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Porpoising: Die FIA kann noch schiedsrichtern!

Sicherheit garantiert, die anderen nicht tangiert - alles richtig. Kommentar:

Porpoising: Die FIA kann noch schiedsrichtern! Foto: © getty

In der Formel 1 sollte die Spannung nach oben springen - das ist gelungen.

Dass die Autos es auch tun, war ein unerwünschter Nebeneffekt der Regularien 2022. War das Thema am Anfang bloß bizarr, wurde es in Baku zuviel.

Vor dem Grand Prix von Kanada (So., ab 20:00 Uhr im LIVE-Ticker>>>) lenkt die FIA gegen das "Porpoising", das unkontrollierte Auf- und Abspringen der Autos, ein. Erste Maßnahmen sollen in Zusammenarbeit mit den Teams dafür sorgen, dem Problem schnell beizukommen (HIER nachlesen>>>).

Nach Lewis Hamiltons körperlichen Problemen beim Grand Prix von Aserbaidschan schrillten die Alarmglocken, war die Debatte an einem kritischen Punkt angekommen. Langfristige Gesundheitsrisiken wurden befürchtet.

Die Lösung ist einfach

Unter den Teams bildeten sich zwei Lager, die eine Regeländerung, um das Problem in den Griff zu bekommen, forderten oder ablehnten.

Einmal mehr stehen die Faktoren Sicherheit und Performance gegeneinander.

Denn dem "Porpoising" wäre eigentlich leicht beizukommen: Mit einer Anhebung der Autos vom Boden, die zulasten des "Ground Effects" ginge. Dessen unkontrollierter Abriss ist ebenso wie eine generell zu tiefe Straßenlage Verursacher der Sprungbewegungen.

Aber die Performance beeinflussenden Regeländerungen sind nicht im Interesse jener, die das Problem im Griff haben.

Wieder einmal an entgegengesetzten Standpunkten des Streits: Mercedes und Red Bull Racing.

Die Verantwortlichen haben sich nun zum Einlenken von oben entschieden. Im Sinne der Sicherheit und Gesundheit ein richtiger Schritt. Und es wurde ein Ansatz gefunden, der sogar zu Nachteilen bei den Befürwortern einer Regeländerung führen könnte.

Das bleibt abzuwarten, aber nimmt auch den Ablehnern vorerst den Wind aus den Segeln.

Mercedes in Baku außer Kontrolle

Die Silberpfeile waren im bisherigen Saisonverlauf am meisten vom "Porpoising" betroffen. Nachdem zwischenzeitlich Besserung auftrat, schlug das Problem in Baku in bisher nicht dagewesener Intensität zu, wie auch veröffentlichte Daten der FIA zeigten.

Nachdem Hamilton auf Rang vier fuhr, konnte sich der siebenfache Weltmeister kaum aus seinem Auto befreien.

Mercedes-Teamchef Toto Wolff meldete schon langfristige Gesundheitsbedenken an: "Man kann sehen, dass das keine muskuläre Angelegenheit mehr ist. Das geht direkt in die Wirbelsäule und kann da sicher Folgen haben", so der Wiener bei "Sky".

Sainz: "Ignoriert die Teams, hört auf uns Fahrer!"

Aber nicht nur körperliche Probleme bereitet das "Porpoising". Es ist auch ein enormer Störfaktor beim Fahren. George Russell befürchtete, dass es nur eine Frage der Zeit bis zu einem schweren Unfall ist.

"Ich kann kaum sehen, wo ich am Ende der Geraden bremsen muss. Und ich glaube, die Hälfte des Grids hat das gleiche Problem. Die meisten von uns können das Auto kaum auf einer geraden Linie halten. Ich denke nicht, dass wir das drei Jahre - oder wie lang auch immer die neuen Regeln in Kraft sein sollen - durchhalten können."

Doch Mercedes ist nur das am stärksten betroffene Team. Fast alle Fahrer stehen auf einer Seite, wollen nicht mehr langfristig mit dem "Porpoising" klarkommen müssen.

Alpine-Franzose Esteban Ocon meldete das Gefühl an, dass ihm der Helm regelrecht vom Kopf geschüttelt wird. Es sei ein körperliches Problem, dem auch mit Training nicht beizukommen wäre.

Am deutlichsten äußerte sich Carlos Sainz. Er appellierte an die FIA, die Teams zu ignorieren und das Problem von oben zu regeln.

 

(Text wird unterhalb fortgesetzt)

"Sie sollten auf uns, die Fahrer hören. Wir sagen, dass es an einem Punkt angelangt ist, an dem wir alle damit kämpfen. Ist es für die moderne Formel 1 wirklich notwendig, am Ende des Rennens 20 Fahrer mit Rückenproblemen zu haben? Ist es das wert? Ist es notwendig, wenn es womöglich eine ganz einfache Lösung gibt? Ich denke nicht, und wir alle, Teams inkludiert, sollten an die Gesundheit der Fahrer denken."

Horner: "Es wäre unfair"

Dem stellte sich Red-Bull-Teamchef Christian Horner gegenüber. Die "Bullen" kämpfen vergleichsweise wenig mit dem "Porpoising" und holen nachgewiesenermaßen trotzdem viel Performance aus den neuen Autos.

"Es wäre unfair, diejenigen zu bestrafen, die einen guten Job gemacht haben", fasste der Brite seine Meinung kurz und knapp zusammen. Er befürchtete Regel-Ansätze, die die Karten völlig neu gemischt hätten.

Auch eine Spitze gegen den "Lieblingsgegner" verkniff sich Horner nicht. "Ich würde meine Fahrer auch anweisen, am Funk so viel wie möglich zu jammern und ein großes Thema daraus zu machen", so der Red-Bull-Boss über die Meldungen von Hamilton und Russell.

Pikant: Tatsächlich dürften alle Teams - Mercedes inklusive - noch vor der Saison gegen einen Antrag votiert haben, der dem schon bei den Testfahrten erkannten "Porpoising"-Problem früh den Garaus gemacht hätte. Der Sicherheitsaspekt wurde nicht erkannt, ein Reglement-Umwurf hätte aber viel Entwicklungsarbeit zunichte machen können.

Zwang zur Anhebung des Autos droht - wenn die Werte nicht passen

Doch nun haben die Sicherheits- und Gesundheitsbedenken Überhand genommen. An diesem Punkt kann die FIA auch ohne die sonst notwendige Einstimmigkeit unter den Teams Maßnahmen ergreifen.

Aber zumindest in der Theorie kann sich Red Bull Racing vorerst zurücklehnen. Eingegriffen wird nur auf Basis von Messwerten der wirkenden Kräfte und der Abnutzungen des Unterbodens bei jenen Teams, die das "Porpoising" nicht im Griff haben. Während alle anderen keine Änderungen vornehmen müssen.

Nach den freien Trainings am Freitag werden höchst zulässige Grenzwerte an Kräften definiert, die einzuhalten sind. Ansonsten droht die zwangsweise Anhebung des Autos um 10 Millimeter, was zulasten der Performance geht - oder im schlimmsten Fall die Disqualifikation.

Erarbeitet wird die Formel für die Grenzwerte in Zusammenarbeit mit den Teams, in Kanada wird sie auch noch keine Anwendung finden.

Regel dürfte eher Mercedes und Ferrari schaden

Im Prinzip hat die FIA nur eines gemacht: Jenen Teams, die Probleme haben, die einfachste Behebung aufgezwungen und die Lösung des Dilemmas "Sicherheit gegen Performance" zugunsten der Sicherheit abgenommen.

In der Theorie und auf Basis der bisherigen Saison dürften Mercedes wie auch Ferrari häufiger mit dieser neuen Vorgabe zu kämpfen haben, die Zehntel kosten wird. Ob sich das auch in die Praxis übersetzen wird, bleibt abzuwarten.

Aber bis zum Gegenbeweis dürfte auch Christian Horner mit dieser Herangehensweise zufrieden sein. Zuletzt forderte er von Mercedes eher salopp ein, einfach einen dickeren Unterboden zu montieren oder das Fahrzeug anzuheben - jetzt könnte das Reglement die "Sterne" genau dazu zwingen.

Mittelfristig sollen in technischen Meetings gemeinsam Lösungen gefunden werden, die Autos weniger anfällig für das Phänomen zu machen und das Thema damit endgültig zu begraben.

Endlich wieder Fingerspitzengefühl

Nach einer Welle an Entscheidungen, für die es in Richtung der FIA zurecht Kritik hagelte, beweist der Weltverband mit den jüngsten Schritten neu gewonnenes Fingerspitzengefühl.

Und zeigt, dass die Rolle als Schiedsrichter, der für schwierige Entscheidungen noch Lösungen im Sinne der Sicherheit und der Gerechtigkeit sucht, sehr wohl noch bekleidet werden kann.

Nun ist allen Beteiligten zu wünschen, dass in die Sache langsam Ruhe einkehrt. Allen voran natürlich den Fahrern, die sich weniger um ihre Gesundheit sorgen müssen und schon ohne solche körperliche Belastungen genug auf der Strecke zu leisten haben.

Am Circuit Gilles-Villeneuve steht aber noch eine - vielleicht letzte - Achterbahnfahrt an, die wehtut. Denn der kanadische Kurs war noch nie "brettl'eben".

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