Wie viel braucht es, um ein Formel-1-Rennen abzusagen?
Die Antwort liegt irgendwo zwischen "Coronavirus" und "Bombenexplosion".
Die Attacke auf eine Raffinerie in Jeddah hat der "Königsklasse" mit einem Schlag die Diskussion ins Gesicht gepfeffert, die sie recht unelegant umschiffen wollte.
Darf man, soll man, kann man einen Grand Prix in Saudi-Arabien abhalten?
Explosion war nur der letzte Warnschuss
Die Antwort lautet "Nein". An welchem Punkt diese Erkenntnis hätte einsetzen sollen, ist die Frage.
Schon bevor die Verhandlungen mit einem Land aufgenommen wurden, in dem zweifelhafte menschenrechtliche Standards gelten?
Zwei Wochen vor dem Rennen, nachdem 81 Hinrichtungen durchgeführt wurden?
Oder doch erst am Freitag, nach einer Explosion, deren Folgen auch an der Strecke unübersehbar waren?
Nach hinten wurde es in dieser Abfolge der Ereignisse immer schwieriger, die Reißleine zu ziehen. Und gleichzeitig, die Augen vor alledem zu verschließen.
Dagegenhalten! Aber aus den richtigen Gründen
Und irgendwo hat der Formel-1-Zirkus auch einen berechtigten Punkt in der sturen Haltung, den Grand Prix auf "Teufel bleib‘ fern" durchzuziehen.
Die Antwort auf Terror kann niemals sein, sich von ihm beirren zu lassen. Er legitimiert die Handlungen erst, wollen sie doch Angst, Verunsicherung und Aufmerksamkeit schüren.
Manchmal heißt es, einfach weiterzumachen. Auch wenn das Stärke von Menschen erfordert, deren Job-Profil solche Aufgaben sicher nicht umfasst. Das Einlenken hätte viel früher erfolgen müssen.
Die Beweggründe für den harten Kurs sind aber die falschen und sehr schlecht versteckt.
Nur ein Grund, überhaupt da zu sein
Saudi-Arabien ist in den letzten Jahren schnell zum großen Partner der Formel 1 herangewachsen, streckt seine Fühler im Motorsport auch immer weiter aus.
Nach der Rallye Dakar, der Formel E, der Extreme E und eben der Formel 1 wollen die Saudis demnächst auch ein MotoGP-Rennen und damit endgültig zum Nabel der motorisierten Welt im Nahen Osten werden.
Es ist auch ein Akt des Entgegenstemmens gegen die sinkende Relevanz der einzigen Sache, die Saudi-Arabien und Co. der westlichen Welt zu bieten haben: Öl.
(Text wird unterhalb fortgesetzt)
Aber noch steckt hier die "Marie". Und damit der einzige Beweggrund, der die Macher der Formel 1 antreibt. Geld, Geld, Geld.
Es müsste nicht so sein. Es war nicht immer so. Nicht in diesen Ausformungen. Es wird zu viel geduldet, bei zu vielen Dingen weggeschaut.
Das Wachstum der Sportart lässt sich so schnell nicht bremsen. Eine Philosophie, die in allen Bereichen des Lebens nicht mehr lange gut gehen wird. Und dabei wäre auch ohne Saudis und Co. mehr als genug Geld in den F1-Kassen, es ist schlicht kein haltbares Pro-Argument.
Die Wachstumsfolgen entgleisen vielfältig
So gut die Formel 1 die Zeichen der Zeit in Sachen Russland erkannt hat, so wenig Mut erforderten die Schritte. Schließlich wandte sich die ganze Welt zeitgleich gegen den Aggressor.
Aber sie zeigten: Es wäre viel möglich, wäre nur der Wille da.
Doch die Verantwortlichen, seien es die FIA oder Liberty Media, haben im Windschatten des neuen Erfolgslaufs der letzten Jahre jedes Maß und fast jeden moralischen Kompass verloren.
Das trägt verschiedene Facetten. Andere wären: Das künstliche Drama der "Netflix"-Serie "Drive to Survive", das den Fahrern mittlerweile schon zu bunt wird.
Der offene Denkprozess von CEO Stefano Domenicali, über bis zu 30 Rennen im Jahr zu sprechen, womit alle Mitarbeiter weit über ihre Belastungsgrenzen getrieben würden. Dort stehen sie jetzt schon.
Oder eben die zweifelhafte Expansionsstrategie. Katar, Saudi-Arabien, auch Aserbaidschan war nie ganz einwandfrei.
Da ist der Vorwurf, neue Fans über bestehende zu stellen und mittlerweile mit Las Vegas ein drittes Rennen in den USA neben Austin und Miami anzudenken, noch ein harmloser.
Fahrer: Das ist eure Chance!
Wie lang hält die Entwicklung an? Wann ist es genug? Wer kann etwas unternehmen?
Der gut gemeinte Rat, sich als Konsument abzuwenden, ist ein zu kleiner Schritt. Es ist ein Appell, der bei viel zu wenigen Menschen durchdringt und letztlich keine Auswirkungen hat.
Es braucht den Aufstand jener, ohne die nichts läuft. Allen voran die Fahrer.
Dass sich die GPDA nach der Attacke vier Stunden zur Krisensitzung zusammensetzte, ist ein Zeichen, dass es rumort. Nicht mehr alle Piloten alles mitmachen wollen.
Das Ergebnis war dieses Mal noch: Wir fahren. Aber viel fehlt nicht mehr, und es wird genug sein.
Wenn sich die Gladiatoren weigern, in die Arena zu ziehen, wird der Imageschaden der Formel 1 erst richtig groß. Und die Fahrer können mehr gewinnen als verlieren. Sie sind die Besten ihres Fachs und so nicht ersetzbar, zeigen sie Geschlossenheit.
Diesmal schien es fast so, als sei der externe Druck zu groß. Davon darf sich die GPDA nicht einschüchtern lassen.
Es muss woanders hingehen
Aber die Formel 1 muss sich jetzt selbst dringend den Zukunftsfragen der anderen Art stellen. Jenen, die sich nicht darum drehen, welche Motoren zum Einsatz kommen oder wie breit die Reifen sein sollen.
In Saudi-Arabien hat man sich ganz allein in eine Sackgasse manövriert. Die Vertragsverletzungen hätten schmerzhafte Konsequenzen. Die Verantwortlichen hätten ihr Produkt gar nicht erst in diese Sackgasse lenken sollen, jetzt ist es zu spät.
Bei sämtlichen weiteren Expansionsschritten und Strategieausrichtungen muss der Moral über dem Fressen endlich wieder größeres Gewicht eingeräumt werden.
Menschenrechte, Pazifismus und Inklusion sind keine Marketinginstrumente, die hinter einem Aufkleber am Helm enden. Sondern müssen Leitlinien des eigenen Handelns sein.
Das erfordert Konsequenzen, die Wachstum und Geldmacherei auch einmal ausbremsen können.
Sonst bleiben sie bloße Zierden auf Kopfbedeckungen. Am besten, indem sich die Formel 1 ihre Ansagen dieser Art an den Hut steckt.