Der große Preis von Silverstone steht vor der Tür (alle Sessions LIVE im Ticker>>>), diesmal richten sich zur Abwechslung aber nicht alle britischen Augen auf Lewis Hamilton.
Zum ersten Mal seit 2011 kommt der siebenfache Weltmeister nämlich nicht als die britische Nummer 1 zum altehrwürdigen Grand Prix von Silverstone.
Damals lag Teamkollege Jenson Button in der WM-Wertung vor dem zu diesem Zeitpunkt "nur" einmaligen Weltmeister Hamilton, auch diesmal stiehlt ihm ein Mannschaftskamerad das Rampenlicht: George Russell.
Während Hamilton die mitunter härteste Zeit seiner Karriere durchlebt, holt Russell in dieser Saison beinahe unbeeindruckt von der Unterlegenheit des Mercedes regelmäßig das Beste heraus.
Ist Lewis Hamiltons Zeit an der Spitze der Formel 1 endgültig vorbei oder kann sich der erfolgreichste Fahrer der F1-Geschichte noch einmal zurückkämpfen?
Russell stiehlt Hamilton die Show
Dass George Russell ein talentierter Fahrer ist, ist nach seiner Williams-Zeit nicht die größte Überraschung. Dass Lewis Hamilton von ihm in der laufenden WM in praktisch jeder Hinsicht dominiert wird, durchaus schon.
Der 24-Jährige hat sowohl im Qualifying (5:4), im Rennen (7:2) als auch bei den absoluten Punkten (111:77) im Mercedes-Team die Nase vorn, von einer Eingewöhnungsphase ist absolut gar nichts zu bemerken.
Der Shootingstar erbt offensichtlich eine Qualität, die Hamilton in den letzten Jahren so oft an die Spitze geführt hat: die Konstanz. Russell beendete bisher jedes Rennen und war nie schlechter als Fünfter – eine Statistik, die außer ihm kein Fahrer im ganzen Feld vorweisen kann.
Es war in den Mercedes-Jahren von Valtteri Bottas schon fast zur Normalität geworden, dass Hamilton stets als unantastbar für den Teamkollegen (und den Rest des Feldes) galt. Mit Hinblick auf die jahrelange Dominanz des Briten bot sich beinahe eine Abwandlung eines berühmten Sagers aus der Fußballwelt von Gary Lineker an.
"Die Formel 1 ist ein einfacher Sport. 20 Männer fahren im Kreis und am Ende gewinnt immer Lewis Hamilton”, wäre eine recht prägnante Zusammenfassung der zweiten Hälfte der 2010er-Jahre in der Formel 1.
Nun schaut die ganze Geschichte aber deutlich anders aus, was sich auch in den Äußerungen Hamiltons während den Rennen erkennen lässt.
Die Unzufriedenheit des Lewis Hamilton
Zugegeben, Hamilton war auch in erfolgreicheren Tagen ab und zu eine Diva am Funk. Der Brite beschwerte sich in der Vergangenheit routinemäßig über die Strategie seines Teams.
Viele Fans haben wohl ab einem gewissen Punkt aufgehört zu zählen, wie oft es von seinem Renningenieur Peter "Bono" Bonnington die Worte "keep your head down, Lewis" (was so viel bedeutet wie "bleib ruhig, Lewis") zu hören gab.
In diesem Jahr zeigt sich Hamiltons Unzufriedenheit besonders deutlich. Beschwerden über den W13 gibt es in praktisch jeder einzelnen Session zu hören. Das Auto wird mindestens einmal pro Rennwochenende als "unfahrbar" bezeichnet, teils klingt der 37-Jährige dann regelrecht resigniert.
Das Saisonduell der Mercedes-Piloten im Überblick
Grand Prix | Quali Russell | Quali Hamilton | Rennen Russell | Rennen Hamilton |
---|---|---|---|---|
Bahrain | 9 | 5 | 4 | 3 |
Saudi-Arabien | 6 | 16 | 5 | 10 |
Australien | 6 | 5 | 3 | 4 |
Imola | 11 | 13 | 4 | 13 |
Miami | 12 | 6 | 5 | 6 |
Spanien | 4 | 6 | 3 | 5 |
Monaco | 6 | 8 | 5 | 8 |
Aserbaidschan | 5 | 7 | 3 | 4 |
Kanada | 8 | 4 | 4 | 3 |
Absoluter Höhepunkt in dieser Hinsicht war der Grand Prix von Spanien, bei dem Hamilton nach einem frühen Unfall mit Kevin Magnussen auf Platz 19 zurückgefallen war. Der Brite fragte seine Crew, ob es nicht klüger wäre, das Auto einfach stehen zu lassen, sein Ingenieur musste eifrige Überredungsarbeit leisten, um den Briten zum Weiterfahren zu bringen. Letztendlich schaute dort sogar ein fünfter Platz für Hamilton heraus, was in diesem Jahr durchaus als Erfolgserlebnis zu werten ist.
Ist Hamilton so schlecht oder Russell so gut?
Die brennende Frage im Mercedes-internen-Duell verleitet zu einem Blick auf das Jahr 2020.
Damals gab es nämlich den ersten Auftritt von George Russell in einem Mercedes, als Hamilton das Rennen in Bahrain coronabedingt auslassen musste. Im Duell mit Valtteri Bottas gab es einen hauchdünnen Qualifying-Sieg des Finnen, im Rennen war der Brite aber klar taktgebend.
Ein Sieg von Russell, der bis dato noch nicht einmal Punkte gesammelt hatte, schien bereits fix, bevor er wegen eines schleichenden Reifenschadens zur Box musste, die Chancen auf den Triumph waren dadurch begraben.
Trotzdem gab Russell damals bereits eine immense Talentprobe ab und zeigte auf, dass Valtteri Bottas wohl nicht der härteste Konkurrent war, den Hamilton bei Mercedes an seiner Seite hatte.
Es war also bestimmt nicht Hamiltons größte Leistung, dass er Bottas Jahr für Jahr in Schach halten konnte - komplett ohne Talent werden die sieben Weltmeistertitel aber auch nicht entstanden sein.
Der Vergleich mit Bottas ist auch insofern interessant, da der Finne in seiner ersten Saison nach der Mercedes-Ära ebenfalls zu den positiven Überraschungen 2022 gehört. Im Nachzügler-Team Alfa Romeo stellt er an jedem Rennwochenende seinen Rookie-Teamkollegen Zhou Guanyu in den Schatten und zeigt damit, dass auch er nicht umsonst all die Jahre für das Team von Toto Wolff zum Einsatz kam.
Kommt Hamilton jemals wieder zurück?
Es wäre voreilig, einen siebenfachen Weltmeister nach einem vergleichsweise kurzen Tief schon komplett abzuschreiben. Dass Lewis Hamilton weiß, wie man mit einem Formel-1-Auto umzugehen hat, ist unbestritten.
Doch auch an Hamilton nagt der Zahn der Zeit. Besonders in Zeiten des "Porpoising", von dem Mercedes schwerer als jedes andere Team betroffen ist, wird der körperliche Aspekt der Formel 1 noch einmal mehr in den Mittelpunkt gerückt.
Nach den Problemen in Aserbaidschan fürchtete der Brite sogar um die Teilnahme am Kanada-GP, den er letztendlich mit einem dritten Platz sogar mit einem Erfolgserlebnis beenden konnte.
Ein Podestplatz kann aber nicht das Ziel eines Lewis Hamilton sein. Der Brite will weiterhin um Weltmeisterschaften fahren, auch wenn der Zug für diese Saison wahrscheinlich schon abgefahren ist.
Beim Blick auf den anderen siebenfachen Weltmeister der F1-Geschichte zeigt sich, dass die Zeit an der absoluten Weltspitze aber limitiert ist. Der Herbst von Michael Schumachers Karriere weist dabei auffallende Parallelen zur Situation von Hamilton auf.
Auch Schumacher wollte mit Mercedes noch einmal voll angreifen und auf Titel Nummer acht in der Königsklasse losgehen. Doch auch in seinem Fall war einerseits das Auto nicht stark genug, andererseits stand mit dem jungen Nico Rosberg ebenfalls ein 24-jähriger Teamkollege aus demselben Land drei Mal in Folge in der WM vor dem Altmeister, bevor dieser seine Karriere endgültig beendete.
Auch diesmal scheint die Zeit reif für eine Wachablöse.