Am Mittwoch geht es in Glasgow global gesehen um nicht viel. Zwei Fußball-Nationalteams treffen im Hampden Park aufeinander, um in der WM-Qualifikation die letzte Runde zu erreichen. Von diesem Spiel hängen keine Menschenleben oder gravierenden Entscheidungen ab, die Konsequenzen sind insgesamt überschaubar - es ist nur Fußball.
Doch für rund 41 Millionen Ukrainer stellt das Gastspiel in Schottland so viel mehr als das dar. Zugegeben, reale Probleme, mit denen die Ukraine und ihre Bevölkerung konfrontiert sind, können die Kicker nicht lösen. Doch sie geben Hoffnung, und den Ukrainern auf der ganzen Welt zumindest 90 Minuten lang so etwas wie ein Gefühl der Zusammengehörigkeit.
Dementsprechend fokussiert geht die ukrainische Nationalmannschaft in die Entscheidungsspiele um eine erfolgreiche WM-Qualifikation, die angesichts des Kriegszustandes im osteuropäischen Land fast einem Fußball-Wunder gleichen würde.
"Ich spüre eine große Verantwortung, für unsere Fans zuhause, unsere Truppen, für die normalen Leute, die gerade in der Ukraine zuhause sind", sagte Oleksandr Petrakov, Teamchef der Ukraine, gegenüber der Deutschen Welle kürzlich.
Krieg legte Klubfußball lahm
Mit Beginn des russischen Angriffs hat sich auch der Fußball in der Ukraine schlagartig verändert. Der Spielbetrieb wurde nicht mehr aus der Winterpause geholt, Spieler von ukrainischen Klubs durften diese noch bis April leihweise verlassen, um ihrem Beruf andernorts nachzugehen.
Wie es in der kommenden Saison weitergehen soll, steht aktuell noch in den Sternen. Fest steht jedoch, dass die UEFA ukrainischen Klubs auch in der nächsten Spielzeit Zugang zu den Kontinentalbewerben gewähren will.
Zu diesem Zweck bestimmte der ukrainische Fußballverband anhand der Tabelle zum Zeitpunkt des Liga-Abbruchs die Teilnehmer am Europacup.
Champions-League-Gruppenphase für Tabellenführer
Shakhtar Donetsk bekommt als Tabellenführer den wertvollsten ukrainischen Champions-League-Platz zugesprochen.
Dadurch, dass Champions-League-Sieger Real Madrid das Königsklassen-Ticket für die kommende Saison bereits über die Liga buchen konnte, steigen die Ukrainer erst in der Gruppenphase ein.
Dynamo Kiew hingegen muss sich durch die Qualifikation kämpfen und könnte in der dritten Runde auf den österreichisischen Vertreter Sturm Graz treffen.
Dnipro-1 wird vom ukrainischen Verband in die Playoff-Runde der Europa League geschickt, spielt also selbst bei einem Ausscheiden in einer europäischen Gruppenphase.
Selbiges können Zorya Luhansk bzw. Vorskla Poltava nicht von sich behaupten. Die beiden Teams müssen sich ab der dritten bzw. zweiten Qualifikationsrunde in die Europa Conference League kämpfen.
Unsichere Zukunft trotz Geldregens
Für die antretenden Klubs stellt die Teilnahme am Europacup einen willkommenen Geldgewinn dar, doch die mittelfristige Zukunft des ukrainischen Klubfußballs ist unsicher. Als Folge der Annexion der Krim und den Separatistenbewegungen im Osten der Ukraine mussten ab 2014 schon Klubs aus dem Donbass wie Shakhtar in anderen Teilen des Landes ihre Spiele absolvieren.
Ein Spielbetrieb lässt sich in einem Land im Kriegszustand wohl schwer realisieren, auch ihre Heimspiele im internationalen Wettbewerb werden die Klubs aus der Ukraine wohl im Exil bestreiten müssen. Nicht einmal die UEFA würde Mannschaften in ein Kriegsgebiet schicken.
Nächster Halt: Hampden Park
Während der Klubfußball also mit vielen Fragezeichen zu kämpfen hat, ist die Situation um das Nationalteam klarer.
Am Mittwoch geht es für die Blau-Gelben nach Glasgow, wo in der WM-Qualifikation das Playoff-Halbfinale ausgetragen wird, das ursprünglich parallel zum Österreich-Gastspiel in Wales am 24. März hätte stattfinden sollen.
"Im Hampden Park wird eine unglaubliche Atmosphäre herrschen", prohezeit Teamchef Petrakov. "Nach Geschossen, Raketen und Bomben fürchten wir uns aber vor gar nichts mehr."
Der Sieger des Duells zwischen Schottland und der Ukraine wird am 5. Juni in Cardiff vorstellig, um gegen Wales den letzten europäischen WM-Teilnehmer zu ermitteln.
Problem für den Verband: Durch den Krieg und den eingestellten Ligabetrieb fehlt einem Großteil der Nationalmannschaft die Spielpraxis.
Benefizspiele und Trainingslager
Petrakov und sein Aufgebot hält daher schon seit Wochen ein Trainigscamp in Slowenien ab. Gelegentlich reist die Mannschaft zu Benefizspielen wie nach Deutschland, wo die Ukraine mit 2:1 gegen Borussia Möchengladbach gewonnen hat.
Auch in Empoli und Rijeka wurden im Rahmen der "Global Tour for Peace" als Nationalmannschaft Partien abgehalten. Zuvor reisten Dynamo Kiew und Shakhtar Donetsk separat durch Europa, um an Benefizspielen teilzunehmen.
Großartigen Ersatz für Spielpraxis unter Wettbewerbsbedingungen stellen diese Spiele aber nicht dar. Teamkicker, die zuvor in der Ukraine gespielt haben, absolvierten ihre letzten Pflichtspiele im Jahr 2021.
Eine lockere Vorbereitung auf die Entscheidungsspiele gegen Schottland und Wales fand in Slowenien jedoch nicht statt. Dafür wiegen die Ereignisse in der Heimat zu schwer.
Jeder einzelne Spieler ist ausnahmlos vom Krieg betroffen. Für Tormann Andriy Pyatov ist die Situation leider nicht neu.
Bereits 2014 musste der 37-Jährige, der seit 2007 bei Shakthar Donetsk spielt, samt seinem Klub den Osten des Landes verlassen. Wurden Pyatov und Co. allerdings zuvor im eigenen Land vertrieben, bleibt den Kickern nun kaum mehr ein Ausweg.
Zinchenko bei Abschlusspressekonferenz emotional
Wie sehr der Krieg auch den Spielern zehrt, die ihren Lebensmittelpunkt mittlerweile ins Ausland verlegt haben, kann man an Manchester Citys Oleksandr Zinchenko erkennen. Der 25-Jährige brach auf der Pressekonferenz vor dem Spiel gegen Schottland in Tränen aus, als er über die Situation in seinem Land sprach.
"Jeder Ukrainer will nur, dass dieser Krieg vorbei ist", so der Mittelfeldspieler. "Bezüglich Fußball: Das Team, wir haben unseren eigenen Traum. Wir wollen zur Weltmeisterschaft fahren, wollen diese unglaublichen Emotionen an die Ukrainer weitergeben, denn sie verdienen das in dieses Moment gerade sehr."
Auch Ex-Teamchef und Stürmer-Legende Andriy Shevchenko streicht die Bedeutung einer möglichen Qualifikation für die Weltmeisterschaft gegenüber der BBC hervor. "Zur WM zu fahren ist für die Ukraine gerade sehr wichtig. Wir müssen für diese Fans spielen, für die gesamte Ukraine. Für diejenigen in der Heimat, für diejenigen, die unser Land verteidigen, und für diejenigen, die das Land verlassen haben", sagt der ehemalige Milan-Stürmer, der sein Land bei der EURO 2020 betreute.
"Ich glaube daran, dass wir gewinnen können und dann Wales ebenfalls schlagen können, um uns für die Weltmeisterschaft zu qualifizieren. Die Spieler wissen, was zu tun ist."
Teamchef wollte in den Krieg ziehen
Ursprünglich plante Teamchef Petrakov daher, zu drastischen Maßnahmen zu greifen. Der 64-Jährige wollte sich nach Kriegsbeginn der Landesverteidigung anschließen, wurde aber abgewiesen.
"Es wäre falsch gewesen, wenn ich aus der Stadt geflüchtet wäre, in der ich geboren wurde", sagt Petrakov im Bezug auf die Hauptstadt Kiew gegenüber "Time".
"Aber sie sagten: 'Du bist zu alt und hast keine Kampferfahrung. Führe uns lieber zur Weltmeisterschaft'", berichtet der Teamchef.
Es ist einer der Sätze, die emblematisch für die Hoffnungen stehen, welche die Ukrainer in ihr Nationalteam setzen. Eine erfolgreiche Qualifikation für die Weltmeisterschaft in Katar käme einer Heldentat für ein Land gleich, das so dringend neue Helden benötigt.
Sollte sich die Ukraine für die Weltmeisterschaft qualifizieren, würden die Osteuropäer in Gruppe B auf England, den Iran und die USA treffen.