Als AlphaTauri-Pilot Yuki Tsunoda beim Großen Preis der Niederlande kurz nach dem Verlassen der Boxengasse sein Auto abstellte, hatte man bei Red Bull Racing gut lachen.
Die ausgelöste Safety-Car-Phase verhalf Max Verstappen zu einem "gratis" Boxenstopp, der Weg zum Heimsieg war für den Niederländer geebnet.
Es dauerte nicht lange, da wurden die ersten Spekulationen laut, AlphaTauri hätte absichtlich ein Safety Car ausgelöst, um Schwestern-Team Red Bull und Verstappen zu helfen. Im Zentrum der Verschwörungstheorien: Hannah Schmitz. Die Chef-Strategin der "Bullen" wurde bei Tsunodas Ausfall lachend am Kommandostand gesichtet und musste sich dafür Hasskommentare im Netz gefallen lassen.
Ob ein ausgeklügelter Plan oder einfach nur Zufall hinter Tsunodas Ausfall steckte, wird die Öffentlichkeit wohl nie erfahren. Sicher ist jedoch: Hannah Schmitz ist eher für ihre strategischen Geniestreiche als für hinterlistige Aktionen bekannt.
Die Britin ist Chef-Strategin beim österreichischen Rennstall und hat mit ihren taktsichen Ansagen schon das eine oder andere Rennen entschieden.
"Wenn du eine Entscheidung innerhalb von Sekunden triffst, sitzt du auf Nadeln. Wenn du da sitzt und darauf wartest, ob sich der taktische Input bezahlt macht, dann kann sich das anfühlen, wie ein halbes Leben."
Der beste Fahrer im schnellsten Auto gewinnt. Das war einmal in der Formel 1. Die perfekte Strategie wird in der modernen Königsklasse immer entscheidender für Siege und folglich WM-Titel - Ferrari lässt grüßen! In der Hitze des Rennens müssen richtige Entscheidungen getroffen werden, oft im Bruchteil einer Sekunde.
Wenn sich 20 Sekunden anfühlen wie ein halbes Leben
Beim Grand Prix von Ungarn 2022 etwa entschied Schmitz in letzter Minute, dass Max Verstappen auf weichen statt auf harten Reifen starten soll – es war der Schlüssel zum Sieg des Niederländers, der von Platz zehn aus gestartet war.
Beim chaotischen Grand Prix in Monaco tüftelte Schmitz mit ihrem Team einen Boxenstopp-Plan aus, der Sergio Perez den Sieg und Verstappen einen Podestplatz bescherte. Red Bulls Motorsportberater Helmut Marko meinte nach dem Rennen: "Der Sieg ist vor allem Hannahs Verdienst."
"Ich habe eine Leidenschaft für das Verstehen und Interpretieren von Daten bei hohem Druck und schnellem Tempo", beschreibt sich Schmitz selbst.
"Für mich ist das unheimlich aufregend. Wenn du eine Entscheidung innerhalb von Sekunden triffst, sitzt du auf Nadeln. Du hast etwa 20 Sekunden, was nicht nach viel klingt. Aber wenn du da sitzt und darauf wartest, ob sich der taktische Input bezahlt macht, dann kann sich das anfühlen, wie ein halbes Leben", erklärt sie gegenüber "redbull.com".
Schmitz: "Mittlerweile habe ich mir diesen Respekt erarbeitet"
Die Britin arbeitet bereits seit über zwölf Jahren für Red Bull Racing. Nach ihrem Master in "Mechanical Engineering" an der Cambridge University absolvierte sie 2009 ihr erstes Praktikum beim Formel-1-Team. Über die Jahre erarbeitete sich Schmitz einen festen Platz im Strategie-Team der "Bullen".
2018 ging sie in den Mutterschutz und kehrte anschließend Vollzeit in den Job zurück. "Sie arbeitet neben ihrer Rolle als Mutter und sie fährt jeden Tag stundenlang ins Büro und dort gibt sie alles", sagt Teamchef Christian Horner über die zweifache Mutter.
"Als Strategin musst du unzähligen Leuten sagen, was sie zu tun haben - und sie müssen dir zuhören, also kommt es darauf an, Vertrauen aufzubauen, und ich denke, dass das als Frau sehr viel schwieriger ist. Mittlerweile habe ich mir diesen Respekt aber erarbeitet“, sagt Schmitz.
Wie bei der NASA: Wo die Strategien ihren Ursprung finden
Sie arbeitet mit dem Leiter der Rennstrategie, Will Courtenay, und einem erfahrenen Team von Analysten zusammen. Schmitz ist entweder an der Pit Wall oder im sogenannten "Operations Room" in der Red-Bull-Zentrale in Milton Keynes im Einsatz. Von dort aus werden Live-Kalkulationen und Simulationen an die Kollegen an der Boxenmauer geliefert.
Für Red Bull ist die Einsatz-Zentrale im NASA-Stil ein entscheidendes Werkzeug an einem Rennwochenende. "Wir hören jeden Funkspruch des Teams, wir sehen jedes On-Board-Videomaterial, wir können uns alle Zahlen im Detail ansehen und zentrale Informationen innerhalb von Sekunden an die Pit Wall weiterleiten. Es ist, als würde man im selben Raum zusammenarbeiten - ohne Verzögerungen“, erklärt Schmitz.
Millionen, teilweise sogar Milliarden Datenpunkte werden vor und während eines Grand-Prix-Wochenendes analysiert, interpretiert und aufbereitet, um daraus die perfekte Strategie abzuleiten.
Welche Reifen werden wann verwendet, wie oft und wann plant man Boxenstopps, wie reagiert man auf die Konkurrenz – all diese und noch mehr Fragen müssen mithilfe der Daten beantwortet werden. Es wird mit unzähligen verschiedenen Szenarien kalkuliert.
Nur, um im Rennen dann vielleicht doch alles über den Haufen werfen zu müssen. Oft kommt durch Unfälle, gelbe oder rote Flaggen, Strafen oder schlicht und einfach durch das Wetter alles anders, als geplant. Dann sind schnelle Entscheidungen gefordert, die über Sieg oder Niederlage entscheiden können.
Der Trick mit den Händen: Wie Schmitz die Ruhe bewahrt
In der Hektik und angetrieben vom Adrenalin die Ruhe zu bewahren ist eine Kunst für sich.
"Ich glaube, die Fähigkeit, in schwierigen Situationen ruhig zu bleiben, gehört zu den wichtigsten Attributen eines Strategen", sagt Schmitz.
Sie hat ihren ganz eigenen Trick, um dem Druck Stand zu halten. "Ein Tipp, den mir jemand einmal mitgegeben hat, besteht darin, deine Hände so zu drehen, dass deine Handinnenflächen nach unten zeigen. Das hilft dir dabei, klarer zu denken und die gezogenen Schlüsse nachdrücklicher zu kommunizieren."
Auch Max Verstappen beschrieb Schmitz im Laufe der Saison bereits als "unglaublich ruhig".
Schon 2019 verhalf sie dem nunmehrigen Weltmeister beim Großen Preis von Brasilien durch ihre Aufforderung zu einem dritten Boxenstopp zum Sieg und durfte danach mit Verstappen aufs Podium, um sich die Konstrukteurs-Trophäe abzuholen.
Spätestens seit diesem Rennen ist Schmitz im Formel-1-Zirkus bekannt. Als die Frau, die die Siege bei Red Bull Racing plant.