Verhindert zu viel taktische Flexibilität einer Mannschaft die individuellen Qualitäten der einzelnen Spieler? Wie viel taktische Flexibilität ist einer Mannschaft zumutbar?
Die jüngsten Kritiken an internationalen Top-Trainern wie Manuel Baum (Ex-Trainer des FC Augsburg) und Julian Nagelsmann (Noch-Hoffenheim-Trainer, künftiger Leipzig-Coach) lassen aufhorchen.
Während der ÖFB-Kicker Martin Hinteregger ("Ich kann nichts Positives über ihn sagen und werde auch nichts Negatives sagen") kein gutes Haar mehr an seinem damaligen FCA-Coach Baum ließ und den Verein in Richtung Frankfurt verließ, ging Hintereggers Ex-Kollege im Abwehrzentrum, Jeffrey Gouweleeuw, noch härter mit seinem Trainer ins Gericht: "Wir haben so viel Glück bis jetzt, das ist der Wahnsinn. Wir können nicht erwarten, dass es jede Woche so ist. Wenn du in der ersten Halbzeit schon dreimal umstellen musst, zeigt das, dass etwas nicht klappt. Wir hatten keine Ahnung, was wir heute gemacht haben."
Kritik an Nagelsmann
Gouweleeuws Reaktion auf die mehrfachen taktischen Umstellungen Baums gleicht der jüngsten Kritik von Hoffenheims Top-Torjäger Andrej Kramaric an seinem Trainer Julian Nagelsmann und dessen häufigen System- und Positionswechseln nahezu bis ins kleinste Detail: „Wir wechseln zu oft das System während des Spiels. Wir sind nicht bereit dafür. Wir sind keine Roboter, sondern Menschen. Das sind viele Fehler von draußen."
"Ich liebe Julian, aber in manchen Momenten ändern wir die Systeme und brauchen drei Minuten, weil es nicht jeder Spieler versteht oder er es wegen der 50.000 Zuschauer nicht hören kann. In diesem Moment verlieren wir unseren Vorteil. Das Spiel beginnt sich zu ändern“, bekräftigt Kramaric. „Es ist das erste Mal, dass ich das sage. Ich sage nicht, dass das der einzige Grund ist. Aber es passiert zu oft, dass wir nicht bis zum Ende des Spiels überleben. In so vielen Spielen weiß ich in dem Moment nicht, auf welcher Position ich überhaupt bin. Es ist schwer, darüber zu sprechen. Ich bin wirklich enttäuscht.“
Der Schlüssel zum Erfolg
Taktische Flexibiliät im Positionsspiel als Antwort auf das Spiel des Gegners ist im modernen Fußball der Schlüssel zum Erfolg. Dies beinhaltet nicht nur die taktische Analyse und Vorbereitung auf den nächsten Gegner, sondern auch schnelle taktische Lösungen und Umstellungen auf unerwartete Veränderungen im Spiel des Gegners.
In der Offensive heißt das, wie verändert sich das Angriffsspiel, wenn der Gegner die Verteidigungstaktik ändert? Welche Räume werden wie und von wem besetzt und bespielt, um Angriffe erfolgreich zu beenden?
Auch in der Defensive gibt es für alle Feldspieler ganz klare Aufgaben, wie man den Ball schnellstmöglich erobern möchte. Wer setzt welchen Gegner wo und wann und wie unter Druck? Wie wird verschoben, wenn der Gegner in bestimmten Räumen auftaucht?
All diese Fragen werden von taktisch versierten Trainern beantwortet und bedeuten bei mehrmaligen Systemumstellungen, die jedes Mal mit etwas anderen Aufgaben in Offensive und Defensive für den einzelnen Spieler verbunden sind, eine Menge an Informationen, die der Spieler nicht nur wissen und verstehen, sondern im richtigen Moment auch umsetzen muss. In einem Spiel der deutschen Bundesliga zwischen dem FC Schalke 04 (damaliger Trainer Domenico Tedesco) und der TSG 1899 Hoffenheim (Trainer Julian Nagelsmann) wurde von beiden Trainern im Verlauf des Spiels das System als Reaktion auf das Spiel des Gegners gleich mehrmals umgestellt.
In der Diashow werden die Systemwechsel dargestellt:
Und deshalb werfen die jüngsten Kritiken und Aussagen von renommierten Spielern Fragen auf, die es zu beantworten gilt:
Wie viel taktische Flexibilität ist den Spielern zumutbar? Ab wann werden taktische Umstellungen sogar eher kontraproduktiv, wenn sie die Spieler verwirren und für das Gegenteil von Klarheit sorgen? Wie viel Platz für Individualität bleibt den Spielern in einem taktischen Korsett? Verhindern zu viele taktische Vorgaben individuelle und besondere Situationslösungen?
Es gibt und gab in den letzten Jahren sowohl auf nationaler Ebene in den Meisterschaften, als auch auf internationaler Bühne bei Europameisterschaften und Weltmeisterschaften sehr viele Spiele, die von taktischem Verschieben und dem primären Ziel, kein Tor zu bekommen, geprägt waren. Für Taktikliebhaber vielleicht ein Hochgenuss, aber auch für den Fan in der Kurve oder vor dem Fernseher?
Messis Teilnahmslosigkeit
Spieler, wie Lionel Messi, Cristiano Ronaldo, Mohamed Salah oder auch ein Marko Arrnautovic sind bekannt für ihre außergewöhnlichen Situationslösungen in Form von Dribblings, Pässen und Torabschlüssen. Immer, wenn sie an den Ball kommen, hat der Zuschauer das Gefühl, jetzt kann etwas Außergewöhnliches geschehen. Und sind es nicht genau diese Spieler, die die Massen begeistern? Wie eng darf das taktische Korsett sein, in das man vor allem diese besonderen Spieler steckt?
Messi wirkt in so manchem Spiel des FC Barcelona minutenlang vollkommen teilnahmslos, um dann mit einer Aktion aufzuwarten, die das Spiel zu Gunsten Barcelonas entscheidet. Seine Effektivität rechtfertigt so manche künstlerische Pause. Und wahrscheinlich gibt ihm oft gerade die vermeintliche Passivität den notwendigen Raum für seine Kreativität und Explosivität.
Am Ende des Tages muss wohl jeder Trainer für sich entscheiden, wieviel Freiräume für Individualität er welchem Spieler gibt und ob die Mannschaft am Ende davon profitiert oder nicht. Die besten Trainer sind demnach nicht nur „Menschenfänger“, sondern auch Meister darin, immer wieder die optimale Balance zwischen klaren taktischen Strukturen und individuellen Freiräumen zu finden.
Klopps Philosophie
Dem Trainer der Stunde, Jürgen Klopp vom FC Liverpool, gelingt dies zweifelsohne sehr gut. Beim jetzt schon legendären 4:0 Halbfinal-Rückspielsieg des FC Liverpool gegen den FC Barcelona war nicht nur das taktische Konzept der "Reds" der Schlüssel zum Erfolg. Am Ende war es eine geniale individuelle Entscheidung des jungen Trent-Alexander Arnold, der fernab jeder einstudierten Eckballvariante erkannte, dass die Spieler des FC Barcelona für einen Moment nicht auf der Höhe waren und den Eckball spontan und schnell auf den einschussbereiten Origi spielte. Der Rest ist Geschichte.
Fußball ist grundsätzlich ein einfach zu verstehendes Spiel, aber wie hat der legendäre Johan Cruyff gesagt: „Fußball spielen ist sehr simpel, aber simplen Fußball zu spielen, ist das Schwierigste überhaupt.”
Deshalb ist die taktische Flexibilität im heutigen Fußballspiel die notwendige Basis, um erfolgreich sein zu können, aber eines ist klar, der Fußball muss Platz und Raum für individuelle Kreativität bieten und ein Spektakel bleiben, sowohl für detailverliebte Taktikexperten als auch für den gemeinen Fan, der spannende Spiele mit Überraschungsmomenten und vielen Torszenen sehen will.
Und an dieser Stelle sei noch einmal Jürgen Klopp erwähnt, der auf die Frage von Gary Lineker, wie er seine Fußball-Philosophie beschreiben würde, antwortete: "Jeder Zuschauer, der nach dem Spiel das Stadion verlässt, muss unbedingt das nächste Spiel sehen wollen!" Auch das ist ihm bis jetzt in all seinen Trainerstationen Mainz, Dortmund und vor allem Liverpool gelungen!
Tilo Morbitzer ist seit 2014 im Besitz der UEFA-Pro-Lizenz, hat also die höchstmögliche Ausbildung als Fußball-Trainer erfolgreich abgeschlossen. Der Deutsche, der schon seit vielen Jahren in Österreich lebt, hat zudem Sportwissenschaften studiert und ist aktuell Chefoach der U18 des FC Flyeralarm Admira Wacker. Zuvor hat der 42-Jährige nicht nur als Scout des VfB Stuttgart gearbeitet, sondern unter anderem auch als Individual-Trainer der Nachwuchsakademie des SK Rapid und als Sportlicher Leiter des Wiener Fußball-Verbands. Der Fußball-Experte wird LAOLA1-User ab sofort an seinem Insider-Wissen rund um das runde Leder teilhaben lassen und spannende Einblicke in die Trainerarbeit bieten.