In der Serie "Das Tor zur Welt" nehmen wir internationale Fußball-Klubs und ihre Geschichten genau unter die Lupe. Wir beleuchten die Hintergründe, die in der schnellen, täglichen Berichterstattung gerne untergehen.
Von Nottingham Forest über den FC Vaduz und Torino bis Dinamo Zagreb haben wir schon einige Klubs portraitiert. Hier kannst du alle Nachlesen >>>
Zur WM 2022 nehmen wir auch Nationalmannschaften unter die Lupe. Den Anfang machen die 10er Argentiniens: Hier lesen>>>
Danach blickten wir auf den FC Malaga, dem nicht einmal George Clooney helfen konnte. Die Story findest du hier >>>
In den Wochen vor der Weltmeisterschaft in Katar wird aus sportlicher Perspektive traditionell über die großen Favoriten berichtet. Brasilien, Argentinien, Frankreich und England gelten als die aussichtsreichsten Titelkandidaten.
Auch die umfassenden Vorwürfe gegenüber Ausrichter Katar kommen in den Medien regelmäßig zur Sprache. Die fraglos berechtigte Kritik hinsichtlich Menschenrechten, Arbeitsbedingungen oder Nachhaltigkeit (wenn man das in diesem Zusammenhang überhaupt so nennen kann) sollte auch keinesfalls zu kurz kommen.
Was dabei oft untergeht, ist die Mannschaft, mit welcher die Gastgeber bei ihrer ersten WM-Teilnahme ins Rennen gehen. Diese und ihre Chancen beim anstehenden Turnier wollen wir hier näher betrachten.
Mehr Einwanderer als Staatsbürger
Fans außerhalb (Vorder-)Asiens, wo das Emirat Katar geografisch zu verorten ist, sind das Team und dessen Akteure völlig unbekannt. Dabei gibt es in der katarischen Nationalmannschaft - man lese und staune - sogar einen direkten Bezug zu Österreich. Doch dazu später mehr.
Zunächst wollen wir uns einmal dem Golfstaat und dessen bisherigen Erfolgen im Fußball (ja, diese gab es tatsächlich!) widmen.
Katar liegt an der Ostküste der arabischen Halbinsel und grenzt an den Persischen Golf. Regiert wird das monarchisch geführte Emirat von Scheich Tamim bin Hamad ath-Thani. Das Land zählt etwa 2,7 Millionen Einwohner und umfasst eine Fläche von rund 11.600 Quadratkilometern, was etwa der Größe Oberösterreichs entspricht.
Von jenen 2,7 Millionen Menschen besitzen jedoch nur etwa zehn Prozent die Staatsbürgerschaft. Alle weiteren sind größtenteils Einwanderer, die beruflich im Land tätig sind. Sieht man sich den Kader Katars an, spiegelt sich dies auch deutlich wider: Der Großteil der Kicker stammt aus Familien von Arbeitsmigranten oder Geflüchteten.
Im Kader tummeln sich insgesamt 16 Spieler, die nicht in Katar geboren wurden oder eine zweite Staatsbürgerschaft haben, da die Eltern zugewandert sind. Nur drei davon sind wegen des Fußballspielens ins Land gekommen und später eingebürgert worden. Abwehrspieler Pedro Miguel stammt aus Portugal, Karim Boudiaf aus Frankreich und Mohammed Muntari aus Ghana.
Einen Spieler, der sein Geld bei einem europäischen Top-Klub verdient, sucht man vergebens. Auch ansonsten gibt es keine Europa-Legionäre. Der Kader besteht fast ausschließlich aus Akteuren, die in der heimischen Liga aktiv sind. Internationale Erfahrung ist absolute Mangelware. Dass dies aber nichts heißen muss, bewies Katar vor drei Jahren.
Der bisher größte Erfolg in der Historie der "al-Anabbi" ("Die Weinroten") ist der Gewinn des Asien-Cups 2019. Zur Überraschung aller Beobachter kämpfte sich die Mannschaft mit einem Defensiv-Konzept, welches dem Griechenlands bei der EM 2004 ähnelte, bis ins Finale. Dort besiegte man den haushohen Favoriten Japan mit 3:1.
Ehemaliger "La Masia"-Coach an der Seitenlinie
Trainiert wird die Emirats-Auswahl ebenfalls von einem Legionär. Seit 2017 schwingt der 46-jährige Spanier Felix Sanchez das Trainerzepter. Seinen Feinschliff holte er sich bei niemand geringerem als dem FC Barcelona, wo er insgesamt zehn Jahre in der Nachwuchsschmiede “La Masia” junge Talente ausbildete.
Danach zog es ihn in den Golfstaat, wo er zunächst in der nahe der Hauptstadt Doha beheimateten "Aspire Academy" tätig war. Diese ist eines der größten Trainingszentren der Welt und wurde im Jahr 2004 um rund eine Milliarde Dollar errichtet.
Später übernahm Sanchez die U19-, U20- und U23-Auswahl Katars, eher er im Juli 2017 zum A-Teamchef berufen wurde. Dabei nutzte er seine Erfahrung und baute zahlreiche Talente, mit denen er bereits in den Jugend-Teams zusammengearbeitet hatte, nach und nach in die Mannschaft ein.
Die Wirkung zeigte sich rasch in mehreren Achtungserfolgen. So gelang es beinahe, das hochfavorisierte Tschechien zum Stolpern zu bringen. Bei einem Mini-Turnier im Herbst 2017 unterlag die Sanchez-Elf knapp mit 0:1. Drei Tage später trotze man EM-Teilnehmer Island ein 1:1 ab.
Im Zuge der WM-Qualifikation 2022 durfte Katar außer Konkurrenz in der Gruppe A teilnehmen und konnte auch dort aufzeigen. Gegen Aserbaidschan und Luxemburg blieb man unbesiegt, im Heimspiel gegen Irland erreichte man gar ein 1:1.
Im laufenden Jahr absolvierte Katar im Zuge der WM-Vorbereitung fünf Spiele. In dieser schottete sich das Team großteils völlig ab, die Vorbereitungsspiele fanden allesamt vor leeren Rängen statt. Das Highlight war ein 2:1-Sieg gegen Bulgarien.
Drei dieser Spiele fanden auch in Österreich: Am 26. August in Wiener Neustadt (1:1 gegen Jamaika), am 23. und 27. September in der Generali-Arena (0:2 gegen Kanada, 2:2 gegen Chile). Mittlerweile erarbeitete man sich in der FIFA-Weltrangliste den beachtlichen 50. Rang.
Den großen Wurf zu erwarten, greift trotz respektabler Ergebnisse im Vorlauf des Turniers aber zu weit. "Eine konstant gute Leistung sehe ich nicht", so der katarische Sportjournalist Mohamed Eltayeb von "Doha News" gegenüber der deutschen "Bild".
Katars größte Stärke sei die mannschaftliche Geschlossenheit. "Nichtsdestotrotz ist das Team bereit für die WM. Die Mannschaft ist eine Einheit. Vor allem dank Trainer Félix Sánchez, der die einzelnen Spieler im Laufe der letzten Jahre zu einem Team geformt hat", sagt er.
Defensive dominiert, Offensive als "Prunkstück"
Sanchez lässt sein Team meist, wenig überraschend, in einem defensiven 3-5-2 beziehungsweise 5-3-2-System auflaufen. Doch wer sind die Akteure, die selbiges ausfüllen?
Im Tor vertraute Sanchez zuletzt stets auf den 32-jährigen Routinier Saad Al-Sheeb, der bereits 80 Länderspiele in den Beinen hat. Er war auch beim Asien-Cup-Triumph vor drei Jahren die Nummer eins.
In der Abwehr sind, bis auf zwei, alle Positionen offen. Teamchef Sanchez probierte in den letzten Länderspielen einige Akteure aus. Gesetzt scheinen bisher nur Pedro Miguel und Boualem Khokhi in der Innenverteidigung. Hier liegt auch der klare Schwachpunkt des Teams: die mangelnde Körpergröße. Portugal-Import Miguel ist mit knapp über 1,80 Meter schon der "Riese" in der Innenverteidigung.
Im Mittelfeld zählen Karim Boudiaf und Abdulaziz Hatem zu den absoluten Leistungsträgern. Speziell die Zweikampfstärke von Boudiaf wird gegen die allesamt offensivstarken Gruppengegner entscheidend sein. Um den dritten Platz im Zentrum rittert unter anderen Assim Madibo, der in diesem Text später noch eine Rolle spielen wird. Fachkundige oberösterreichische Fußballfans werden wohl bereits neugierig sein.
Aus charakterlicher Sicht ist Kapitän Hasan Al-Haydos das Um und Auf im Team. Der bei Al-Sadd engagierte Offensivakteur kann im Angriff oder alternativ im Mittelfeld spielen und würde den zentral-offensiven Part übernehmen.
Er gilt als echter Anführer und hat mit seinen 31 Lenzen bereits sagenhafte 160 Länderspiele auf dem Buckel, was ihn auch zum Rekordnationalspieler macht. Der flinke und technisch beschlagene Routinier ist die größte Legende im katarischen Kick, sein Status unter den (wenigen) Fans ist vergleichbar mit jenem eines Andi Herzog in Österreich.
Die Offensive ist, vorsichtig gesprochen, so etwas wie das "Prunkstück" der Kataris. Dort tummeln sich mit dem bereits erwähnten Al-Haydos, Linksfuß Akram Afif und Alomez Ali die drei potenziell besten Akteure im Kader.
Afif ist der mit Abstand wertvollste Spieler im Aufgebot Katars. Der bei Al-Sadd engagierte Stürmer hat einen Marktwert von beachtlichen 5,5 Millionen Euro.
Der 25-Jährige sammelte sogar schon Erfahrung in La Liga. Im Jahr 2016 verpflichtete niemand geringerer als der FC Villarreal das damals 19 Jahre junge Talent vom belgischen Zweitligisten KAS Eupen, wo er mit sieben Scorerpunkten in 16 Partien aufzeigen konnte. Eupen führt bereits seit einigen Jahren eine Kooperation mit der bereits erwähnten “Aspire Academy” und verpflichtet immer wieder katarische Talente aus dieser.
Afif wurde nach seinem Wechsel zu Villarreal umgehend an Sporting Gijon weiterverleihen, wo er immerhin neun Spiele in Spaniens Top-Liga absolvierte. Danach kehrte er für eine Saison nach Belgien zurück, ehe es ihn in die Heimat zu seinem heutigen Arbeitgeber Al-Sadd zog. In 83 Länderspielen gelangen ihm bisher 24 Treffer und 30 Vorlagen.
Vom heißen Emirat zu den heißen Hochöfen
Beim Namen Almoez Ali dürfte vielleicht mancher LASK-Fan aufmerksam geworden sein.
Der mittlerweile 26-Jährige wurde 2015 vom Bundesligisten verpflichtet. Er kickte eine Saison lang in der Stahlstadt und bestritt sogar zwei ÖFB-Cup-Spiele für die Oberösterreicher. Außerdem lief er siebenmal für die OÖ-Juniors auf. Dabei gelangen ihm beachtliche vier Scorerpunkte: ein Treffer und drei Vorlagen standen zu Buche.
Doch er ist nicht der einzige ehemalige Katar-Legionär bei den Oberösterreichern. An seiner Seite tummelte sich der bereits angesprochene Assim Madibo. Der defensive Mittelfeldspieler durfte ebenfalls einmal für die Juniors auflaufen.
Er wurde am 14.8.2015 beim 1:2 bei Austria Lustenau eingewechselt. Nach einer Saison in Linz ging es für ihn zurück in die Heimat.
Gruppe A wie aussichtslos?
Katar startet als Kopf der Gruppe A ins Turnier und darf auch das erste Spiel bestreiten. Dieses findet am 20. November um 17 Uhr MEZ statt. Dabei treffen die "al-Anabbi" auf Ecuador - im LIVE-Ticker >>>
Danach steigt die Anforderung an den Underdog mit jeder Partie. Fünf Tage später misst man sich mit dem Senegal, der allerdings auf Superstar Sadio Mane verzichten muss. Zum Abschluss der Gruppenphase trifft die Sanchez-Truppe auf WM-Mitfavorit Niederlande.
Unter dem Strich kann man Katar als den wohl krassesten aller Außenseiter bei der anstehenden WM bezeichnen. Der Gesamtmarktwert des Kaders beträgt rund 15 Millionen Euro - also in etwa so viel wie jener des WAC. Damit landet man abgeschlagen auf dem letzten Platz.
Die Statistik spricht allerdings für Katar: Erst einmal in der WM-Geschichte schied der Gastgeber bereits in der Vorrunde aus, 2010 ereilte Südafrika dieses Premieren-Schicksal.
Nichtsdestotrotz wäre es eine riesige Sensation, sollte der Emirats-Auswahl der Sprung ins Achtelfinale gelingen. Im Kader befindet sich mit Akram Afif nur ein Spieler, der zumindest im Entferntesten an internationalem Niveau kratzt. Der übrige Kader besteht aus Akteuren, die in Österreich bestenfalls Zweitliga-Niveau erreichen.
Der große Trumpf könnte die Taktikschläue von Trainerfuchs Sanchez werden, der schon 2019 die Gegner beim Asien-Cup zur Verzweiflung brachte. Zudem gilt seine Mannschaft als eingeschworener Haufen, der sich speziell gegen haushohe Favoriten besonders aufbäumt und ungeahnte Kräfte mobilisieren kann.
Ob dies reicht, um wenigstens nicht punktelos zu bleiben, wird sich zeigen. Realistisch betrachtet ist für den Gastgeber nach der Vorrunde Schluss. Aus sportlicher Sicht ist es den durchaus bemühten Kickern zu wünschen, dass ihnen gegen Mannschaften mit Offensivstars wie Depay und Gakpo zumindest ein Debakel erspart bleibt.
Auf dem Papier ein aussichtsloses Unterfangen, doch schon oft genug wurden wir Fußballfans eines Besseren belehrt.