Was früher undenkbar war, ist nun Realität: Die größte Volkswirtschaft und der größte Automarkt Europas, Deutschland, ist in der Formel 1 zum Nebendarsteller abgestiegen.
Wer oder was schuld daran sei, wird heiß diskutiert und ist genauso umstritten. Ist das mangelnde Interesse der (frei empfangbaren) TV-Anstalten der Grund, fehlen siegfähige Fahrer, fehlt ein Rennen wegen Mutlosigkeit von Veranstaltern, ist es die besonders in Deutschland ausgeprägte Anti-Auto-Stimmung?
Fakt ist: Von Tradition kann man nicht (mehr) leben.
Formel 1 als TV-"Sport"
Seit mit Liberty Media Amerikaner die kommerziellen Geschicke lenken, hat sich gegenüber den Jahrzehnten unter "Diktator" Bernie Ecclestone viel geändert. Interaktion über Social Media mit den Fans wird in den Mittelpunkt gerückt, überhaupt sind virtuell und Showcharakter in, die Promotion erreichte über die Netflix-Saga "Drive to Survive" einen Höhepunkt. Immer unter dem Aspekt: Junges Publikum anzuziehen und gleichzeitig die Cash-Maschine zu bedienen. Und das amerikanisch-puritanisch, die Grid Girls waren auch nicht mehr zeitgemäß.
Die Verlagerung von F1 live in immer mehr Bezahlkanäle führte zu desaströsen Einschaltquoten z.B. in Italien, Großbritannien und Deutschland. Aber die Millionen rollten zum Rechteinhaber. Die Sponsoren halten sich (noch) vornehm ob der ausgeblendeten größeren Sehergemeinde zurück. Nein, sie kommen trotzdem scharenweise – vor allem aus der arabischen Welt und von den Glücksrittern der Kryptoszene. In Deutschland ist der Bezahlsender Sky als alleiniger Anbieter übriggeblieben. Laut Vertrag mit Liberty Media, dem Mutterkonzern der F1-Holding, müssen vier Rennen im frei empfangbaren TV pro Jahr gezeigt werden. Doch der Sublizenznehmer RTL hat nach schwachen Quoten 2021 und 2022 genug und verzichtet heuer. Die Öffentlich-Rechtlichen (ARD/ZDF) haben schon gar kein Interesse am Motorsport. Sky wird wohl selbst vier Rennen freischalten müssen. ServusTV, Rechteinhaber in Österreich, muss das F1-Signal in Deutschland "geoblocken".
Kommentar: Klimbim, Glitzer und immer mehr... vergesst den Sport nicht!
Grand Prix von Deutschland
Der fand von 1926 bis 2019 78 Mal statt. In der Hochblüte gab es zum deutschen GP noch einen von Europa, Luxemburg oder sogar der Eifel auf dem Nürburgring (letztmals im Pandemiejahr 2020). Selbst Zuschüsse von Mercedes glichen Defizite für die Veranstalter nicht aus. Es traut sich kein Promotor und keine der beiden Rennstrecken (Nürburgring, Hockenheim) mehr über das Risikogeschäft Formel 1, das sogar in der Zeit von Sebastian Vettel nicht mehr funktionierte. Nur mit Michael Schumacher (in den Benetton- und Ferrari-Jahren) gab es einen Boom und fette Geschäfte.
In Deutschland wie in anderen EU-Ländern gibt es weder einen privaten, begeisterten Gönner (wie Dietrich Mateschitz in Österreich es war) noch Wirtschaftskonglomerate (Miami, Las Vegas) noch Unterstützung der öffentlichen Hand wie in Asien oder Arabien. Aus Zuschauer-Einnahmen kann kein GP finanziert werden. Mateschitz gestand mir nach der Rückkehr des Österreich-GP 2014 (ohne die Summe zu nennen, die er als "Fee" an die Formel 1 entrichten musste): "Wenn wir Sonntag über 80.000 zahlende Besucher haben, decke ich damit die Organisationskosten. Für das Promotor’s Fee (die Antrittsgebühr der F1, Anm.) muss ich selbst aufkommen." Kolportiert wurden ab 2014 15 bis 25 Millionen Euro pro Jahr und ansteigend.
Fahrer-Helden
Schumacher wirkt(e) - doch der Junior, Mick, konnte die Formel 1 in Deutschland nicht retten. Wäre es anders gelaufen, hätte Mick in einem stärkeren Team als Haas regelmäßige Spitzenplätze eingefahren? Eine hypothetische Frage. Selbst als Mercedes nach der Brawn-Übernahme mit Michael Schumacher und Nico Rosberg ein deutsches Dreamteam bildete, war die massenhafte Fan-Begeisterung im Sinkflug.
Autobauer
Die Erfolgsserie von Mercedes mit acht Konstrukteurs- und sieben Fahrertiteln zwischen 2014 und 2020 samt dem Beweis überlegener Technologie konnte die Fanbasis in Deutschland nicht stärken. Mit Rosberg wurde 2016 ein Deutscher in einem deutschen Team Champion – zu wenig für einen neuen Boom. Der VW-Konzern hielt, so lange Ecclestone am Ruder war, einen großen Abstand zur Formel 1. Der Versuch mit Red Bull und Porsche scheiterte an Machtgewohnheiten und -verhältnissen. Audi kommt 2026, wird aber zumindest zu Beginn keine schnellen Triumphe feiern. BMW hat sich nach einigen Erfolgen, aber keiner Spitzenrolle, sehr plötzlich verabschiedet, weil die Formel 1 dem neuen Vorstandschef nicht passte.
Insider rätseln
Für Ecclestone – der mit seiner Preispolitik zwar sich selbst und den F1-Teams Vermögen bescherte, aber Veranstalter in den Ruin trieb – ist die Situation in Deutschland ein Rätsel: "Wir hatten große Rennen und große Fanmengen. Jetzt sind alle verschwunden. Für die Formel 1 existiert Deutschland nicht mehr." Der langjährige (1990 bis 2012) Mercedes-Sportchef Norbert Haug, Vorgänger von Toto Wolff, urteilt in der "Pforzheimer Zeitung": "Deutschland wurde von der im Zentrum stehenden Formel-1-Großmacht zum kaum beachteten Entwicklungsland ohne eigenes Rennen und ohne Fahrer mit Sieg-, geschweige denn Titelchancen… Das ist ein Trauerspiel." Sarkastisch ergänzte Haug: "Der Zug ist abgefahren, Deutschland sitzt im letzten Wagon, dort, wo die rote Laterne hängt."
Letzter Mohikaner
Waren 2010 noch fünf deutsche Fahrer im Formel-1-Feld (Schumacher, Rosberg, Vettel, Hülkenberg, Sutil), so ist heuer Rückkehrer Nico Hülkenberg der letzte Deutsche. Mit Mick Schumacher als Testfahrer bei Mercedes.
Nur mehr Elektro?
Immerhin wurde die Formel E Stammgast in Deutschland und fährt seit 2015 in Berlin, heuer am 22. und 23. April zum neunten Mal. Mit mehr deutschen Teams und Fahrern als die Formel 1. Und dennoch: Begeisterte Massen gibt es noch nicht.