"Ich sehe keinen Grund, warum wir nicht die restlichen zehn Rennen alle gewinnen können."
Ferrari-Teamchef Mattia Binotto ließ nach dem Grand Prix von Frankreich mit dieser mutigen Aussage aufhorchen. Eine Woche später steht man nach dem Rennen in Ungarn statt auf dem obersten Podest wieder im Regen, wieder einmal hat sich die Scuderia ihr Rennen selbst zerstört. Ein Spiegelbild der bisherigen Saison.
Nach dem verheißungsvollen Beginn – Leclerc gewann zwei der ersten drei Rennen – manövrierte sich Ferrari, das mit über das schnellste Auto im Feld verfügt, durch fragwürdige Strategie-Entscheidungen, Fahrer-Fehler und technische Probleme in der WM in eine beinahe aussichtslose Situation.
Leclercs Rückstand auf WM-Leader Max Verstappen in der Fahrerwertung beträgt schon 80 Punkte, er kann die WM gar nicht mehr aus eigener Kraft gewinnen. In der Konstrukteurs-WM liegen die Italiener 97 Punkte hinter Red Bull und nur noch 30 Zähler vor Mercedes. WM-Stand >>>
Viel zu oft machten sich Leclerc, Sainz und die Ferrari-Crew ihren möglichen Erfolg selbst zunichte. In Sachen Strategie ist man Red Bull und Mercedes klar unterlegen, in entscheidenden Momenten fehlen klare Ansagen und es werden falsche Entscheidungen getroffen. Verpatzte Boxenstopps und Fahrer-Fehler tun das übrige.
Dem einen oder anderen Formel-1-Fan kommt das bekannt vor.
Ferrari in einer ähnlichen Situation wie vor fünf Jahren
Vor fünf Jahren, als die Formel 1 aufgrund geänderter Regeln vor einer neuen Ära stand, schraubten die Italiener ein mehr als konkurrenzfähiges Auto zusammen. Sebastian Vettel führte 2017 fast zwei Drittel der Saison die WM an, um am Ende doch noch von Lewis Hamilton eingeholt zu werden.
Die Geschichte wiederholte sich 2018, als Vettel und Ferrari durch eine Reihe von Team- und Fahrer-Fehlern sowie technischen Ausfällen einen beträchtlichen Vorsprung verspielten.
Nach Ende der Saison wurde der damalige Teamchef Maurizio Arrivabene durch Mattia Binotto ersetzt.
Letzterer sagte im Juni in einem BBC-Interview rückblickend: "Was uns 2017, 2018 und 2019 gefehlt hat, war, dass wir nicht in der Lage waren, das Auto zu entwickeln. Aber wir hatten auch ein Team, das mental nicht stark genug war. Wir waren gut in Bezug auf das Potenzial, aber grün hinter den Ohren. Wir hatten nicht die richtigen Erfahrungen, Werkzeuge und Fähigkeiten. Seitdem haben wir Schritt für Schritt, auch durch 2019 und 2020 hindurch, dahin gearbeitet, wo wir heute stehen."
Ferrari nimmt sich Mercedes zum Vorbild
Aber wo steht Ferrari heute? Obwohl man das schnellste Auto im Feld haben könnte, schafft es die Scuderia nicht, die nötige Zuverlässigkeit auf die Strecke zu bringen. Hinzu kommen fragwürdige Strategie-Entscheidungen und Fahrer-Fehler.
Man könnte meinen, die Scuderia tritt auch unter Binotto auf der Stelle und hat nichts aus den letzten Jahren gelernt.
Der Teamchef sieht das anders. Er ortet einen Wandel der internen Philosophie. Mittlerweile herrsche bei der Scuderia – nach dem Vorbild Mercedes – eine "Keine-Schuld-Kultur".
"Wir haben viel daran gearbeitet", erklärt Binotto. "Es geht darum, Fehler eher als Chance und Lektion zu betrachten, anstatt Schuldzuweisungen zu machen und mit dem Finger aufeinander zu zeigen."
Ob Binotto der gepredigten Philisophie auch in Silverstone treu geblieben ist, als ihn die TV-Kameras dabei einfingen, wie er mit erhobenem Zeigefinger auf den enttäuschten Leclerc einredete?
"Unser Ziel ist es, wettbewerbsfähig zu sein, nicht die Meisterschaft zu gewinnen"
Klar ist auch: So sehr man sich bei den Roten bemüht, als Einheit aufzutreten, mit den hausgemachten Fehlentscheidungen und Punkteverlusten wächst auch der Druck, vor allem von außen.
Intern könnte man den Eindruck bekommen, als wäre der WM-Titel für die Scuderia ohnehin noch zweitrangig.
"Wir haben uns zum Ziel gesetzt, 2022 wieder wettbewerbsfähig zu sein. Unser Ziel ist es also nicht, die Meisterschaft zu gewinnen. Und es wäre völlig falsch, das jetzt umzudrehen in: 'Lasst uns versuchen, die WM zu gewinnen, weil wir so konkurrenzfähig sind'", erklärte Binotto im Juni.
Konkurrenzfähig zu sein sei die eine Sache, Weltmeister zu werden die andere. Ferrari ist aktuell das beste Beispiel dafür.
Gut möglich, dass Binotto mit solchen Aussagen nur den Druck von seinem Team nehmen will. "Aber ich denke, es wäre als Management auch falsch, die Ziele zu ändern, die wir ihnen vorgegeben haben."
Andererseits könnte man argumentieren, dass Binotto als Teamchef die Ziele sehr wohl höher stecken und eine Steigerung einfordern darf. Schließlich befindet man sich aktuell in einer Phase, die richtungsweisend für die nächste Jahre sein wird.
"Natürlich beabsichtigen wir, Weltmeister zu werden, und das nicht nur einmal. Wir wollen ganz oben bleiben. Aber ich denke, es wird Zeit brauchen", sagt Binotto.
"Unsere innere Einstellung ist immer noch, dass wir uns als Team verbessern müssen, um eine Meisterschaft gewinnen zu können. Wir sind uns bewusst, dass es mehr ist, als nur wettbewerbsfähig zu sein."
Wie lange hat man bei Ferrari noch Geduld?
Bei Ferrari nimmt man offenbar ein weiteres "Lehrjahr" in Kauf, um langfristig das WM-Ziel zu erreichen. Das gesamte Team soll sich auf den Prozess der kontinuierlichen Verbesserung konzentrieren.
Doch wie lange kann es sich Ferrari leisten, Zeit in die Entwicklung des Teams zu stecken? Für viele geht die Entwicklung zu langsam. Die Konkurrenz, die in diesem Bereich ohnehin schon weiter ist, schläft ja bekanntlich auch nicht.
Und früher oder später könnte zumindest Leclerc die Geduld mit dem Team verlieren, sollte er nicht ernsthaft um die WM mitkämpfen können. Von den Tifosi und überkritischen italienischen Medien ganz zu schweigen.
Und Binotto wird letztlich auch an Erfolgen gemessen. Schon jetzt gibt es vereinzelt Stimmen, die seine Ablöse fordern. Ferrari ist bekannt dafür, keine Angst vor Veränderungen zu haben und diejenigen Personen auszutauschen, die nicht performen.
Aktuell trifft das auf fast alle im Team zu.