmodus zu absolvieren. Daher bei jeder Spielunterbrechung wird die Uhr angehalten und bei 90 Minuten ist definitiv Schluss.
Spannung und Unterhaltung
Wie gesagt, Regeländerungen sind immer kritisch zu hinterfragen, aber oftmals bedeuten vorgenommene Regeländerungen, wie jetzt zum Beispiel das Herausspielen des Balles bei Abstoß, keine Verbesserung des "Produktes" Fußball im Hinblick auf Spannung und Unterhaltung.
Ob der Ball nun wie bisher den Strafraum verlassen muss, ehe ihn ein eigener Spieler berühren darf, oder den Strafraum nach der neuen Regelung nicht mehr verlassen muss, ist lediglich ein kleines unauffälliges Detail im Spiel.
Regeländerungen sollten aber primär eine Verbesserung der Sportart unter den genannten Gesichtspunkten Spannung und Unterhaltung bewirken.
So wie es in anderen Sportarten, wie zum Beispiel im Football in der NFL, üblich ist. Hier werden jedes Jahr zahlreiche Regeländerungen vor diesem Hintergrund vorgenommen.
Tilo Morbitzer ist seit 2014 im Besitz der UEFA-Pro-Lizenz, hat also die höchstmögliche Ausbildung als Fußball-Trainer erfolgreich abgeschlossen. Der Deutsche, der schon seit vielen Jahren in Österreich lebt, hat zudem Sportwissenschaften studiert und ist aktuell Chefoach der U18 des FC Flyeralarm Admira Wacker. Zuvor hat der 42-Jährige nicht nur als Scout des VfB Stuttgart gearbeitet, sondern unter anderem auch als Individual-Trainer der Nachwuchsakademie des SK Rapid und als Sportlicher Leiter des Wiener Fußball-Verbands. Der Fußball-Experte wird LAOLA1-User ab sofort an seinem Insider-Wissen rund um das runde Leder teilhaben lassen und spannende Einblicke in die Trainerarbeit bieten.
Zudem ist Morbitzer Autor folgenden Buchs:
Titel: Strelitzia - Das Spiel seines Lebens (246 Seiten)
ISBN: 9783748507529
Inhaltsbeschreibung:
Südafrika, Johannesburg, 1938. Der 17-jährige Leroy Kruger, Sohn weißer deutscher Einwanderer, ist ein großes Fußballtalent. Sein bester Freund ist der Schwarze Tau Mokoena, mit dem er jede freie Minute auf dem Fußballfeld verbringt. Doch auch dessen Schwester Felicia hat Leroys Herz erobert und er ihres. Als die von der Apartheid überschattete geheime Liebschaft auffliegt, kommt der Ruf aus dem Heimatland seiner Eltern und Leroy ist fest entschlossen, seine Chance zu nutzen. Er verlässt Südafrika mit einem lachenden und seine große Liebe Felicia mit einem weinenden Auge. Die Euphorie im deutschen Fußball ist groß und Leroy wird schnell ins deutsche Reich eingebürgert. Doch Deutschland ist längst auf dem Weg in die Katastrophe, denn der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges steht unmittelbar bevor…